Der FC Schalke 04 lernt wieder fliegen. Nach zwei Niederlagen in Folge ringt das Team die spielstarke SV Elversberg nieder. Die Schalker können an diesem Samstag zwar nicht so viel mit dem Ball anfangen, aber sie glänzen dennoch.
In der 78. Minute flog in der Schalker Fußball-Arena fast das Dach weg. Der Fußballgott wurde vorstellig. Henning Matriciani, der einst den großen Rivalen Borussia Dortmund genüsslich aufgefressen hatte, betrat den Rasen und es wurde wahnsinnig laut. Die Einwechslung des 25-Jährigen war eines von drei Highlights im Spitzenspiel der 2. Fußball-Bundesliga zwischen dem FC Schalke 04 und der SV Elversberg. Das erste gab's schon nach vier Minuten, als der Innenverteidiger Hasan Kurucay die Führung (und den Endstand, 1:0) erzielt hatte. Das dritte folgte spät in der Nachspielzeit, als der bereits mit Gelb verwarnte Matriciani mutig in einen Zweikampf an der Mittellinie stürmte und den Ball ins Aus laufen ließ. Er hatte einen Konter verhindert, feierte diese Tat und Schalke bebte.
Schalke war wenige Momente später Tabellenführer der 2. Fußball-Bundesliga. Der SC Paderborn kann zwar an diesem Sonntag (13.30 Uhr beim 1. FC Magdeburg bei Sky und im Liveticker bei ntv.de) noch vorbeiziehen, aber das war den Gelsenkirchenern fürchterlich egal. Sie waren platt, leer, beseelt. Sie hatten diesen Kampf gegen die spielstarken Elversberger gewonnen und fielen sich in die Arme. Die Schalker hatten alles auf dem Platz gelassen, dabei weitgehend auf Fußball verzichtet und surrten wie ein Schwarm um ihre Gegner. Kaum mal eine Sekunde ließen sie die Gäste in Ruhe. Es wurde gepresst, gedrückt, gegrätscht wie verrückt. Gegen Schalke auf Schalke zu spielen, ist für jede Mannschaft unangenehm, widerlich. Weil sie einfach niemals aufhören zu kämpfen. Und weil sie diese vor Kraft strotzende Arena mit über 60.000 Zuschauern im Rücken haben.
Mitte der zweiten Halbzeit war es in dieser kurz leise geworden. Ein medizinischer Notfall sorgte für betretene Stimmung. Sanitäter brachten einen Fan auf einer Trage von der Tribüne. "Wir wünschen alles Gute", schrieb der FC Schalke auf X und verkündete wenig später: "Der Notarzteinsatz in der Südkurve ist beendet. Wir wünschen eine gute und vollständige Genesung!"
Sie rennen, bis sie nicht mehr können
Die Mannschaft hat die Herzen beim zerbrochenen und sich langsam wieder erhebenden Ruhrpott-Giganten erobert. Sie verkörpert das, was sie in Gelsenkirchen-Erle seit jeher heroisieren. Diese Mannschaft malocht bis zum Umfallen. Sie jagt den Ball mit einer diebischen Freude, die man sonst nur bei jungen Hundewelpen sieht. Am gegnerischen Strafraum fangen sie an und flitzen über den ganzen Platz, bis sie nicht mehr können. So wie Finn Porath, der in der 78. Minute völlig entkräftet und offenbar auch angeschlagen von einem Kopftreffer kurz nach Pause runtermusste und dem Fußballgott wich. So wie Mika Wallentowitz, der in der 94. Minute ausgewechselt wurde und dann eine kleine Ewigkeit brauchte, um zur Bank zurückzukehren. Der 17-Jährige stand zum ersten Mal in der Startelf und rannte wie ein wilder Stier alles in Grund und Boden. Jetzt schlich er.
Schalker Fußballspiele sind in dieser Saison auf faszinierende Weise mitreißend. Sie sind der Gegenentwurf zu dem, was der FC Bayern und Paris St. Germain veranstalten. Es ist kein Spektakel mit dem Ball, es ist ein reines Spektakel gegen den Ball. Trainer Miron Muslic hat in Gelsenkirchen etwas aufgebaut, was perfekt mit der Klub-Identität matcht. Die Fans haben sich schockverliebt in diese Mannschaft und diesen heißblütigen Trainer, der sie so sehr mitnimmt. Als Schiedsrichter Robin Braun abgepfiffen hatte, stand Muslic an der Mittellinie, pushte das Stadion hoch, ließ es lauter und lauter werden. Der Star ist die Mannschaft - das ist auf Schalke derzeit nicht mehr Programm. Der Star ist Muslic. Und sein Fußball lässt sie alle träumen.
