Elena Semechin ist Schwimmerin, sammelt Gold in Serie, jetzt legt sie eine Babypause ein. Doch die Paralympics-Siegerin kämpft auch mit drohender kompletter Blindheit und gegen einen Hirntumor. Im Interview mit ntv.de spricht sie darüber, wie sie trotz der vielen Tiefschläge so positiv aufs Leben blickt, was sie sich geschworen hat, als sie als Elfjährige aus Kasachstan nach Deutschland kam - und sie richtet einen Appell an die Politik.

ntv.de: Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch! Sie haben vergangene Woche Ihre Schwangerschaft bekannt gegeben. Wie geht es Ihnen?

Elena Semechin: Mir geht es relativ gut. Die üblichen Symptome des ersten Trimesters lassen langsam nach. Noch sind sie nicht ganz weg, aber ich merke die Unterschiede und das gibt mir wieder mehr Kraft für meinen Alltag, für mein Business und für meinen Sport. Ich möchte natürlich weiterhin so gut es geht trainieren. Da bin ich jetzt wieder sehr positiv.

Was bedeutet die Schwangerschaft für Ihr Training und Ihren Alltag?

Allein schon die körperlichen Veränderungen sind für mich als Sportlerin erst einmal komisch. Sonst habe ich die Kontrolle über meinen Körper und weiß, was zu tun ist, wenn ich mal ein Kilogramm zu viel habe oder irgendwas nicht richtig sitzt. Aber bei der Schwangerschaft ist es nun mal so, dass sich der Körper verändert. Der Bauch wächst, daran muss ich mich noch gewöhnen. Aber so Stück für Stück klappt das inzwischen. Was ich unterschätzt habe, waren die ganzen Symptome. Ich dachte ja, das wird schon irgendwie, aber mit der Übelkeit hatte ich echt zu kämpfen. Und die Müdigkeit habe ich auch unterschätzt.

Als Sportlerin achten Sie sicherlich sehr bewusst auf Ihren Körper. Und haben ein sehr durchstrukturiertes Leben. Ist es eine Überwindung für Sie, jetzt alles einfach werden zu lassen?

Da waren zwei Seiten in mir. Einerseits weiß ich, dass es alles natürliche Prozesse sind, dass mein Körper sich total verändert, und ich habe mich ganz bewusst dazu entschlossen. Es ist schließlich ein absolutes Wunschkind. Als Sportlerin ist es generell immer schwierig, den richtigen Zeitpunkt dafür zu finden. Ich glaube, meine Sorgen und Gedanken liegen eher bei den fehlenden Strukturen im Leistungssport. Ich musste abwägen, ob ich es mir erlauben kann, schwanger zu werden. Gerade was die Finanzierungen angeht, die Unterstützung vom Verband, ob ich weiterhin im Kader bleibe. All diese Gedanken sind grundsätzlich eine Bremse zu sagen: Ich will Mutter werden. Man hat so viele Sorgen im Hinterkopf.

Sie sprechen die finanzielle Unsicherheit an. Wer als Angestellte Mutter wird, kann sich auf Gesetze und Regeln verlassen. Für Sie als Sportlerin ist das anders. Werden Sie jetzt nicht mehr unterstützt?

Die Frage ist: Nimmt der Verband meinen Antrag auf einen Sonderstatus an? Denn ich kann in diesem Jahr nicht bei der WM starten. Wir müssen aber beim Saisonhöhepunkt antreten, um unseren Kaderplatz zu sichern. Für dieses Jahr bin ich abgesichert, weil ich im vergangenen Jahr bei den Paralympics in Paris erfolgreich war. Für 2026 muss ich mir diesen neu erarbeiten. Doch unser Baby soll im September kommen, genau dann, wenn die WM in Singapur ist. Also muss jetzt der Verband entscheiden, ob ich einen Sonderstatus erhalte und weiter gefördert werde.

Zudem werden Sie von Sponsoren unterstützt. Es passiert öfter, dass Schwangere ihre Förderung verlieren - wie ist es bei Ihnen?

