Die ARD hat am Montagabend ihre im Vorfeld viel diskutierte Sendung „Die 100 – was Deutschland bewegt“ ausgestrahlt. Zuvor im Programm stand die Doku „Wie zerrissen ist Deutschland? Der Streit um Werte, Meinung und Macht“, der Tonfall war also gesetzt. „Die 100 ...“ betitelte der Sender selbst mit: „Ist Deutschland zu woke?“

In der Sendung ging es dann um Gender-Sternchen, indigene Kostüme oder Cancel Culture – „Themen, über die sich viele Gemüter seit Jahren zielsicher aufregen“ wie es das Erste vorher angepriesen hatte, was dann in der Ankündigung auch so zu lesen war: „Über wenig wird am Stammtisch und in politischen Feuilletons so erbittert gestritten wie über Politische Korrektheit, Identitätsfragen und ,Wokeness‘. Die 100 (es war ein bunt zusammengemischter Haufen aus der Bevölkerung, die Redaktion) werden ohne erhobenen Zeigefinger über Pro und Contra aufgeklärt und stimmen mit ihren Füßen ab, was überzeugt und was nicht.“

In der Praxis sah das dann so aus, dass die ARD mit ihren Moderatoren Thesen und Argumente vortrug und sich die Hundert auf die eine (stimme zu) oder andere Seite (stimme nicht zu) stellen konnten, ein bisschen wie bei der einstigen Kindersendung „1, 2 oder 3“ mit Michael Schanze aus den 70ern, bloß ohne: „Ob du recht hast oder nicht, sagt dir gleich das Licht.“

„Ich habe beim FC Bayern den dümmsten Chor der Welt dirigiert“, sagte Hartwig

ARD-Mann Ralph Caspers lieferte irgendwann dann das Argument: Politische Korrektheit schützt Minderheiten. „Um das mal ein bisschen anschaulicher zu machen“, sagte er, „haben wir hier einen Taktstock, einen Dirigentenstab. Denn wir haben einen ganz berühmten Dirigenten eingeladen. Herzlich willkommen: Jimmy Hartwig.“

Es kommt also ins Studio: Jimmy Hartwig. 71, Experte bei WELT TV, ehemaliger deutscher Nationalspieler, eine Legende beim Bundesligisten HSV. Dreimal wurde er mit dem Klub Deutscher Meister und 1983 auch Europapokalsieger der Landesmeister. Hartwigs Auftritt, es sollte ein emotionaler werden.

Warmer Applaus, huldvolles Gejohle, Hartwig verneigt sich zweimal mit Dankesgeste. „Du warst natürlich kein Dirigent, sondern einer der erfolgreichsten Mittelfeldspieler in den 1980er-Jahren“, sagte Caspers, „trotzdem hast du was mit diesem Dirigentenstab zu tun. Kannst du erzählen, was das war?“

Ja, sagte Hartwig, nimmt den Stab und erklärte. Es geschah in einem Duell beim FC Bayern 1982, 29. Spieltag, in der Partie legte der HSV durch das 4:3 den Grundstein für die deutsche Meisterschaft. Er schoss damals den Ausgleich zum 1:1. Im Stadion, berichtete Hartwig, seine Stimme brach in dem Moment, habe er dann den „dümmsten Chor der Welt dirigiert“. Ein paar etliche tausend Zuschauer skandierten „Hartwig, du Negerschwein.“ Und er stand vor ihnen, tapfer, unbeugsam, die Hände gaben den Takt vor.

Das sei „schlimm gewesen. Das ist schlimm. Das ist grausam. Es ist grausam, wenn ein Mensch, nur weil er ein bisschen anders aussieht, beleidigt wird. Das ist das Schlimmste auf der Welt, was es gibt. Und deswegen kämpfe ich schon seit Jahren dagegen an.“ Er war in diesem Moment den Tränen nahe.

