Der Entscheid dürfte für viele unerwartet gekommen sein: Kurz nachdem die ersten aussagekräftigen Hochrechnungen der Europawahlen vorgelegen waren, kündigte Macron die Auflösung der Nationalversammlung an. Denn sein Lager hatte eine deutliche Niederlage erlitten, während das Rassemblement National als klarer Sieger hervorging.

Die Neuwahlen brachten nicht die von Macron erhofften klaren Mehrheitsverhältnisse. Die Nationalversammlung ist in drei starke Blöcke gespalten, Frankreich wird von einer Minderheitsregierung geführt. Politisch scheint die Situation seither also festgefahren zu sein.

In seiner Neujahrsansprache räumte Macron ein, dass die Auflösung mehr Instabilität, als Ruhe gebracht habe. Doch nicht nur für die politische Situation des Landes, auch für den Präsidenten selbst, hatte die Auflösung Folgen.

Machtverlust auf nationaler Ebene

Macron habe vor allem in der Innenpolitik an Einfluss verloren, erklärt Vincent Martigny, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Nizza. «Das Parlament und die Regierung entscheiden zunehmend unabhängig vom Elysée-Palast», erklärt Martigny. So auch Macrons Verbündete, von denen einige in der Regierung seien.  

Legende: François Bayrou ist ein Vertrauter Macrons. Keystone/ALAIN JOCARD

Etwa Premierminister François Bayrou, der zwar ein Vertrauter des Präsidenten ist, politisch aber unabhängig agiere. Laut Verfassung ist Bayrou zuständig für die Innenpolitik und muss, mangels Regierungsmehrheit, mit dem Parlament zusammenarbeiten.

Diesen verlorenen Einfluss in der Innenpolitik würde Macron gerne zurückgewinnen, meint der Politikwissenschaftler. Darum versuche der Präsident hinter den Kulissen die innenpolitischen Diskussionen zu lenken. «Das ist aber schwierig, weil die Bevölkerung nach der Parlamentsauflösung nach wie vor sehr wütend auf Macron ist.» Er könne sich also nicht öffentlich als Gestalter der Innenpolitik präsentieren.

Tatsächlich ist Macron, seitdem er die Nationalversammlung aufgelöst hat, noch unbeliebter als vorher schon. Ein kleiner Trost: Präsidenten in Frankreich sind selten lange populär.

Eine Möglichkeit bleibt Macron noch

Politisch hat Macron nicht überall an Bedeutung verloren: In der Aussen- und Sicherheitspolitik kann er weiterhin Akzente setzen. Diese Bereiche sind traditionell dem Präsidenten vorbehalten und hier trat Macron zuletzt selbstbewusst auf – als französischer Staatschef und als Stimme Europas.

Ansonsten dürfte Macron bis zum Ende seiner Amtszeit in zwei Jahren wenig bewegen können, meint Martigny. Der Politikwissenschaftler spricht von einer «dreifachen Kohabitation», in der sich der Präsident nun befinde: mit dem Premier, dem Parlament und dem französischen Volk, das ihm die Auflösung der Nationalversammlung weiterhin übelnehme.

Solange diese Ressentiments gegen den Präsidenten anhalten, dürfte sein Handlungsspielraum begrenzt bleiben, so Martigny.

Eine Möglichkeit hat Macron aber noch. Das politische System erlaubt es ihm, die Nationalversammlung ab morgen Dienstag erneut aufzulösen. Ob er diesen Schritt ein zweites Mal wagt, bleibt offen. Ausgeschlossen hat Macron ihn jedenfalls nicht.

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