Für Halloween hatte ich eigentlich nicht viel übrig. Als Zugereister aus dem tiefen Westen habe ich mich während 13 Jahren in Brandenburg aber an den in meiner Wohnsiedlung wohl wichtigsten Festtag im Jahr angepasst. Ich schmücke Haus und Vorgarten und spiele ab 16 Uhr gruselige Geräusche über meine auf dem Gartenhaus versteckte Bluetooth-Box ab. Mittlerweile mag ich sogar die Momente, wenn es an der Tür klingelt und das Licht der Hausbeleuchtung all die Hexen, Vampire und Freddy Krügers in Szene setzt. Jonathan, bist du das?
Von meiner Terrasse lausche ich kurzen Laufschritten und spitzen Schreien hinter der Hecke. An keinem anderen Tag ist hier so viel Begeisterung und Bewegung. Vergangenen Freitag war es wieder soweit, dass ich Zeuge des alljährlichen Wunders wurde. Denn dass die Kids sich überhaupt noch per pedes fortbewegen können, ist offenbar keineswegs selbstverständlich.
Schließlich vergeht kaum ein Jahr, ohne dass Weltgesundheitsorganisation (WHO), Krankenkassen und Behörden ob des physischen Zustands unserer Jugend Alarm schlagen: Zu faul, zu fett, zu Fortnite – so in etwa das vernichtende Urteil zahlreicher Studien. Zu viele Kinder – die Angaben schwanken über die Jahrzehnte zwischen zehn und 15 Prozent – sind übergewichtig, etwa die Hälfte davon adipös.
Womöglich liefert Halloween mit all den von Tür zu Tür flitzenden Jungs und Mädchen auch gar nicht den Gegenbeweis, sondern unterstreicht vielmehr die empirischen Ergebnisse. Schließlich bewegen sich unsere kleinen Dicken auch am Grusel-Abend ja nur so lange, bis ihre Beutel prall mit Süßigkeiten gefüllt sind.
Null Bock nur in der Politik
Meine persönliche Wahrnehmung ist eine andere. Ich habe drei Kinder im Alter von zwölf bis 19 Jahren, bin regelmäßig als Begleitperson bei schulischen Veranstaltungen dabei und würde behaupten, einen recht profunden Einblick in die Generation Z zu haben.
Gibt es zu viele übergewichtige Kinder? Auf jeden Fall. Würde man manch Roller fahrendem Junior gern den Wechsel aufs Fahrrad oder den Gang zu Fuß empfehlen? Unbedingt. Zumal er mit seinem XXL-Tetra-Pak Eistee ohnehin nur eine Hand am Lenker hat.
Was im Stadtbild aber auch regelmäßig zu sehen ist: Schulklassen auf der Laufbahn am Vormittag, volle Bolzplätze und Vereinssport am Nachmittag, Kunstrasen im Flutlicht am Abend. Eine generelle Null-Bock-Mentalität erkenne ich dagegen bei Politik und Behörden, die es einfach nicht hinbekommen (wollen?), dem akuten Sportstättenmangel mit Tatkraft nachzukommen.
Der Zustand unserer Jugend wird immer schlechter? Finde ich nicht.
Die Sachlage aber scheint eindeutig: Erst vor elf Monaten präsentierten die Universitäten Klagenfurt und Bayreuth das Ergebnis einer Langzeitstudie, wonach der Fitnesszustand von Kindern deutlich abgenommen habe. Die Wissenschaftler analysierten die im Rahmen von Sprüngen, Sprints, Ausdauerläufen, Medizinballwürfen, Reaktions- und Bewegungsschnelligkeitsübungen erzielten Ergebnisse von 3500 zehnjährigen Sportschülern.
Selbst die Geübten und eigentlich Fitten sind demnach dem Untergang geweiht. Für die breite und vor allem um die Hüften immer breiter werdende Masse gilt das ja schon lange. Und das unabhängig des Alters. Laut der Kaufmännischen Krankenkasse in Hannover (KKH) stieg die Anzahl adipöser Sechs- bis 18-Jähriger zwischen 2011 und 2021 um 33,5 Prozent. Bei den 15- bis 18-Jährigen sogar um 42,5 Prozent.
Vor fünfeinhalb Jahren warnte die WHO, dass sich 80 Prozent der Elf- bis 17-Jährigen nicht ausreichend bewegen. „Die Jugendlichen spielen lieber digital, statt in der analogen Welt aktiv zu sein“, kritisierte Leanne Riley, eine der Co-Autorinnen der Studie. Jedes zweite Unternehmen klage über mangelnde Disziplin und Belastbarkeit sowie fehlende Leistungsbereitschaft und Motivation, berichtete die Industrie- und Handelskammer im selben Jahr über den Zustand ihrer Auszubildenden.
