Angst verspüre sie keine, wenn sie sich im Vollsprint bäuchlings auf den Schlitten wirft, um dann mit bis zu Tempo 140 durch den Eiskanal zu brettern, sagt Viktoria Hansova. Sie genieße die Fahrt und den Geschwindigkeitsrausch auf dem Schlitten. „Wieder“, fügt sie an. Der Spaß und die Leidenschaft für ihren Sport waren der Skeleton-Pilotin in diesem Herbst zeitweise gründlich vergangen. Die Junioren-Weltmeisterin von 2024 wird nicht an den Olympischen Spielen im kommenden Februar in Mailand und Cortina d‘Ampezzo teilnehmen – auch wegen einer umstrittenen Gewichtsregel in der Hochgeschwindigkeitssportart, die ihr das Leben als Sportlerin schwer macht. Statt beim Höhepunkt des Wintersports anzutreten, absolviert die 21-Jährige in dieser Saison Rennen im Europacup, um weiter Erfahrung und Wettkampfhärte zu sammeln.
WELT AM SONNTAG: Frau Hansova, Gewichtsbeschränkungen kennt man meist nur aus Kampfsportarten. Gibt es auch im Skeleton Gewichtsklassen?
Viktoria Hansova: Gewichtsklassen gibt es bei uns nicht – aber ein klares Maximalgewicht. Gemeinsam mit dem Schlitten dürfen Männer bis 120 Kilogramm, Frauen bis 102 kg auf die Waage bringen. Das ist die Grenze, die bei uns zählt. Leider zählt, muss ich sagen.
WAMS: Warum leider?
Hansova: Weil das Limit nicht für alle Körper gleich fair ist. Unsere Schlitten liegen je nach Set-up irgendwo zwischen 29 und 37 kg. Ein wenig kann man da steuern – aber Gewicht am Schlitten ist grundsätzlich hilfreich. Heißt: Wer leichter ist, kann dem Schlitten mehr „Spielraum“ geben. Und für mich als größere Athletin wird dieser Spielraum schnell eng.
WAMS: Bleiben also um die 70 Kilo Körpergewicht, um nicht disqualifiziert zu werden.
Hansova: Genau. Wenn der Schlitten – je nach Material – sein Gewicht hat, bleiben für mich um die 70 kg Körpergewicht, damit ich nicht drüberkomme.
WAMS: Sie sind 1,78 Meter groß. Ist das wegen der Gewichtsregel problematisch?
Hansova: Ja. 1,78 Meter sind im Skeleton bei den Frauen eher groß – und durch die Regel wird Größe plötzlich zum Nachteil. Ich hatte früher nie Gewichtsthemen, aber ich baue sehr schnell Muskulatur auf. Und Muskulatur ist nun mal Gewicht.
WAMS: Aber eine gut ausgebildete Muskulatur ist doch unabdingbar in einem Sport, in der bei Tempo 140 im Eiskanal jeder Mangel an Stabilität fatale Folgen haben kann ...
Hansova: Absolut. Im Sommer trainieren wir wie Sprinterinnen: Start, Explosivität, Beine – das ist zentral. Und auch während der Fahrt wirken hohe Kräfte auf den Oberkörper. Eine stabile, gut trainierte Muskulatur hilft enorm, die Balance zu halten und clean zu fahren.
WAMS: Ihnen hat Ihre Muskulatur aber geschadet – regeltechnisch zumindest.
Hansova: Leider ja – rein durch die Waage, nicht durch die Leistung. Ich kam aus dem Sommertraining mit deutlich mehr Kraft. Mein Gewicht ist von ca. 71 kg auf fast 76 kg gestiegen. In Lillehammer – da waren Qualifikationsrennen für den Weltcup und die Olympischen Spiele – lag ich dann mit Schlitten bei 106 kg. Das wäre über dem Limit gewesen.
WAMS: Was vier Kilogramm zu viel gewesen wäre und zur Disqualifikation geführt hätte. Was haben Sie gemacht?
Hansova: Ich habe mich in der Woche vor dem Rennen fast nur noch mit einem Gedanken beschäftigt: „Wie komme ich unter die Grenze?“ Einen Tag vor dem Wettkampf hatte ich noch zweieinhalb Kilo zu viel – und da ist aus Stress schnell Druck geworden.
WAMS: Mit welchen Folgen?
Hansova: Ich habe angefangen, sehr ungesund zu handeln: kaum noch gegessen, heiß geduscht, mich eingepackt, um Flüssigkeit zu verlieren – alles, um kurzfristig Gewicht zu sparen. Unser Wettkampf war früh am Morgen. Ich bin um vier Uhr aufgestanden und joggen gegangen, ohne Frühstück – nur Kaffee. Das ist keine Profivorbereitung, das ist reiner Ausnahmezustand.
WAMS: Keine guten Voraussetzungen bei so einem wichtigen Wettkampf.