Harwtig wuchs in Offenbach auf. Die Mutter Deutsche, der Vater US-Soldat. „Afroamerikaner“, wie Hartwig in der Sendung sagte. Seine Mutter sei „das Beste, was ich in meinem Leben hatte“, dann, als er weitererzählt, fließen bei ihm die ersten Tränen. Er kommt auf seinen Großvater zu sprechen. Der habe ihn aufgrund seiner Hautfarbe mehrfach geschlagen. „Er war Nazi“, sagte Hartwig, den in diesem Moment endgültig die Emotionen übermannten, „ein bekennender, dreckiger, verfluchter Nazi. Und ich leide heute noch. Ich merke noch die Schläge. Mit 71 Jahren merke ich die Schläge, die ich mein ganzes Leben lang bekommen habe.“

Das Schlimmste, sagte Hartwig, „das sind ja nicht die Schläge, sondern dass keiner versucht hat, mich zu verstehen. Warum ist der Jimmy Hartwig so, wie er ist? Wieso hat Jimmy Hartwig eine große Klappe? Weil ich eine große Klappe habe, um mich verbal zu verteidigen. Und nicht mit Gewalt, weil Gewalt bringt nichts. Nichts. Nichts. Nichts.“

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Wie es denn jetzt sei, will der Moderator wissen, ob sich etwas verändert habe. „Ralph“, sagt Hartwig, „es hat sich nichts verändert.“ Er schildert einen Vorfall beim Bundesliga-Spiel zwischen dem HSV und Augsburg. „Es gab einen dunkelhäutigen Spieler. Dann sagt ein Zuschauer hinter mir: ‚Schau mal, Jimmy, der ist ja viel schwärzer als du.‘ Was ist das für ein Idiot? Was hat das mit der Hautfarbe zu tun? Schwärzer als ich? Was ist denn das für ein Bullshit?“ Hartwig musste sich wieder die Tränen wegwischen.

Der Moderator dankte ihm für seine Offenheit, wollte ihn schon verabschieden, doch Hartwig hatte noch eine Botschaft. Er habe eine Bitte, sagte er und wandte sich an das Publikum: „Wir haben die Weihnachtszeit, alle sind besinnlich, soll auch so sein. Aber das Wichtigste ist: Respekt, Augenhöhe und mit den Mitmenschen so umzugehen, wie sie es verdienen. Das ist für mich Weihnachten. Frohe Weihnachten.“

Hartwig trat ab, wieder warmer Applaus und Moderator Caspers sagte: „Das kann einen nicht kaltlassen, wenn man so etwas erzählt bekommt. Woke heißt: In hohem Maß politisch wach und engagiert gegen insbesondere rassistische, sexistische, soziale Diskriminierung.“

Im Interview mit WELT ist Hartwig einst ins Detail gegangen, wie das Zusammenleben mit seinem Großvater sich seinerzeit abgespielt hatte. Sein Vater sei nie da gewesen, seine Mutter habe von morgens bis spätabends geschuftet, um die Familie durchzubringen. Er sei mehr oder weniger bei seinen Großeltern aufgewachsen, aber auch das sei schwierig gewesen, hatte Hartwig damals berichtet: „Mein Opa hat es oft ausgenutzt, dem Bastard zu zeigen, dass er nicht in diese Welt gehört. Er war ein Nazi, und dann kommt seine Tochter nach Hause und sagt: ,Ich bin schwanger von einem Dunkelhäutigen.‘ Ich durfte auch nicht zu Hause auf die Welt kommen, sondern meine Mutter musste zum Nachbarn rüber und dort entbinden.“

Sein Opa habe es so gewollt: „Der hätte mir vermutlich am liebsten gleich ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Die Erinnerungen daran wühlen mich noch immer auf. Später als Erwachsener war ich einige Male selbstmordgefährdet und musste einen Psychologen aufsuchen. Meine Mutter hat aber stets zu mir gestanden und gesagt: ,Geh deinen Weg, er wird steinig werden, aber geh ihn.‘“

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