Und noch einen Schritt zurück: „Kinder haben heute im Vergleich zur vorherigen Generation weniger Kraft und körperliche Geschicklichkeit“, sagte der Schulleiter eines Düsseldorfer Gymnasiums zu den besorgniserregenden Ergebnissen eines Bewegungstest, den die AOK, der Deutsche Sportbund und das Wissenschaftliche Institut der Ärzte Deutschlands im Jahr 2003 durchgeführt hatten. „Verglichen mit Daten von 1995, ist die körperliche Leistungsfähigkeit der 10- bis 14-Jährigen bei den Jungen um 20 Prozent und bei den Mädchen um 26 Prozent gesunken“, resümierte das Deutsche Ärzteblatt 2003.
All dies nur Auszüge aus einer langen Liste von Studien und Beobachtungen der vergangenen 25 Jahre. Der Tenor ist stets derselbe, die Sorgen auch. Wie sagte es Fußball-Bundestrainer Rudi Völler in seinem legendären TV-Interview nach einem 0:0 auf Island: „Ein Tiefpunkt, und noch mal ein Tiefpunkt, dann gibt es noch mal einen niederen Tiefpunkt.“ Es gibt zwar nur ein’ Rudi Völler, aber viele Tiefpunkte und eben noch viel mehr Studien, die uns die Apokalypse prognostizieren. Angesichts der Zahlen und düsterer Vorhersagen müssten wir eigentlich froh sein, dass Jugendliche überhaupt noch imstande sind, es ohne Rollator vor die Tür zu schaffen.
Schon Aristoteles verurteilte die junge Generation
Doch war die Jugend überhaupt je in einem Zustand, wie ihn sich die Alten wünschten? Wie hätten die Zehn- bis 17-Jährigen vor 150 Jahren bei Rückwärtslauf und Auf-einem-Bein-Hüpfen abgeschnitten? Oder vor 2350 Jahren? Fragen wir Aristoteles: „Ich habe überhaupt keine Hoffnung mehr in die Zukunft unseres Landes, wenn einmal unsere Jugend die Männer von morgen stellt. Unsere Jugend ist unerträglich, unverantwortlich und entsetzlich anzusehen“, schrieb er.
Die Erkenntnis ist uralt, neu war sie allerdings auch damals nicht. „Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“, ist dank einer babylonischen Tontafel aus der Zeit 1000 v. Chr. übermittelt.
Viel hat sich in der Bewertung seitdem ganz offensichtlich nicht getan, und beim Blick in die Klassenzimmer meiner Kinder habe ich stets meine eigene Klasse vor Augen. Der Streber, die Besserwisserin, der Klassenclown, der Typ, mit dem einfach jeder gut auskommt – alle da. Die Sportskanone, der Schönling, die Frühreife und das Rich Kid. So wie bei TKKG, nur in siebenfacher Stärke und ohne Hund.
Für das Fitnesslevel gilt im Klassenzimmer dasselbe. Früher wie heute gibt es einige Extreme (in beide Richtungen) und die breite Masse. Was sich geändert hat ist, dass – analog dem politischen Zeitgeist – die Mitte etwas an die Ränder verloren hat. Nach meiner Beobachtung allerdings vornehmlich auf die gute Seite.
Eiweiß-Shakes statt Fleisch
Das Bundeszentrum für Ernährung gab Ende 2024 frisches Unterrichtsmaterial für die Klassen acht bis zehn heraus. Demnach soll den Schülern in zwei Doppelstunden die Frage „High Protein – was steckt dahinter?“ beantwortet werden. Dazu gab es Arbeitsblätter, Materialkarten und Infografiken. Die Behörde bewies damit durchaus Realitätssinn, spiegelte sie doch die Dringlichkeit und das Interesse der Jugendlichen wider.
In meiner Jugend interessierte sich dagegen kaum jemand für Ernährung. Mehr als ein paar fragwürdige Faustregeln waren nicht drin: Teller aufessen (sonst schlechtes Wetter) und viel Fleisch konsumieren (groß und stark werden). Ich habe noch meinen Opa im Ohr, der mich maßregelte, wenn nicht spätestens meine zweite Abendbrotscheibe von einer (besser: zwei!) Wurstscheibe bedeckt war.
