Jeden Tag fahren Öltanker der sogenannten russischen Schattenflotte an der deutschen Küste vorbei. Niemand bekommt mit, was auf den Schattentankern vor sich geht - mit einer Ausnahme.
"Ich fühle mich wie ein Teil der russischen Kriegsmaschine", erzählt uns Bjarne Cæsar Skinnerup. Dabei will der erfahrene dänische Seelotse mit seiner Arbeit eigentlich etwas ganz anderes erreichen: dass dänische und deutsche Küsten vor Schiffsunfällen und deren Folgen geschützt werden.
Seine Schichten beginnen auf einem orangefarbenen Lotsenboot, das ihn vom dänischen Festland aus raus auf die Ostsee bringt, in den Fehmarnbelt oder den Großen Belt. In voller Fahrt geht das Boot längsseits bei großen Handelsschiffen. Skinnerup muss eine Strickleiter an der Bordwand hochklettern. Oben nimmt ihn die Crew in Empfang und bringt ihn auf die Kommandobrücke.
Wo die Schiffe herkommen und was sie transportieren, ist für das Lotsenunternehmen egal. Und so kommt es, dass Skinerrup sogar auf Öltanker klettert, auf die nach einer gemeinsamen Recherche von NDR und dem dänischen Medium Danwatch niemand in der Europäischen Union oder anderen westlichen Staaten mehr einen Einblick bekommt: Schiffe der sogenannten russischen Schattenflotte, die Rohöl - mutmaßlich sanktionswidrig - in alle Welt transportieren. Die Begleitung durch die Lotsen ist in den dänischen Transitstrecken zwar keine Pflicht; da die Seepassagen aber schmal, seicht und vielbefahren sind, nehmen die meisten Schiffe die Hilfe in Anspruch.
Zweifel an Qualifikation der Crews
"Ich weiß: Alles, was aus russischen Häfen exportiert wird - das Geld, das damit verdient wird -, damit finanziert Russland seinen Krieg gegen die Ukraine", sagt der Lotse. "Deshalb mache ich meine Arbeit natürlich mit sehr gemischten Gefühlen. Und das ist - ehrlich gesagt - echt traurig."
Doch ihn treiben nicht nur die Gewissensbisse um, sondern auch das, was er an Bord der Schattentanker erlebt. Da ist zum einen das Alter dieser Schiffe. Bis vor ein paar Jahren seien in der Ostsee keine Tanker aufgetaucht, die älter als 20 Jahre sind, so Skinnerup. Größere Ölkonzerne setzen nach NDR-Informationen keine Tanker mehr ein, die älter als 18 Jahre sind. Nun passiert das täglich, wie auch in Schiffstrackern wie Marine Traffic ersichtlich ist.
Der Lotse bemängelt die technischen und hygienischen Zustände an Bord. Auch seien die Crews "nicht so qualifiziert", um zu verstehen, weshalb sie die Gewässer "nicht so durchqueren können, wie sie denken". Mitunter sei es "wirklich so, als wäre ihnen alles egal", so Skinnerup weiter. "Und manchmal, wenn ich von Bord gehe, frage ich mich: Wie um Himmels Willen schaffen die es sicher an ihr Ziel?"
Bisher kann die mutmaßlich gefährlichen Tanker niemand aufhalten. Laut dem UN-Seerechtsübereinkommen darf kein Staat ein Schiff vor seiner Küste stoppen, das sich in "friedlicher Durchfahrt" befindet. Und so können auch staatliche Akteure wie etwa die deutsche Marine die Schiffe lediglich beobachten.
Schattentanker von russischen Kriegsschiffen begleitet
Im April begleitet ein NDR-Team einen deutschen Marineverband, der an einem internationalen Manöver vor der dänischen Insel Bornholm teilnimmt - in einem Seegebiet, in dem täglich Tanker der Schattenflotte verkehren. Es geht darum, die NATO-Operation "Baltic Sentry" gegen die Schattenflotte zu unterstützen, allein schon durch erkennbare Präsenz. In der Vergangenheit gab es immer wieder Fälle, in denen Schattenschiffe mit Sabotageakten in der Ostsee in Verbindung gebracht wurden.
Das Manöver wird vom Stabsschiff "Mosel" befehligt. Bei Tagesanbruch eine Durchsage an Bord: Das Deck ist gesperrt. Schattentanker und russische Kriegsschiffe seien in der Nähe. Die Crew an Bord der "Mosel" beobachtet einen Geleitzug aus einem Schattentanker, einem Frachter und zwei russischen Korvetten.
Die deutschen Soldatinnen und Soldaten hätten dabei festgestellt, dass auf den russischen Kriegsschiffen offenbar Waffen einsatzbereit waren, so der deutsche Kommandeur Mario Bewert im Nachgang. Auf einer Plattform neben den Kommandobrücken der Schiffe, den sogenannten Nocken, seien Soldaten gewesen. "Da befinden sich dann auch Maschinengewehre, die waren scheinbar besetzt", so Fregattenkapitän Bewert. Später werden die deutsche Küstenwache und die dänische Marine den Konvoi Schiff vorbei an der deutschen Küste geleiten.
