Erstmals seit Kriegsbeginn im Februar 2022 gibt es in der Ukraine Proteste gegen die Regierung und Präsident Wolodimir Selenski. Grund dafür ist ein Gesetz, das die Anti-Korruptionsbehörden unter die Kontrolle des Generalstaatsanwaltes stellt. Das heisst: Künftig werden die beiden Anti-Korruptionsbehörden von der Regierung kontrolliert. Die Hintergründe kennt Susan Stewart von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

SRF News: Welches Zeichen senden die Proteste auf den ukrainischen Strassen?

Susan Stewart: Die Proteste zeigen etwas qualitativ Neues. Seit dem Grossangriff Russlands auf die Ukraine haben sich die Menschen stets zurückgehalten, auch wenn ihnen etwas vielleicht nicht gepasst hat. Sie wissen: Im Krieg braucht das Land die Unterstützung aller Menschen, auch Regierung und Präsident brauchen diese Unterstützung. Doch in Umfragen wurde immer wieder deutlich, dass viele die Korruption im Land immer noch als grosses Problem ansehen. Deshalb sind viele über die neuste Entwicklung sehr beunruhigt.

Was bedeutet das für Präsident Wolodimir Selenski?

Er steht innenpolitisch insofern unter Druck, als dass er einen Teil der Unterstützung im Volk verlieren könnte. Bislang hatte er laut den Umfragen meist zwischen 65 und 70 Prozent Zuspruch. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sehen in ihm also jemanden, der sie im Krieg vertritt. Viele sind jetzt aber enttäuscht oder fühlen sich sogar betrogen – weil er die Werte, die die Ukraine bisher gegenüber dem Westen vertrat, jetzt zertrampelt, indem er das Antikorruptions-Gesetz unterzeichnet hat.

Selenski wird seit längerem kritisiert, er umgebe sich ausschliesslich mit Vertrauten. Ist der Vorwurf gerechtfertigt?

Er ist in der Tat zunehmend gerechtfertigt. In den ersten Kriegsjahren wurde das noch als normal angesehen: Wenn sich ein Land im Krieg zunehmend zentralisiert, muss das schnell passieren und am besten in einem engen Kreis.

Manche Mitglieder des inneren Regierungskreises agieren immer stärker in ihrem eigenen Interesse.

Doch dieser Kreis wird immer enger und manche Mitglieder agieren immer stärker in ihrem eigenen Interesse. Und sollte jemand aus diesem Kreis in Verdacht geraten, reagieren die Personen in dem Kreis vermutlich nicht im Interesse des Landes, sondern zunehmend gemäss eigenen Interessen. Das hat man etwa kürzlich gesehen, als ein Vizepremier in Korruptionsverdacht geraten war.

Welches aussenpolitische Signal sendet Selenski aus?

Bisher hat Selenski es stets geschafft, ausländische Akteure davon zu überzeugen, die Ukraine zu unterstützen – auch wenn sich dies etwa mit den USA in letzter Zeit eher schwierig gestaltete. Jetzt aber fragt man sich im europäischen Ausland, was da in der Ukraine vorgeht und ob es weiterhin wünschenswert ist, sie zu unterstützen.

In der Frage der Rechtsstaatlichkeit sind jetzt grosse Fragezeichen aufgetaucht.

Bislang hatte Kiew stets behauptet, die Werte zu vertreten, für die Europa und die EU stehen. Dabei geht es nicht nur um die Unterstützung im Abwehrkrieg gegen den russischen Angriff, sondern auch um einen möglichen zukünftigen EU-Beitritt. Und da ist es ein grosses Problem, dass mit dem Antikorruptions-Gesetz in der Frage der Rechtsstaatlichkeit grosse Fragezeichen aufgetaucht sind.

Das Gespräch führte Radka Laubacher.

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