Paks präsentiert die liebevolle Variante der Atomkraft. Am Eingang der ungarischen Kleinstadt empfängt Autofahrer ein Ortsschild mit einem stilisierten Atom, das aus Herzen zusammengesetzt ist. Hier produzierte das Atomkraftwerk Paks I zuletzt knapp die Hälfte des in Ungarn erzeugten Stroms, und die Kernkraft dominiert die Wirtschaft der Stadt.

Im Ort selbst weisen Schilder nicht nur den Weg zum gerade erst eröffneten Museum der Atomkraft, sondern auch zur Zukunft der Technologie in Ungarn: zur Baustelle von Paks II. Unweit der bestehenden Anlage am Ortsrand entstehen zwei weitere Reaktoren, gebaut mit russischer Technologie und einem russischen Staatskredit.

Deutschland mag den Ausstieg aus der Kernkraft vollzogen haben, steht mit dieser Entscheidung in Europa aber weitgehend allein da: Länder wie Ungarn, die bisher schon auf Atomkraft setzen, bauen neue Reaktoren, andere Länder stiegen zum ersten Mal in die Atomkraft ein oder denken darüber nach, und anderswo drehen Regierungen den Atomausstieg wieder zurück. Die Kernkraft erlebt derzeit weltweit eine Renaissance, besonders sichtbar ist die Entwicklung aber in Europa, wo sie in vielen Ländern lange als eine gefährliche und teure Technologie auf dem Abstellgleis galt. 

Drei Aspekte befeuern die Entwicklung. Zum einen der Klimaschutz: Die EU-Länder haben sich dazu verpflichtet, bis 2050 klimaneutral zu wirtschaften. Dafür setzen sie auf erneuerbare Energien. Aber um Versorgungssicherheit zu garantieren, suchen sie auch nach Energiequellen, die weniger klimaschädlich sind als etwa Kohle und gleichzeitig leistungsfähiger und beständiger als Erneuerbare. Stromnetze und Industriebetriebe sind darauf angewiesen, dass Strombedarf und -versorgung zu jeder Jahreszeit ausbalanciert sind; auch wenn die Sonne nicht scheint, der Wind nicht weht oder sogar beides eintritt.

„Europa hat gemerkt, dass es sich bei der Energiewende selbst belogen hat“, sagt etwa Mark Nelson, ein sehr lautstarker amerikanischer Atom-Analyst. „Man kann eine industrielle Volkswirtschaft nicht vom Wetter abhängig machen.“ Kurzfristig sei es nicht möglich, komplett auf Erneuerbare zu setzen. „In der zweiten großen Welle der Energiewende müssen europäische Länder eines von zwei Übeln wählen“, sagt etwa Marion Schulte, Partnerin bei der Beratungsfirma Bearing Point. „Entweder man baut konventionelle Übergangstechnologien wie Deutschland neue Gaskraftwerke oder man setzt weiter, erneut oder zum ersten Mal auf Kernkraft.“

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat illustriert, wie stark der Kontinent am Gas-Tropf Russlands hing. Die unterbrochene Versorgung, Sanktionen, die verzweifelte Suche nach alternativen Lieferanten weltweit, der sprunghafte Anstieg der Preise für Gas, Erdöl und Strom und die seitdem jährlich wiederkehrende regelmäßige Berichterstattung über die Füllstände der Gasspeicher haben ebenfalls zu einem Umdenken geführt.

Atomenergie ist in diesem Klima in einigen europäischen Ländern nicht mehr so tabubehaftet wie zuvor, und diese Chancen nutzen vor allem konservative und liberale Parteien. „Für die Rückkehr zur Atomkraft braucht es politischen Rückhalt und einen gesellschaftlichen Konsens“, sagt Beraterin Schulte. „Die Länder, die am stärksten in die Kernkraft investieren, haben Regierungen, die sehr unabhängig agieren können.“ In Japan etwa sei die Kernkraft praktisch alternativlos, um kurzfristig klimaneutral zu werden, aber nach Fukushima seien die gesellschaftlichen Widerstände zu groß und energiepolitische Entscheidungen nicht gewünscht.

Auch die neue Bundesregierung redet wieder über Atomkraft – aber vor allem darüber, an Zukunftstechnologien wie kleinen modularen Reaktoren und den in weiter Zukunft liegenden Fusionsreaktoren mitzuforschen. Wie kontrovers das Thema hierzulande noch diskutiert wird, zeigte sich jüngst, als Wirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) sowohl vom Koalitionspartner SPD als auch den Grünen und Umweltschützern kritisiert wurde, nachdem sie an einem Treffen atomkraftfreundlicher EU-Staaten teilgenommen hatte. Wo Europas Staaten stehen, zeigt dieser Überblick: 

Aus- und Neubauer 

Eine große Gruppe von EU-Ländern setzt seit Längerem auf Kernkraft und plant, sie weiter auszubauen, um die ambitionierten Klimaziele zu erfüllen. Allen voran Frankreich: Europas größte Atomnation braucht für die Elektrifizierung von Heizung, Industrie und Verkehr mehr Strom und plant derzeit sechs neue Reaktoren an bestehenden Standorten und prüft die Errichtung von acht weiteren.

Tschechien, Rumänien und Bulgarien wollen mit jeweils zwei neuen Reaktoren ihre Kapazitäten erweitern. Polen steigt gerade erst in die Atomkraft ein. Dort wird seit einigen Jahren das erste AKW mit US-Technik gebaut. Nach jahrelangen Verzögerungen soll der erste Reaktor 2033 in Betrieb gehen.