Kampfflugzeug beschützt Schattentanker vor Estland
Dass solche Begegnungen auch eskalieren können, zeigte sich zuletzt Mitte Mai vor der Küste Estlands. Die estnische Küstenwache fährt an einen Schattentanker heran; offenbar, um ihn zu kontrollieren. Daraufhin schickt Russland - mutmaßlich zur Abschreckungen - einen Kampfjet. Nach estnischen Angaben dringt er dabei in den Luftraum des baltischen Staates ein. Außenminister Margus Tsahkna bestätigt den Vorfall später und spricht von einer "sehr ernsten" Situation auf der Ostsee.
Einer der renommiertesten Analysten der Sanktionen gegen Russland ist Robin Brooks, Senior Fellow der amerikanischen Denkfabrik Brookings Institution. Die Schattenflotte sei als Reaktion auf westliche Gegenmaßnahmen nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine aufgebaut worden. Die G7-Staaten - also Deutschland, Frankreich, Italien, Japan, Kanada, das Vereinigte Königreich und die USA - hatten einen Ölpreisdeckel verhängt. Russland sollte sein Öl zwar noch exportieren können, aber nur zu einem vom Westen bestimmten Preis. Legalen Tankschiffen drohen seitdem Konsequenzen, wenn sie russisches Rohöl zum Marktpreis transportieren. Das habe die Kaufkraft Russlands bedroht, so Brooks. "Die ganze russische Wirtschaft hätte kollabieren können", sagt er.
Als Reaktion, um also vom legalen Markt unabhängig zu sein, habe Russland deshalb die Schattenflotte aufgebaut. Dabei seien vor allem alte Schiffe aufgekauft worden, die sonst mutmaßlich verschrottet worden wären. Wer die Schiffe betreibt, wird offenbar gezielt verschleiert, um westlichen Sanktionen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Wie viele Schattentanker es heute gibt, ist unklar. Der ukrainische Think Tank Kyiv School of Economics zählt etwa 650 Schiffe zur russischen Schattenflotte.
Bis zu 40 Millionen Dollar pro Jahr?
Wie lukrativ das Betreiben von Schiffen der Schattenflotte offenbar ist, berichtete dem NDR nun ein anonymer Insider aus Schifffahrtskreisen, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. Mit einem einzigen Schiff ließen sich im russischen Ölhandel in nur einem Jahr 30 bis 40 Millionen Dollar verdienen. Die gebrauchten Öltanker würden in der Branche als "Rosteimer" gelten und kosteten die Besitzer seiner Einschätzung nach beim Kauf etwa zwölf Millionen Dollar. Die meisten von ihnen säßen im Mittleren Osten, in Indien oder in anderen südasiatischen Ländern.
"In der Regel hat jeder Besitzer nur ein Schiff. So versuchen sie, Sanktionen aus dem Weg zu gehen", so der Insider weiter. Dadurch sei der Schaden begrenzt, wenn ein Schiff erkannt, sanktioniert und dadurch unbrauchbar würde. Die EU hat bisher 342 Schattentanker auf ihre Sanktionsliste gesetzt.
Die westlichen Gegenmaßnahmen gegen einzelne Schiffe der Schattenflotte sind einer Analyse von Ökonom Robin Brooks wirksam. Er hat sich angeschaut, ob Öltanker weiterhin russisches Öl transportieren, wenn sie durch die EU oder durch die USA sanktioniert wurden. Und tatsächlich sei das nicht der Fall: Die Aktivität breche zusammen. Dass die Sanktionen deshalb ein Erfolg sind, sieht Brooks jedoch nicht: "Wir haben die Mittel, wir wissen genau, was wir hätten machen sollen, wir haben es aber nicht getan." Die Sanktionen würden nach mehr als drei Jahren Krieg gegen die Ukraine viel zu zögerlich verhängt.
EU-Abstimmungen über Sanktionen "ineffizient"
Einer Berechnung des Kyiv School of Economics Institute zufolge konnte Russland trotz der westlichen Gegenmaßnahmen allein im vergangenen Jahr mehr als 230 Milliarden Dollar mit dem Export von Öl und Gas verdienen. Die Kommission der Europäischen Union will die russischen Einnahmen jetzt durch weitere Sanktionen mindern und hat am 11. Juni die Leitlinien für ein 18. Sanktionspaket vorgestellt. Es geht unter anderem um weitere Sanktionen gegen Tanker der Schattenflotte. Verabschieden müssen das Paket die Mitgliedsstaaten - doch ihre Zustimmung ist alles andere als gewiss.
Die Außenministerin von Lettland, Baiba Braže, sagte dem NDR, ihr Land sei dafür, mehr Schattentanker zu sanktionieren, aber die Abstimmung unter den Mitgliedern sei "nicht sehr effizient". Für jedes einzelne Schiff müssten Beweise vorgelegt werden. In einer Abstimmung müsse dann einstimmig beschlossen werden, es auf die EU-Sanktionsliste zu setzen.
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