Die deutschen Netzbetreiber jubeln: Die Bundesregierung kündigt wie gewünscht den Bau vieler neuer Gaskraftwerke an - als Feuerwehr des Stromsystems. Klaus Mindrup warnt. "Das Problem in Dunkelflauten ist vor allem Wärme", sagt der Energieexperte im "Klima-Labor" von ntv. Dafür schaffen Gaskraftwerke "auf der grünen Wiese" keine Abhilfe: Dort gibt es keinen Wärmeanschluss. Auch den "zentralistischen" Netzausbau hält Mindrup für naiv. Sein Argument: Allein der deutsche Solarzubau übersteigt den Netzbau um ein Vielfaches - jedes Jahr. "Die Erneuerbaren funktionieren anders als das bisherige System. Das muss man akzeptieren", sagt er. Was wäre besser? Mindrup empfiehlt, das deutsche "Heiligtum" aufzugeben und nach Kalifornien zu schauen. Die Zukunft sind Inselnetze, lokale Preissignale, Kraft-Wärme-Kopplung und die "Alleskönner des Stromsystems", Batterien.
ntv.de: Die Übertragungsnetzbetreiber sind sich einig: Katherina Reiche hat recht, wir benötigen 20 Gigawatt an neuen Gaskraftwerken als Feuerwehr des Stromsystems. Sie sind von diesen Plänen nicht überzeugt. Warum?
Klaus Mindrup: Nein, weil ich die Feuerwehr nur rufe, wenn es brennt. Man kann aber vorsorgen und das Energiesystem so bauen, dass man sie möglichst nicht benötigt. Aber die deutsche Politik betreibt Silodenken und plant das Energiesystem getrennt: Strom, Wärme, Transport. Die Energiewende ist bisher aber überwiegend eine Stromwende. Die muss man über die Sektoren zusammen denken. Macht man das, kommt man zu anderen und günstigeren Ergebnissen als 20 Gigawatt an neuen Gaskraftwerken.
Weil wir damit an jeder Kreuzung eine Feuerwehr bauen?
In Deutschland ist die Grundidee des Stromnetzes: Wir haben eine Kupferplatte und können den Strom ohne Verlust und Widerstand von Flensburg nach Garmisch-Partenkirchen verkaufen. Das stimmt nicht. Es gibt Kraftwerkseinsatzpläne, das sind Dispatches. Aber wenn im Süden viel Sonne scheint und im Norden nicht, muss der Strom in den Norden transportiert werden. Bei Wind läuft es umgekehrt. Dafür reichen die Leitungen nicht. Wir reparieren ständig, das ist der Redispatch.
Die Netzbetreiber sagen: Das ändert sich, sobald wir mit dem Netzausbau fertig sind.
Das ist naiv. Die aktuellen Pläne für den Ausbau der Hochspannungsgleichstromleitungen sehen vor, dass in den nächsten zehn Jahren etwas mehr als 10 Gigawatt an Übertragungskapazitäten zugebaut werden. Der Solarzubau war letztes Jahr fast doppelt so groß. Netzausbau ist sinnvoll, aber man kann kein Stromnetz bauen, das auf die Einspeisung von Erneuerbaren ausgelegt ist. Das geht nicht. Nie. Flexibilität muss man vor Ort organisieren, dann kann das Netz auf die Abnahme ausgelegt werden. Sonst wird es unbezahlbar.
Diese Idee eines großen und eng verzahnten europäischen Stromnetzes, in dem sich alle gegenseitig stabilisieren und absichern, funktioniert gar nicht?
Das weiß jeder, der ein bisschen Physik praktiziert hat: Ohne Speicher geht es nicht.
Das ist bei den Netzbetreibern bestimmt der Fall.
Ich habe manchmal meine Zweifel. Ein US-amerikanischer Wissenschaftler hat mir mal gesagt: Viele verwechseln Elektronen mit kleinen Molekülen. Das sind sie nicht. Ein Stromnetz muss immer in Balance sein. Es muss so viel Strom entnommen werden, wie eingespeist wird. Passiert das nicht, gerät das Netz aus dem Gleichgewicht und bricht zusammen.
Wie in Spanien.
Genau. Der Blackout spricht dafür, ein System mit Inselnetzen aufzubauen, die unabhängig laufen können. So war es 2012 nach Hurrikan "Sandy" in den USA: Einzelne Netze in New York haben noch funktioniert und Stadtteile mit Strom versorgt.