Vor allem in Polen, aber auch in Bulgarien und Tschechien wird ein erheblicher Anteil des Stroms aus Kohle erzeugt. Das ist klimaschädlich und dreckig, sodass die politische Unterstützung für den Ersatz durch Atomenergie hoch ist. Auch die Aussicht auf steigende Preise für den Ausstoß von CO₂ zwingt die Regierungen, schnell Alternativen zu finden.

Finnland und die Slowakei, wo der Atom-Anteil am Strom schon heute groß ist, haben 2023 neue Reaktoren in Betrieb genommen und wollen weitere bauen. In den Niederlanden, die ihre ambitionierten Klimaziele und die Elektrifizierung vor allem mit Kernkraft vorantreiben wollen, planen bis 2040 vier neue große Reaktoren. Auch Großbritannien will seinen bestehenden Kraftwerkspark bis 2050 stark ausbauen. 

Wiedereinsteiger  

Schweden hat 2023 eine der dramatischsten atompolitischen Kehrtwenden in Europa hingelegt und sich von einem Land mit Ausstiegsplänen, in dem allein in den vergangenen zehn Jahren vier Reaktoren stillgelegt wurden, zu einem Vorreiter der nuklearen Expansion entwickelt. In den kommenden zwanzig Jahren sollen dort bis zu zwölf neue Reaktoren gebaut werden.

Die belgische Kehrtwende ist jünger, dort wurde erst Mitte Mai der 2003 beschlossene Atomausstieg aufgehoben: Neubauten sind jetzt wieder möglich. Zwei Reaktoren laufen dort noch zehn Jahre; ihre Laufzeit war in der Energiekrise verlängert worden. Zwei weitere, die Ende des Jahres abgestellt werden sollten, könnten weiterlaufen, wenn der Betreiber zustimmt. Auch Spanien, der zweitgrößte Atomstrom-Produzent in der EU, orientiert sich neu. Im April signalisierte die Regierung erstmals, die 2019 beschlossene Abschaltung der bestehenden Reaktoren, die ein Fünftel des verbrauchten Stroms produzieren, zu überdenken.

Abwartende 

Daneben gibt es eine Reihe von Ländern, in denen über die Rückkehr zur Atomkraft oder den Einstieg nachgedacht wird. Es gibt Diskussionen, Parlamentsbeschlüsse, Resolutionen und langfristige Prüfungen. Konkret sind die Pläne allerdings nicht. Das liegt auch daran, dass diese Länder vor allem über den Einsatz einer Technologie nachdenken, an der noch geforscht wird.

Die sogenannten Small Modular Reactors (SMRs) arbeiten wie herkömmliche AKWs, sind aber weit kleiner. Sie können in einer Fabrik vorgefertigt, montiert und dann gebrauchsfertig zum Standort transportiert werden. Das reduziert Bauzeit, Komplexität und macht sie billiger. Und es würde die Finanzierung der Atomkraft verändern: Künftig könnten auch Gemeinden, Städte und Unternehmen AKWs finanzieren – und nicht nur nationale Regierungen. 

Italien und die drei baltischen Länder Lettland, Estland und Litauen denken über den Einsatz von SMRs nach. Keines dieser Länder produziert derzeit Atomstrom. Italien hatte sich 1987 in einem Referendum nach der Katastrophe von Tschernobyl gegen die Nutzung der Atomkraft entschieden; das letzte Kraftwerk dort wurde 1990 stillgelegt. Die Meloni-Regierung will das Verbot bis Ende des Jahres kippen.

Auch Kroatien, das die Hälfte eines Kernkraftwerkes in Slowenien besitzt – ein Erbe der gemeinsamen jugoslawischen Vergangenheit – denkt über den Einsatz von SMRs nach. Selbst Dänemark überprüft das 40 Jahre alte Nuklearverbot und lässt Machbarkeitsstudien zu SMRs erstellen. Dass die Technologie noch entwickelt wird, macht sie für Politiker attraktiv. „SMRs können der Bevölkerung leichter vermittelt werden als herkömmliche Hochleistungskernkraftwerke, auch wenn die Technologie im Kern die gleiche ist“, sagt Atom-Analyst Nelson. „Regierungen können mit dem Thema auch vermitteln, dass sie etwas tun und erst einmal abwarten, wie sich die Technologie entwickelt.“ 

Atomverweigerer  

Angesichts der atomaren Renaissance gehört Deutschland zu einer zunehmend kleinen Gruppe von Ländern, die Atomkraft weiter ablehnen. Auch in Österreich, wo das weitgehend fertige AKW Zwentendorf nie genutzt wurde, bleibt sie strikt verboten.

In der Schweiz dürfen die bestehenden AKWs, die ein Drittel des Stroms erzeugen, so lange laufen, wie sie sicher sind. Der Neubau ist aber derzeit verboten. Portugal hat keine AKWs, genauso wenig wie Irland, Zypern und Malta. Das gilt auch für den Kleinstaat Luxemburg, dem es genauso geht wie Deutschland: Das Land selbst ist atomfrei, aber rundherum bauen die Nachbarn neue Reaktoren. 

Tobias Kaiser verfolgt andere europäische Volkswirtschaften, schreibt über den Standortwettbewerb auf dem Kontinent und berichtet vor Ort über Entwicklungen und deren Folgen für Deutschland.

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