Hansova: Überhaupt nicht. Und das Gemeine ist: Du bist körperlich da – aber der Kopf ist nicht frei. Ich war nur am Rechnen und Hoffen, dass die Waage passt. In so einem Moment geht’s nicht mehr um Sport, sondern nur noch um jedes einzelne Gramm.
WAMS: Also war die Gewichtsreduzierung das bestimmende Thema und nicht die Überlegung, wie Sie beim Wettkampf erfolgreich sein können?
Hansova: Genau. Und das merkt man sofort. Ich war zittrig, kraftlos, meine Beine fühlten sich leer an. Und dann passieren diese absurden Gedanken, weil man verzweifelt nach „Einsparpotenzial“ sucht. Plötzlich denkst du: „Was wiegt eigentlich mein Sport-BH?“ Spoiler: Offenbar genug, dass ich ihn kurz vor dem Start ausgezogen habe. Ich habe sogar überlegt, mir die Haare abzuschneiden. Das klingt lustig, ist aber im Kern ziemlich erschreckend.
WAMS: Das stimmt leider.
Hansova: Ja. Wenn du in kurzer Zeit mehrere Kilogramm verlieren musst, gerätst du in eine Spirale. Ich verstehe sehr gut, wie Athletinnen in Richtung Essstörung rutschen können – zum Beispiel in Gedanken wie „essen und danach erbrechen“. Ich habe das zum Glück nicht getan, aber allein, dass solche Gedanken in einem Profisport-Setting überhaupt auftauchen, zeigt: Das System setzt falsche Reize.
WAMS: Haben Sie das Gewichtslimit denn erreicht?
Hansova: Ja, ich hatte am Ende genau 102 kg – also haarscharf im Limit. Das war allerdings auch das einzig Positive.
WAMS: Wie lief dann das Rennen unter diesen absurden Voraussetzungen?
Hansova: Die Fahrt war nicht gut, weil ich einfach leer war und mental nicht bei mir. Danach haben wir am Schlitten noch Kleinigkeiten angepasst, aber im Grunde war klar: So kann ich nicht dauerhaft arbeiten.
WAMS: Hat die Gewichtsregel Ihre Olympia-Teilnahme für die Winterspiele 2026 verhindert?
Hansova: Ich glaube, sie hat mir zumindest eine realistische Chance genommen. Ich war im Training in Topform, war schneller als je zuvor und hatte persönliche Bestzeiten im Sprint. Im Skeleton entscheiden am Ende Kleinigkeiten – und dafür brauchst du einen freien Kopf. Wenn du ausgelaugt an die Bahn kommst und gedanklich nur bei der Waage bist, ist das keine faire Ausgangslage.
WAMS: Die Olympischen Winterspiele sind traditionell der Höhepunkt Ihrer Sportart. Ist die Gewichtsregel auch vor diesem Hintergrund aus Ihrer Sicht gerecht?
Hansova: Aus meiner Sicht: nein. Ich bin normalgewichtig und im Leistungssport in einem völlig gesunden Bereich. Trotzdem werde ich durch eine fixe Zahl in dieselbe Kategorie gepresst wie Athletinnen, die 1,60 Meter groß sind. Das Ergebnis ist, dass du permanent in Zahlen denkst: „Wenn ich das esse, bin ich vielleicht drüber.“ Dabei sollte es im Skeleton um Timing, Technik, Mut, Präzision gehen – nicht um Küchenwaagen-Mathe. Es gibt Situationen, in denen nach dem ersten Lauf genau geschaut wird, wer nahe am Limit ist. Dann wird sogar diskutiert, ob jemand zwischen den Läufen zu viel trinkt – im Zweifel wird noch mal gewogen. Das führt dazu, dass man sich ernsthaft fragen muss, ob man zwischen zwei Läufen einen Schluck Wasser trinkt. Das ist sportlich gesehen absurd.
WAMS: In der Tat. Was wäre eine adäquate Lösung?
Hansova: Ich fände eine Anpassung der Regel sinnvoll – vor allem mit Blick auf Gesundheit und Fairness. Wenn das politisch nicht durchsetzbar ist, wäre zumindest eine Kategorisierung nach Körpergröße ein Schritt. Denn Skeleton ist nicht nur „Gewicht“, sondern auch Aerodynamik und Positionierung. Pauschale Limits treffen verschiedene Körper schlicht unterschiedlich hart – und der psychische Druck ist bei den Athletinnen enorm.
WAMS: Warum?
Hansova: Weil bei uns Frauen zusätzlich der Zyklus Einfluss hat. In bestimmten Phasen – gerade rund um die Periode – habe ich Wassereinlagerungen und bin automatisch schwerer. Dann machst du Lymphdrainagen, planst Essen und Trinken noch strenger – und plötzlich fühlt sich ein völlig normaler, gesunder Körperprozess wie ein „Problem“ an. Das ist mental wirklich belastend.
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