Ein Apfel am Tag bewahrte vor dem Arztbesuch, Karotten und Petersilie aß man für die Augen, und Spinat gab Muckis. Würde ich meinem 16 Jahre alten Sohn heute damit kommen, würde er mir ziemlich sicher mit einem müden Lächeln etwas von Aminosäuren erzählen und ein Referat über gute und schlechte Fettsäuren halten, während er in der Küche mal wieder eine Eierspeise zubereitet.
Viele meiner (männlichen) Freunde und ich haben damals abgesehen von Nudeln nie etwas gekocht, geschweige denn gegart, gedünstet oder geschwenkt. Von den 650 Muskeln meines Körpers kenne ich vielleicht zehn. Heute aber tauschen 15-jährige Jungs und Mädchen Low-Carb-Rezepte, diskutieren Proteine, trinken Eiweiß-Shakes und sprechen über Anatomie und Biochemie, als hätten sie vorgestern ihr Grundstudium in Medizin erfolgreich abgeschlossen.
Aktuelle Zahlen des Bundesministeriums für Landwirtschaft, Ernährung und Heimat stützen die Beobachtung. Demnach interessieren sich 90 Prozent der 15- bis 29-Jährigen in Deutschland für Ernährung – und setzen das auch in der Praxis um. Waren es zwischen 2014 und 2017 noch 32 Prozent der 14- bis 17-jährigen Mädchen und 61 Prozent der gleichaltrigen Jungen, die mehr als zweimal Fast Food pro Woche konsumierten, sind es jetzt nur noch zehn Prozent.
40 Prozent der Jugendlichen hinterfragen ihren Fleischkonsum, zwölf von 100 verzichten komplett darauf. Nur noch 23 Prozent essen täglich Fleisch oder Wurst. 2016 waren es noch 34 Prozent. Ebenfalls zurückgegangen ist der Konsum von zuckergesüßten Getränken. Die Jugend trinkt mehr Wasser.
Triebfeder Social Media
Und sie treibt Sport, 62 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen sogar mehrfach pro Woche. Wenn es auch nicht immer das ist, was ich darunter verstehe. Denn die meisten von ihnen gehen ins Gym.
Rund zwei Millionen der insgesamt knapp 12 Millionen Deutschen, die in einem Fitnessstudio angemeldet sind, sind jünger als 20 Jahre. Vor zwölf Jahren lag die Zahl noch bei 900.000. Und auch ihr Anteil ist gestiegen: von 9,4 Prozent im Jahr 2021 auf aktuell 16,7 Prozent. Die Branche hat die Nachfrage der neuen relevanten Zielgruppe längst vernommen, bietet Jugendfitness für Zehn- bis 14-Jährige oder spezielles Krafttraining für 15-Jährige. Studios werben mit „Crossfit Teens“ und speziellen Einsteigerrabatten für Minderjährige.
Die Wurzeln des Booms finden sich ausgerechnet dort, wo die Alten die Ursache für das Ende von Aktivität und Mobilität vermuten: in den Sozialen Netzwerken. Auf TikTok, Instagram und YouTube finden sich unter den Heerscharen von Fitness-Influencern zwar allerlei Scharlatane und noch mehr Halbwissen, aber eben auch jede Menge Inspiration, hilfreiche Trainingspläne und passende Rezepte.
Die digitale Welt diktiert dem Nachwuchs ein Schönheitsideal, wonach sich Attraktivität aus Fitness, Gesundheit und Leistungsfähigkeit ergibt. So wird Selbstoptimierung stimuliert und das nötige Handwerkszeug dafür gleich mitgeliefert. Der Körper als Statussymbol, gestählt und definiert, Ausweis von Disziplin, Schönheit und Stärke. Ob das wünschenswert ist, ist eine andere Frage. Aber faul und fett geht anders.
In einer Umfrage unter 5200 Deutschen aus dem Jahr 2022 bezeichneten sich etwa die Hälfte der 18- bis 24-Jährigen als sportlich, bei der Generation 55+ war es nur ein Viertel.
Wir sollten die Alten jedoch nicht als fett und faul verteufeln. Seien wir milde. Mittlerweile scheinen auch Babyboomer und Generation X die Bedeutung von Sport und Bewegung nachzuvollziehen. Seit mehreren Jahren melden sich immer mehr von ihnen im Gym oder bei einem Sportverein an. Auch Aristoteles gefällt das.
Wenn Lutz Wöckener nicht gerade irgendeinen Sport im Selbstversuch ausprobiert, schreibt er über Darts und Sportpolitik, manchmal aber auch Abseitiges wie Fußball.
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