Der Mythos erwacht auf Schalke
Für Minuten verlor sich Schalke in Gegenwart und Zukunft gleichermaßen. Kollektiv stürmten Spieler und Trainer auf die Nordkurve zu. Manche flogen sogar. Wohin der Flug geht? Man weiß es nicht. Wohin der Flug gehen soll? Zurück in die Fußball-Bundesliga. Diese Sehnsucht spürt der ganze Verein. Und in dieser Saison scheint plötzlich alles möglich. Niemand hatte das erwartet. Zu trist war die jüngere Vergangenheit gewesen, mit reichlich Horror-Szenarien gepflastert. In der vergangenen Spielzeit blickten sie nicht nur in den Höllenschlund 3. Liga, sie tanzten am Abgrund, phasenweise nur noch auf einem Bein. Und nun sind sie (vorübergehend) Tabellenführer.
In den Minuten nach Abpfiff konnte man leicht vergessen, dass gerade mal der zwölfte Spieltag hinter den Schalkern liegt. Aber sie genießen alles, was sie kriegen können. In dem garantierten Wissen, dass es auch wieder schlechter laufen wird, dass irgendwo eine Krise lauert. Nach zuvor zwei Niederlagen war diese zwar noch nicht (ganz) da, aber der Druck auf dem Kessel war größer geworden. Das Duell gegen Elversberg war auch eines, das über den Weg der Schalker bestimmt. Vielleicht feierten sie diesen Sieg auch deshalb so viel größer, als es eigentlich am zwölften Spieltag üblich gewesen wäre. Arm in Arm standen sie nun da, hörten und staunten. Selbst Torwart Loris Karius, der mit dem FC Liverpool schon das Champions-League-Finale gesehen und gespielt hat. Auch wenn einige gar nicht begriffen, was ihnen die dröhnende Nordkurve gesanglich entgegenschleuderte, so spürten sie alle, was hier passierte. Der Mythos Schalke war erwacht. Mit einer erlösenden Gewalt.
"Es ist für mich der vielleicht stolzeste Moment in den vergangenen fünf Monaten", sagte Trainer Muslic. "Wenn man bedenkt, wer uns alles nicht zur Verfügung stand, muss ich der Mannschaft ein riesengroßes Kompliment aussprechen. Die Jungs haben bis zum Schluss alles reingehauen und wegverteidigt - gegen eine Mannschaft, die im Ballbesitz überragend ist und Woche für Woche offensiv andere Teams dominiert."
Elversberg verzweifelt - und wie
Die erlösende Gewalt trug dieses Mal den Namen Hasan Kurucay. Der kantige Innenverteidiger war wegen einer Standardsituation mit nach vorne gekommen. Und plötzlich landete der Ball vor seinen Füßen. Gnadenlos schlug die Nummer vier in der vierten Minute zu. "Das passt ja wie Arsch auf Eimer", feierte der völlig enthemmte Stadionsprecher, während der Elversberger Trainer Vincent Wagner wie ein Rohrspatz schimpfte. Er hatte in einer Szene zuvor ein Foulspiel gesehen, anders als Schiedsrichter Braun. Es war passiert, was aus Sicht der Gäste nicht passieren durfte. Ein früher Rückstand, ein komplett heiß laufendes Stadion. Unangenehm, widerlich.
Elversberg bekam nach dem Treffer den Ball geschenkt. Schalke scherte sich nicht groß drum, das Spielgerät zu haben. Mitte der ersten Halbzeit wies die Statistik fast 75 Prozent Ballzeit für die Gäste aus. Die spielten schönen Fußball, befreiten sich bisweilen elegant von den nervtötenden Schalker Wespen (Pardon, für den schwarzgelben Vergleich). Amara Condé und Bambasé Conté kreierten viele sehenswerte Momente, aber eben kaum Gefahr. Sie suchten die Tiefe, aber fanden meist nur Schalker Beine. Oder Soufiane El-Faouzi, der königsblaue Sechser, spann auf dem ganzen Spielfeld Netze, in denen sich die Elversberger verfingen. Der kaum zu fangende 23-Jährige ist die Sensation des Teams und hat, als Neuzugang aus der 3. Liga, längst die Späher aus der Bundesliga angezogen.
Die Elversberger zappelten im Netz der Schalker Spinne und sie fanden keinen Weg heraus. Ganz egal, was sie auch versuchten. "Uns war vorher klar, dass 65 Prozent Ballbesitz nicht reichen werden", sagte Wagner. "Wir hätten wahrscheinlich 70 Prozent gebraucht, auch wenn sich das ambitioniert anhört. Wenn man hier etwas holen möchte, muss man irgendwas besonders gut machen." Zum Beispiel aufs Tor schießen. Das gelang nicht, oder nur aus dem Abseits heraus. Das machte Muslic besonders stolz. "Wir mussten heute leiden, das war klar. Den Kampf haben wir aber von Beginn an angenommen. Elversberg hatte keinen Schuss aufs Tor." Aber in der 96. Minute immerhin einen, der knapp über die Latte flog. Jarzinho Malanga hatte geschossen. Drei Minuten waren da noch zu spielen. Elversberg unternahm einen weiteren Anlauf aber prallte am Fußballgott ab. Schalke bebte.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke