Seit Jahrhunderten wird in einer englischen Kleinstadt alljährlich ein uraltes, wildes Ballspiel mit Hunderten Spielern ausgetragen. Das Spektakel, an dem auch schon der König Gefallen fand, setzt neben Geschick auch auf Täuschung.
Drei Fahrstunden von London entfernt, im ländlichen England, wird alljährlich ein jahrhundertealtes Ballspiel ausgetragen. Tausende Menschen strömen regelmäßig zum Royal Shrovetide in die Kleinstadt Ashbourne, um das zweitägige Massenspektakel zu sehen. Auf flüchtige Beobachter könnte das Spiel fast wie ein Aufstand wirken. Doch eine der wenigen Regeln verbietet es den Spielern immerhin, sich gegenseitig umzubringen.
Royal Shrovetide, die Königliche Fastnacht, hat nichts mit Fußball oder anderen herkömmlichen Spielen gemein. "Es ist wie Tauziehen ohne Seil", sagt die 43-jährige Natalie Wakefield, die in der Nähe wohnt und die Veranstaltung in der Vergangenheit geleitet hat. "Es ist auf die bestmögliche Art verrückt."
Gespielt wird zwischen zwei Mannschaften mit Hunderten Spielern. Ziel ist es, ein "Tor" an einem der beiden Enden eines fünf Kilometer langen Sektors zu erreichen. Die Partie kann durch Flüsse, Hecken, Straßen und so gut wie alles andere führen, mit Ausnahme von Kirchhöfen, Friedhöfen und Gotteshäusern. Der Ball wird in einen Spielerpulk geworfen, der sich wie eine riesige Herde bewegt, und jedes Team versucht, ihn in Richtung des gewünschten Ziels zu befördern. Der Ball kann mit der Hand geführt, aber auch getreten werden. "Kein Mord" war eine frühe Regel für das Spiel, das mindestens bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht.
"Hart, aggressiv und durchsetzungsfähig"
Gute Spieler müssten "hart, aggressiv und durchsetzungsfähig" sein, sagt Mark Harrison, der 1986 ein Tor erzielte und einer von mehreren Generationen von Torschützen in seiner Familie ist. "Man kann nicht üben", fügt der 62-Jährige hinzu. Er hat vor sieben Jahren aufgehört, am Wettkampf teilzunehmen, und serviert den Zuschauern jetzt Burger in einem Street Food Truck. "Man muss einfach da reingehen und hart sein. Ich bin Rugbyspieler. Außerdem bin ich ein ehemaliger Boxer, das hilft."
Harrison hatte die Ehre, den damaligen Prinz Charles auf seinen Schultern zu tragen, als der heutige König von England 2003 das Spiel eröffnete. "Er fand es toll!", sagt Harrison.
Im Rest des Jahres ist Ashbourne ein ruhiges, malerisches Städtchen, dessen Hauptstraße von Antiquitätenläden, Cafés und Pubs gesäumt wird. Regelmäßig an Fastnachtsdienstag und Aschermittwoch ändert sich das: Holzbretter werden zum Schutz der Ladenfronten aufgenagelt, Türen verbarrikadiert. An Laternenpfählen werden "Spielzone"-Schilder angebracht, die Autofahrer davor warnen, dort zu parken. In der Höhe werden von Gebäude zu Gebäude bunte Wimpel aufgehängt, Feiernde versammeln sich und essen und trinken wie bei einem Straßenfest. Eltern mit Kleinkindern in Kinderwagen schauen aus sicherer Entfernung zu. Längst sind die Schulferien in der Region mit dem Fest zusammengelegt worden. Manche Zuschauer wollten das Spektakel nur einmal sehen und hakten es dann ab, andere seien begeistert und kämen Jahr für Jahr wieder, sagt Wakefield.
Lederner, kürbisgroßer, mit Kork gefüllter Ball
Für das Spiel werden die Einwohner in zwei Hälften geteilt, die "Up'ards" und die "Down'ards", je nachdem, ob sie nördlich oder südlich des Flusses Henmore geboren wurden. Das Spiel beginnt mit einer Eröffnungszeremonie auf einem Parkplatz im Stadtzentrum. Es werden die Nationalhymne und das Traditional "Auld Lang Syne" gesungen. Die Teilnehmer werden daran erinnert, dass sie auf eigene Gefahr spielen. Dann wird ein lederner, kürbisgroßer, mit Kork gefüllter und kunstvoll bemalter Ball in die Spielermenge geworfen - und los geht es.
Für Zuschauer und Zuschauerinnen ist während der acht Stunden, die jeden Tag ab 14 Uhr gespielt werden, oft über weite Strecken wenig zu erkennen. Die Spieler tragen ihre eigene Kleidung - etwa irgendwelche Fußball- oder Rugbytrikots - und keine Mannschaftsuniformen. Am vergangenen Dienstag dauerte es allein mehr als 45 Minuten, um den Ball vom Parkplatz zu befördern.
Schaulustige stehen auf Mülltonnen, Mauern und Parkbänken und recken ihre Hälse, um einen besseren Blick zu erhaschen. "Kannst du den Ball sehen?", wird oft gefragt. Die Antwort lautet häufig: "Nein". Später am Dienstag wurde der Ball fast zwei Stunden lang nicht gesichtet, bis Gerüchte aufkamen, dass die Down'ards ein Tor zum 1:0 erzielt hatten. Es sollte das Einzige an den beiden Spieltagen bleiben.
Zuweilen nimmt das Spiel trotz der vielen Teilnehmer so schnell Fahrt auf, dass Zuschauer, die gerade noch versucht hatten, einen genaueren Blick zu erhaschen, plötzlich eilig vom Spielgeschehen weglaufen. Das Spiel kann sehr hektisch sein: Die Spieler rennen dem Ball hinterher, wohin auch immer er sie führt, sie springen etwa in den Fluss und auf der anderen Seite wieder heraus. Während bei Ballbesitz Kraft gefragt ist, müssen Läufer schnell sein, wenn der Ball freikommt.
"Gehört schon ein bisschen Strategie dazu"
Bei der Königlichen Fastnacht geht es jedoch ebenso sehr um Täuschung und Gerissenheit. "Es gehört schon ein bisschen Strategie dazu, so zu tun, als sei der Ball noch in der Mitte der Spielerpulks", sagt Wakefield. "Und sie geben ihn klammheimlich an den Rand zurück, um ihn zu einem Läufer zu bringen, der sich auf eine sehr lässige Art und Weise davonschleichen und ihn dann eine Gasse hinunterspielen muss."
Ein berühmtes Tor wurde 2019 erzielt, weil der Spielerpulk erst zu spät bemerkte, dass er den Ball nicht hatte. Von zwei meterweit entfernt stehenden Schülern verdeckt wurde der Ball einem Spieler zugespielt, der weitgehend ungehindert zweieinhalb Kilometer lief, bevor er das Tor erreichte. Ein Tor wird erzielt, wenn der Ball dreimal gegen einen der Mühlsteine am Stadtrand von Clifton oder Sturston geschlagen wird.
Torschützen vergleichen ihre Leistung mit dem Gewinn von olympischem Gold. Sie werden auf Schultern getragen und wie Helden gefeiert. Die Torschützen dürfen auch die Bälle behalten, diese werden neu bemalt und zu einem geschätzten Familienbesitz. "Stell dir vor, du spielst für Manchester United in ihrer Glanzzeit und stehst im Wembley-Pokalfinale. Du schießt das Siegestor. Du hast es geschafft", sagt Harrison.
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