Leider hat sich ein Partner entschlossen, dass die Förderung pausiert. Das habe ich ehrlich gesagt nicht erwartet. Und dann stellt sich die Frage, wie ich mein Leben als Sportlerin weiter bestreiten kann, wenn das Kind da ist. Muss ich die Kosten selbst tragen, wenn ich eine Betreuung bei Wettkämpfen und Trainingslagern brauche? Diese Gedanken treiben mich um: Kann ich das körperlich, mental und finanziell stemmen?

Was wünschen Sie sich von der neuen Bundesregierung?

Durch die Olympischen Spiele und die Paralympics in Paris ist das Thema Sportförderung neu angefacht worden. Jetzt wird es einen Staatsminister für Sport und Ehrenamt geben. Es ist total wichtig, dass sich da etwas weiterentwickelt, wir brauchen mehr Unterstützung aus der Wirtschaft und der Politik. Als Leistungssportler sollte man abgesichert sein, zum Beispiel ein Versicherungspaket mitbekommen. Für Mütter müssen bessere Strukturen geschaffen werden. Für Leistungssportler sollte ein gewisses Grundeinkommen vorgesehen sein. Wir sind in so vielen Bereichen Vorbilder: Disziplin, Leistungsbereitschaft, Fairness, Gesundheit. Das muss mehr wertgeschätzt werden.

Sie haben Ihre Comeback-Pläne angesprochen. Welche Ziele haben Sie?

Ich möchte zurück an die Weltspitze. Ich möchte meinen Platz verteidigen und die Paralympics 2028 in Los Angeles sind nicht ausgeschlossen. Ich habe immer noch Bock drauf und bin motiviert. Als Mutter ist es dann noch mal eine neue Herausforderung - aber ich mag Herausforderungen. Davon habe ich ja schon einige in meinem Leben gemeistert.

Das stimmt: Sie sind im Sommer 2021 erstmals Paralympics-Siegerin geworden, wenige Monate später erhielten Sie die Diagnose Hirntumor. Dann haben Sie geheiratet, bevor OP und lange Chemotherapie folgten. Ihr Comeback ist voll geglückt, auch in Paris haben Sie Gold geholt. Im Januar haben Sie Ihre Angst geteilt, womöglich komplett zu erblinden, jetzt sind Sie schwanger. Das ist ein heftiges Auf und Ab.

Bei mir im Leben wird es nicht langweilig. Eine meiner Eigenschaften ist, dass ich mich nicht lange mit Problemen herumschlage, nicht lange trauere oder mich frage, warum. Ich habe recht schnell verstanden, dass das Zeitverschwendung ist. Ich bin lösungsorientiert. Natürlich ist es traurig, dass ich vielleicht vollständig erblinde. Ich hoffe, dass ich die letzten zwei Prozent so lange behalte, wie es geht. Aber ich kann mich nicht vor der Realität verstecken. Ich möchte mich so gut es geht darauf vorbereiten, wenn es so weit ist.

Zwei Prozent Sehkraft - können Sie beschreiben, wie Sie die Welt sehen?

Ich sehe sehr, sehr unscharf. Die Makula, die im Auge für die Schärfe zuständig ist, ist bei mir komplett vernarbt und abgestorben. Ich habe noch ein paar funktionierende Inseln, die zum Beispiel für Farben oder Kontraste zuständig sind. Mein Sichtfeld ist sehr eingeschränkt, ich habe nur fleckenweise Bereiche, die noch funktionieren. Es ist nicht so, dass ich irgendwo einen schwarzen Punkt oder ein Loch im Bild habe, sondern mein Gehirn bastelt sich ein vollständiges Bild. Aber das ist sehr unscharf und konstruiert. Und ich muss mir aus verschiedensten Blickwinkeln eine Kulisse anschauen, damit sich in meinem Gehirn ein grobes Bild ergibt. Kleine Schriften oder Gesichter sind für mich sehr schwierig zu erkennen. Ich sehe hier und da Gelb oder Rot und Grün. Aber Cremefarben zum Beispiel sieht für mich überall gleich aus.

Gibt es noch Hoffnung für Sie, die komplette Erblindung aufzuhalten?