Man baut kein großes Stromnetz für alle, sondern viele kleine Einzelne?
Der Vorteil dieses zellulären Ansatzes ist: Auch die kleinen Netze können sukzessive miteinander vernetzt werden. Der Verband der Elektrotechnik (VDE) hat dafür geworben, aber politisch hat sich das zentralistische Konzept der großen Kupferplatte durchgesetzt. Das wird auf Dauer nicht funktionieren.
Weil das große Netz zu instabil ist und gerade auf längeren Strecken viel Energie verloren geht?
Ein großes Netz kann auch durch technische oder Handelsmanipulation zum Zusammenbruch gebracht werden. Damit muss man sich beschäftigen. Die Expertinnen und Experten sagen: Ein zelluläres System ist stabiler. Und wie erwähnt: Die kleinen Einheiten können größer sein. Im Prinzip beginnt das Inselnetz bei Häusern mit schwarzstartfähigen Batterien.
Schwarzstartfähig?
Atomkraftwerke oder fossile Großkraftwerke benötigen nach einem Stromausfall zum Hochfahren in der Regel eine externe Stromquelle. Batterien oder Wasserkraftwerke kann man ohne hochfahren.
Wo fallen die Gaskraftwerke von Katherina Reiche rein?
Bei den Gaskraftwerken ist die Lage kompliziert. Unabhängig davon ist das Problem aber: Laut Koalitionsvertrag sollen sie überwiegend an bestehenden Kraftwerksstandorten gebaut werden. Das wird die EU seltsam finden, weil die Betreiber der bestehenden Standorte bei der Ausschreibung natürlich einen Vorteil hätten. Fraglich ist auch: Sind das die benötigten Kraftwerke? In Deutschland ist die Situation speziell im Winter kritisch, wenn es wenig Sonne und manchmal auch wenig Wind gibt. Das Problem in diesen Dunkelflauten ist daher vor allem Wärme. Die werden wir in Zukunft hauptsächlich mit Wärmepumpen erzeugen. Ist der Strom knapp, können wir alternativ Kraft-Wärme-Kopplung (KWK) nutzen. Diese erzeugt Strom und Wärme gleichzeitig und senkt dadurch den Strombedarf. Damit das funktioniert, benötigen wir also dezentrale KWK-Anlagen, keine zentralen Gaskraftwerke.
Deren Abwärme kann man nicht nutzen?
Dafür müsste man sie so platzieren, dass ihr Standort im Stromnetz und in Wärmenetzen Sinn ergibt. Das ist nicht der Fall: Auf der grünen Wiese gibt es keinen Wärmeanschluss.
Idealerweise werden diese Gaskraftwerke doch ohnehin nicht benutzt. Sie sprachen selbst von der Stromwende.
Die Kraftwerke werden selten laufen, aber es gibt Situationen, in denen zu wenig erneuerbarer Strom zur Verfügung steht. Dann kommen als Rückversicherung die Moleküle ins Spiel. Dabei handelt es sich idealerweise um Wasserstoff oder auch Biogas.
Aber wir sollten die Wärmenutzung ankoppeln, damit dafür keine zusätzliche Feuerwehr nötig ist?
Genau. Wenn man Anlagen für Kraft-Wärme-Kopplung geschickt platziert, integriert und mit Wärmespeichern verbindet, kann ich das System stabilisieren und gleichzeitig den Netzausbau reduzieren. Wir werden in Zukunft mehr Strom verbrauchen, das ist klar. Neben Wärmepumpen kommen Rechenzentren und E-Autos dazu. Auch in der Industrie werden Prozesse elektrifiziert. Darauf muss das Stromnetz ausgerichtet sein - möglichst kostengünstig.
Mit möglichst vielen Großbatterien?
Wir benötigen alles. Auch kleine Hausbatterien sind sinnvoll. Ideal wäre es, wenn man die in Nachbarschaften verbinden könnte. Wir sollten zur Stabilisierung des Stromsystems auch die wachsende Flotte von Elektroautos nutzen. Aber diese Batterien benötigen Signale wie von einer Ampel. Die sind derzeit allerdings häufig falsch.
Die Ampel ist gleichzeitig für alle rot oder grün?
