Der russische Staat hält viele Zahlen unter Verschluss. Nun kommen auch Daten zur Bevölkerungsentwicklung hinzu: Die Statistikbehörde Rosstat hat darauf verzichtet, detaillierte Angaben zu Geburten und Todesfällen im März zu veröffentlichen. Alexei Rakscha, unabhängiger Demograf in Moskau, wurde kürzlich zum «ausländischen Agenten» gestempelt. Er will weiterhin Licht ins Dunkel bringen.
SRF News: Rosstat veröffentlicht immer weniger Zahlen. Woher erhalten Sie die Daten?
Alexei Rakscha: Direkt von den regionalen Standesämtern oder aus Lokalmedien. Aber auch diese Quellen versiegen. Einige Standesämter, die früher Daten zur Verfügung gestellt haben, haben dies für die letzten Monate nicht mehr getan. Es bleiben nur noch wenige übrig. Ich kann mir trotzdem noch ein grobes Bild der demografischen Situation in Russland machen, aber es ist immer weniger genau.
Wie sieht das Bild aus?
Schlecht. Die Bevölkerung schrumpft. Die Zahl der Geburten ist die niedrigste seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Zugleich ist die Sterblichkeitsrate für Europa sehr hoch; bei Männern ist sie selbst für arme Länder hoch. Dies ist ein Problem für die Wirtschaft, die an ihre Grenzen stösst und unter einem akuten Arbeitskräftemangel leidet.
Die russischen Verluste an der Front betreffen hauptsächlich Männer, die ohnehin eine geringe Lebenserwartung haben.
Welche Rolle spielt dabei der Krieg in der Ukraine?
Nur eine untergeordnete. In Russland trinken Männer immer noch zu viel Spirituosen und rauchen zu viel. In der niedrigsten Bildungsschicht werden sie im Schnitt nur 55 Jahre alt. Genau diese Menschen unterschreiben in der Regel einen Armeevertrag. Die russischen Verluste an der Front betreffen also hauptsächlich Männer, die ohnehin eine geringe Lebenserwartung haben. Sie sind demografisch nicht so bedeutend, dass sie die wenigen groben Zahlen, die Rosstat bis vor kurzem veröffentlichen durfte, spürbar beeinflussten.

Also ist Russlands Bevölkerungsschwund nach dem Krieg nicht gelöst?
Nein. Die Geburtenrate in Russland ist nicht katastrophal niedrig. Sie ist sogar etwas höher als in der Schweiz – in Russland 1,43 Kinder pro Frau gegen 1,3 in der Schweiz. Aber andere Länder kämpfen mit Einwanderung oder gezielter Sozialpolitik gegen den Bevölkerungsschwund. Die russischen Behörden hingegen geraten in Panik.
Was tun die Behörden dagegen?
In den letzten Jahren haben sie vor allem Massnahmen vorgeschlagen, die die Situation nicht verbessern. Etwa die Einschränkung von Abtreibungen oder Geldleistungen für schwangere Studentinnen und Mütter mit zehn Kindern. Sie wollen, dass Frauen früher und zahlreicher Kinder bekommen, und dass sich mehr von ihnen für ein erstes Kind entscheiden.
In Russland entscheiden sich zu wenig Paare für ein zweites Kind.
Das ist bisher noch nirgendwo gelungen. Ausserdem gibt es in Russland schon jetzt viele junge und grosse Familien. In Russland werden im Vergleich mit anderen entwickelten Ländern viele dritte und vierte Kinder geboren; russische Frauen kriegen ihr erstes Kind im Durchschnitt mit 26 Jahren, schweizerische mit 31. Aber in Russland entscheiden sich zu wenig Paare für ein zweites Kind.
Was könnte man dagegen tun?
Russland gibt sechs Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für den Krieg aus. Ein erfolgreiches demografisches Programm zur Steigerung der Geburtenrate würde ein Zehntel davon kosten. Die Geburt zweiter Kinder fördert man mit Zuschüssen, dem Bau von Kinderkrippen und der Bekämpfung der wirtschaftlichen Ungleichheit. Aber das alles macht Russland entweder unzureichend oder gar nicht. Früher hiess es, dafür sei kein Geld da. Jetzt sehen wir: Die Prioritäten sind einfach andere.
Das Gespräch führte Calum MacKenzie.
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