Ein Rausch kann erhebend sein, ein Schweben, leicht und luftig, und da ist zugleich das Verlangen, dieser Trip möge bitte nie, nie zu Ende gehen. So muss sich der Montagabend angefühlt haben für die Spieler der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Das ließ sich aus ihren Worten schließen, die sie in die Mikrophone sprachen in Leipzig, nachdem der Schiedsrichter – gemeinerweise, ohne eine einzige Sekunde nachspielen zu lassen – die Partie gegen die Slowakei abgepfiffen hatte. Wie gern hätten sie einige Minuten weitergemacht, denn dann wäre wohl aus dem 6:0 ein 7:0, 8:0 oder 9:0 geworden. Mindestens.
"Wenn wir so spielen, können wir Großes erreichen", sagte etwa Serge Gnabry, Schütze des 2:0, und Abwehrchef Nico Schlotterbeck meinte: "Wir können jeden schlagen. Ich will zur WM fahren, um das Ding zu gewinnen."
Ein Sieg, der die Sinne vernebelt
Gnabry und Schlotterbeck besaßen jedes Recht, höchste Ziele auszurufen und zu schwören, dass sie nichts und niemand fürchten, schließlich hatten sie gerade beim besten Spiel in der Amtszeit von Bundestrainer Julian Nagelsmann mitgewirkt. Und doch zeigten ihre Worte, dass so ein Rausch auch die Sinne vernebeln kann. Denn diese Nationalmannschaft, die mit dem Kantersieg gegen die Slowakei die Qualifikation für die WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko geschafft hat, ist dieselbe, die sich nur drei Tage zuvor gegen das kleine Luxemburg gequält und eine der schlechtesten Halbzeiten in der Ära Nagelsmann geboten hatte.

Das Beste aus 2024 Haben Sie sich Ihrer Tränen geschämt, Julian Nagelsmann?
Es war ein verstörend brillantes Spiel, das die Deutschen zum Abschluss des Länderspieljahres zeigten. Ein Spiel, das offenbarte, wie wankelmütig das DFB-Team noch ist. In seinen manischen Phasen spielt es einen Fußball, der zum besten in Europa gehört; schnell, schwungvoll, technisch hochklassig. Umgekehrt führen die depressiven Episoden mitunter in Tiefen, die so abgründig sind wie der Marianengraben im Pazifischen Ozean.
Die deutsche Nationalmannschaft hat noch keine Mitte, sie pendelt zwischen Extremen, manchmal sogar innerhalb eines Spiels. Im März etwa führte sie Italien im Nations League-Viertelfinale vor. 3:0 hieß es zur Halbzeit in Dortmund; Italien wirkte wie ein Zwerg, kaum zu glauben, dass diese Mannschaft 2021 Europameister geworden war. Aber dann, die zweite Halbzeit: Ein einziger Sturmlauf der Italiener, Ausgleich zum 3:3, die Deutschen wie paralysiert, jederzeit bereit, auch noch das 3:4 zu kassieren. Da steckten sie plötzlich wieder tief in ihrem Marianengraben.
Julian Nagelmann wollte nach dem Slowakei-Spiel nicht dabei helfen, seine Mannschaft zu enträtseln. Es gebe Spiele, "bei den läuft es besser, und es gibt Spiele, da läuft es schlechter", sagte Nagelsmann in der mitternächtlichen Pressekonferenz. Thema abgeräumt. Eine öffentliche Qualitätsdiskussion kann er gerade nicht gebrauchen.
Nagelsmann setzt auf die Kraft des Momentums

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Wie kein Bundestrainer vor ihm setzt Nagelsmann auf die Kraft des sogenannten Momentums. Auf die Dynamiken, die rational kaum zu erklären sind. Wenn es läuft, dann läuft es, und Nagelsmann ist ein Meister darin, solche Strömungen zu konservieren. Die Aufbruchstimmung, die nach der gelungenen Heim-EM 2024 herrschte, vermochte er bis ins Frühjahr des darauffolgenden Jahres lebendig zu halten. Nagelsmann lud zu Lehrgängen in Herzogenaurach ein, wo die Mannschaft schon während der EM ihr Quartier hatte. Nach Torerfolgen in Länderspielen wurde selbstverständlich "Major Tom" gespielt, wie zu EM-Zeiten. Alles sollte an jenen Sommer erinnern, in der sich das Land erstmals seit der trüben Hansi Flick-Ära und den späten Joachim Löw-Jahren wieder hinter seiner Nationalmannschaft versammelte.
Man konnte das Beschwören des EM-Geistes für Esoterik halten, für Aberglauben gar, doch nach der nun geglückten WM-Qualifikation muss man feststellen, dass Nagelsmann schon früh Seele und Temperament seiner Mannschaft erkannt hat. Das Team verfügt noch über kein spielerisches Gerüst, auf dass es sich verlässlich stützen könnte. Es lebt vom Momentum, vom Genie Einzelner, die eine gesamte Mannschaft mitreißen können. So wie Leroy Sané am Montag gegen die Slowakei.
Leroy Sané beflügelt das gesamte DFB-Team
Nagelsmann hatte Sané überraschend für die letzten beiden WM-Qualifikationsspiele nominiert, nachdem er sich im Oktober gegen den Flügelstürmer entschieden hatte. Nagelsmann sah damals Sanés Wechsel vom FC Bayern zu Galatasaray Istanbul mit Sorge; das Niveau der türkischen Süperlig hielt er für nicht herausfordernd genug für einen deutschen A-Nationalspieler. Nagelsmann wurde für seine sprunghafte Personalpolitik stark kritisiert, zumal er Sané kurz vor dessen Comeback auch öffentlich anzählte ("allzu viele Chancen bekommt er nicht mehr bei mir").
Nagelsmann nahm die Kritik stoisch hin – und behielt mit seiner Entscheidung pro Sané Recht. Der 28 Jahre alte Angreifer erzielte gegen die Slowakei nicht nur zwei Tore, er bereitete auch einen Treffer vor und rieb sich in der Defensive auf, wie man es selten zuvor von diesem launischen Künstler gesehen hat. Sané war der Mann des Abends.
Der euphorisierende Sieg gegen die Slowakei und die damit einhergehende WM-Qualifikation sind vor allem eine Coaching-Leistung. Nagelsmann, dem zuletzt eine zu weiche Hand im Umgang mit seinen Spielern vom Boulevard vorgeworfen worden war, hatte seine Mannschaft perfekt auf die Partie vorbereitet. Sie zerbrach nicht unter dem Erwartungsdruck, sie wuchs daran.
Die größte Aufgabe steht Nagelsmann allerdings noch bevor. Bis zum nächsten Länderspiel im März sind es noch mehr als vier Monate. Das ist eine lange Zeit, in der sich der Geist von Leipzig leicht verflüchtigen kann. Nagelsmann wird tricksen müssen, damit er nicht in den Marianengraben abtaucht.
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