Das ist unklar. Ich habe Untersuchen an der Uniklinik Tübingen gemacht, dahin hat mich die Charité Berlin weitervermittelt. Dort gibt es Ansätze für Gentherapien. Sie sind spezialisiert darauf, Gene zu verändern, um vielleicht ein besseres Sehvermögen zu erreichen oder zumindest dafür zu sorgen, dass es sich nicht verschlechtert. Aber ich warte noch auf die Befunde und kann bislang nicht sagen, ob ein Therapieansatz für meine Erkrankung infrage kommt.

Neben Ihrer Augenerkrankung haben Sie im November 2021 die Diagnose Hirntumor erhalten. Sie haben sich davon nicht unterkriegen lassen, haben Operation und Chemotherapie durchgestanden. Wie ist Ihre Prognose?

Ich mache mir nicht dauerhaft darüber Gedanken. Das würde mich verrückt machen. Ich weiß, dass der Tumor wiederkommt, das haben mir die Ärzte gesagt. Aber auch da: Ich befasse mich damit, wenn es so weit ist.

Ihre positive Lebenseinstellung verbreiten Sie auch als Speakerin und bei Auftritten in Talkshows. Denn längst sind Sie über den Sport hinaus bekannt. Ist das etwas, was Sie sich immer für Ihr Leben vorgestellt haben?

Ich hatte schon immer eine blühende Fantasie und ein Stück weit Größenwahn in mir. Als ich nach Deutschland kam, habe ich gemerkt, wie viele Chancen mir gegeben werden. Das hatte ich in meiner Kindheit in Kasachstan und Russland nicht. Als ich aber bemerkt habe, was mir der Leistungssport für Perspektiven bietet, habe ich beschlossen: "Ich will das Beste draus machen. Wenn, dann auch richtig." Für mich war von Anfang an klar: Ich möchte an die Weltspitze. Ich möchte die Beste sein, wenn ich mit dem Schwimmsport anfange. Und ich habe ja erst mit 13 Jahren schwimmen gelernt. Aber nicht nur das Schwimmen an sich hat mich motiviert, sondern das Leben drumherum. Dass ich Vorbild sein kann. Ich habe sehr, sehr viel Zeit verloren, mich so zu akzeptieren, wie ich bin mit meiner Behinderung. Deshalb möchte ich anderen Menschen vermitteln, dass es Zeitverschwendung ist, sich zu fragen "Warum hat es mich erwischt? Warum bin ich denn nicht so wie andere Menschen?" Es bringt nichts, sich das zu fragen, sondern man muss das Beste daraus machen. Erst recht nach der Krebs-Diagnose. Natürlich ist es nichts Gutes, wenn man Krebs hat. Aber ich kann meine Erfahrungen mit anderen Menschen teilen und ihnen das Gefühl geben, dass sie nicht alleine sind. Und das gibt mir wiederum Kraft. Dafür bin ich sehr dankbar.

Was würden Sie der kleinen Elena mit auf den Weg geben, die einst ins völlig fremde Deutschland kam?

Ich würde sagen: "Elena, du hast nun mal diese Augenerkrankung und bist anders als die anderen in deiner Klasse, deiner Schule, deiner Umgebung. Sieh es als etwas Positives. Du bist etwas Besonderes, du fällst auf. Mach das zu deiner Stärke." Wenn mir das damals jemand gesagt hätte, der auch betroffen ist, hätte mir das viel Kraft gegeben und Zeit gespart, in der ich lange mit mir gehadert habe.

Am heutigen Samstag findet die Gala zum Parasportler des Jahres statt, Sie sind die Favoritin für die Auszeichnung. Ist das auch eine Auszeichnung für Sie in Ihrer Vorbildfunktion?

In erster Linie ist es für mich eine große Wertschätzung. Jede Ehrung ist besonders. Auf die Gala in Bonn freue ich mich, weil es schon einige Monate her ist, dass wir in Paris gestartet sind. Wir können die Rückblicke genießen und in Erinnerungen schwelgen. Wer am Ende gewinnt? Mal sehen. Verdient hätten es alle, die nominiert sind.

Mit Elena Semechin sprach Anja Rau

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