Keiner wusste, wie viel alkoholfreies Bier oder Wasser es braucht, bis es läuft. Also warteten zahlreiche Reporter in den Katakomben des Münchner Stadions bis weit nach Mitternacht, ehe Thomas Müller endlich kam. Die Doping-Kontrolle nach dem 1:2 (0:1) gegen Inter Mailand im Hinspiel des Viertelfinals der Champions League war zeitaufwendig gewesen.

Mit einem Stück Pizza und seinem eigenen Protein-Shake „Ready“ in den Händen kam Müller schließlich aus der Kabine. Was fühlt er gerade? „Eine gewisse Enttäuschung, aber auch Zuversicht“, antwortete Müller auf dem Weg Richtung Stadionausgang. Von einer Kapitulation gegen die enorm abgezockten Fußball-Profis von Inter Mailand war der 35-Jährige ganz weit entfernt.

„Wir haben jetzt ein Tor Unterschied. Das ist im Fußball gar nichts. Das ist eine Aktion“, sagte Müller in einer Mischung aus Entschlossenheit und Trotz. Er hofft, dass seine Champions-League-Reise im Bayern-Trikot am kommenden Mittwoch in legendären Stadion San Siro nicht endet, 45 Tage vor der ersehnten Teilnahme am „Finale dahoam“ in der Münchner Arena, seinem Fußball-Wohnzimmer.

Beinahe wäre es am Dienstag doch noch ein Thomas-Müller-Abend geworden. Vincent Kompany setzte nach dem Ausfall von Offensivstar Jamal Musiala überraschend nicht auf die Erfahrung des zweimaligen Champions-League-Gewinners, der 38-jährige Trainer brachte stattdessen Raphaël Guerreiro auf der Zehner-Position in der zentralen Offensive. Ein Fehler.

Müller hätte dem ausverkauftem Stadion und seiner Mannschaft sehr wahrscheinlich eine ganz andere Energie gegeben. Das war drei Tage nach der Verkündung seines Aus als Bayern-Spieler im kommenden Sommer zu spüren. Bei der Verlesung der Aufstellung vor dem Spiel – und bei Müllers Einwechslung.

Kompany erklärt Bayern Münchens Startelf ohne Müller

Viele Experten und Fans finden, dass Müller viel zu spät in die Partie kam. Und Kompany auch deshalb das Spiel vercoacht hat. Als Müller in der 75. Minute das Spielfeld betrat, war es enorm laut im Stadion, die Fans feierten ihn. Diese Energie übertrug sich auf die Mannschaft, Müller stand goldrichtig und traf in der 85. Spielminute zum 1:1. Er jubelte in Richtung VIP- und Ehrentribüne, auf der die Familien und die Vereinsbosse saßen, dann in Richtung Südkurve. Abschließend machte er mit dem Finger noch eine Kussbewegung – ebenfalls in die Richtung der Haupttribüne.

Was hatte es damit auf sich, wollte ein Reporter von Müller wissen. Die Antwort des Weltmeisters: „Bei mir ist es meistens so, dass – egal, ob nach einem Tor oder auch so im Spiel – meine Finger und mein ganzer Körper in die verschiedensten Richtungen zeigen. Ich habe da nicht die absolute Kontrolle drüber. Und was mir durch den Kopf gegangen ist? Die Schilddrüse hat geackert wie blöd und irgendwas ausgeschüttet, ansonsten habe ich nicht viel nachgedacht, ehrlich gesagt.“

Hätte den Bayern nach Müllers 1:1 nicht die Cleverness gefehlt, hätte der Abend mit einem Unentschieden geendet.

Müller reagierte professionell auf die Startelf-Entscheidung des Trainers. Er wollte auf keinen Fall seine Person und seine nach dem verkündeten Bayern-Abschied zum Saisonende besondere Situation zu sehr in den Fokus rücken. „Wichtig ist, dass ich das ausstrahle, dass es um das große Ganze geht“, sagte er. „Jeder spielt gern, trotzdem braucht es auch Spieler, die reinkommen und dann spielen, entscheiden oder nochmal mitlenken in die richtige Richtung. Jeder hat seine Rolle, die legt der Trainer vor jedem Spiel neu fest und das macht er mit dem besten Wissen und Bewusstsein.“

Und weiter: „Meine Rolle in der ganzen Saison war ja nicht das, dass der Kader um mich herum aufgebaut wurde, sondern ich habe immer versucht, die Mannschaft zu unterstützen, egal mit wie vielen Minuten. Natürlich stehe ich gern auch für einen Startelf-Einsatz zur Verfügung, das macht aber jeder Spieler bei uns gern.“

Müller bewies Dienstagabend wieder mal, dass er seiner Mannschaft immer noch viel geben kann. „Er hat natürlich mit diesem Tor einen guten Moment für uns gebracht“, sagte Kompany nach dem Abpfiff.

Warum brachte er Müller nicht von Anfang an? „Jede Entscheidung, die getroffen wird, war rein fußballerisch“, so der Trainer. „Natürlich wissen wir, dass Thomas für uns immer eine wichtige Rolle spielt. In diesem Moment kommt er rein und schießt dieses Tor.“

Sportvorstand Max Eberl kam ebenfalls in der Nacht zu Mittwoch aus dem Kabinentrakt des Stadions. Und wurde natürlich auf die Entscheidung Kompanys angesprochen. „Es ist am entscheidend, was der Trainer für ein Gefühl hat, und ich glaube, dass die Entscheidung eine gute war“, sagte Eberl. „Wenn man jetzt verliert, kannst du sagen, hätte, hätte. Das hätte gibt es im Fußball nicht. Rapha hat in dem Spiel gegen Bochum, wo er als Zehn gespielt hat, ein sehr, sehr ordentliches Spiel gemacht. Die Idee hatte Vinni eben auch gerade gegen dieses Mittelfeld, was bei Inter ja auch eine gewisse Aktivität nach vorn hat, da eben einen Mittelfeldspieler mehr zu haben. Das war die Entscheidung – und die war jetzt nicht verkehrt.“

Müller hat noch viel vor in seinen letzten Wochen als Bayern-Profi. „Ich bin hier nicht auf einer Farewell-Tour“, sagte er nach der Partie gegen Inter bestimmt. Es fühle sich absolut nicht so an, „als wenn ich auf einer Abschiedstour bin. Wir sind mitten im Geschäft.“

Mittwoch Rückspiel gegen Inter Mailand

Dienstag fliegen die Bayern nach Mailand, wo Mittwoch (21 Uhr, im Sport-Ticker der WELT) das Rückspiel des Viertelfinals steigt. Als Müller sich nach diesem besonderen Fußballabend in München mit dem Stück Pizza auf den Weg Richtung nach Hause macht, gab er die Marschroute für das Rückspiel aus: „Volle Kraft voraus!“

Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Er war gegen Inter Mailand im Stadion.

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