Ein Beispiel: Wir haben viel Windenergie im Norden, die Preise an der Strombörse sind niedrig. Das Signal ist: Strom kaufen. Der Batteriebetreiber in Garmisch-Partenkirchen schlägt zu, aber die Leitungen nach Süden reichen nicht. Er kauft Strom, der nicht lieferbar ist. Bleibt die Lieferung aus, erhält er eine Entschädigung. Im schlimmsten Fall springt ein Kohlekraftwerk an, um diese Batterie zu laden. Das ist der Unterschied von Deutschland zu Kalifornien oder Texas: Dort bilden lokale Preissignale die Situation vor Ort ab.
Strompreiszonen?
Das ist etwas anderes. Die Strompreiszonen, die in Europa diskutiert werden, berücksichtigen nicht die Leitungskapazität. In den USA und fast allen anderen liberalisierten Strommärkten außerhalb Europas sagt man: Im Hochspannungsnetz und damit im Großhandel muss man Stromerzeugung und Kapazität der Leitungen zusammen denken, sprich: Man darf Strom nur dann verkaufen, wenn er transportiert werden kann. Deswegen gibt es in Kalifornien und benachbarten Bundesstaaten Tausende miteinander vernetzte Stromknoten. An denen wird lokal gehandelt. Dadurch entfallen Redispatch-Kosten. Die betragen allein in Deutschland zwei bis vier Milliarden Euro im Jahr.
Das klingt kompliziert.
Es ist deutlich einfacher als unser System. Im deutschen Stromnetz muss umfangreich und oft kurzfristig nachgesteuert werden, weil Transport und Handel nicht gekoppelt sind. In Kalifornien wissen die Leute 24 Stunden vorher weitgehend, wie das System laufen wird, und können am Wochenende um 14 Uhr in den Feierabend gehen. Die Umsetzung wäre für Europa kein Problem.
Aber?
Batterien sind Alleskönner. Das ist der große Unterschied zu Kraftwerken, die nur Strom erzeugen. Batterien können einspeichern, ausspeichern, das Netz stabilisieren oder Blindleistung kompensieren. Das sind technische Wunderwerke. Leider werden Batterien bei uns nicht als Teil der Infrastruktur betrachtet.
Das bedeutet?
In Kalifornien werden Batteriespeicher zu 85 Prozent von den Versorgern betrieben. Die haben ein Eigeninteresse daran, mit ihren Batterien ihr Stromnetz zu stabilisieren.
Wäre es besser, wenn die Netzbetreiber die Batteriespeicher und Reservekraftwerke betreiben?
Klar ist: Es ist teuer, für zwei Funktionen - Stabilität des Stromnetzes und Stromhandel - zwei Batterien zu verwenden. Das kann und muss dieselbe Batterie erledigen. Aber in Europa haben wir die eigenartige Vorstellung, dass das Verschieben von Strom im Raum - der Leitungsausbau - heilig ist. Das Verschieben des Stroms in der Zeit - die Batterien - wird dagegen bekämpft. Der Netzausbau hat immer Vorrang vor Speichern. Wie man jetzt sieht, geht das nicht auf. Studien überbieten sich mit Zahlen, wie teuer der Netzausbau wird.
Tatsächlich wird argumentiert, dass der Netzausbau und die Gaskraftwerke notwendig sind, um die Strompreise zu stabilisieren.
Wir erleben eine weltweite Energie-Revolution. Im vergangenen Jahr wurden 600 Gigawatt PV zugebaut. Das entspricht der Leistung von 600 Atomkraftwerken. Aber in Deutschland versuchen wir, die Vergangenheit zu retten. Das ist so, als würden wir das digitale Kommunikationsnetz mit analogen Telefonen betreiben. Die erneuerbaren Energien funktionieren anders als das bisherige System. Das muss man akzeptieren. Die sind dezentraler und erzeugen zu bestimmten Zeiten gigantische Überschüsse. Deswegen muss das System von unten nach oben gebaut werden und nicht von oben nach unten. Dann wird es für alle günstiger. Lösungen, die der Physik widersprechen, werden nicht funktionieren.
Mit Klaus Mindrup sprachen Clara Pfeffer und Christian Herrmann. Das Gespräch wurde zur besseren Verständlichkeit gekürzt und geglättet. Das komplette Gespräch können Sie sich im Podcast "Klima-Labor" anhören.
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