Tobias Schweinsteiger staunt immer wieder, wenn er die beiden Zahlen vor Augen hat. „99 Prozent des Fußballspiels sind in Sachen genutzter Daten ein blinder Fleck“, sagt er. „Die anderen ein Prozent sind Daten, die sich auf die Zeit mit dem Ball am Fuß der Spieler beziehen. Der Rest wird bislang kaum genutzt.“
Der 43-jährige Bruder von Weltmeister Bastian Schweinsteiger hat in seiner bisherigen Karriere viel erlebt und in Analyse-Sessions unzählige Videos und Daten von Spielen und Trainings zu sehen bekommen. Erst als Spieler, unter anderem für Eintracht Braunschweig und den FC Bayern II. Dann als Co-Trainer von Dieter Hecking beim 1. FC Nürnberg und beim HSV sowie als Chefcoach des VfL Osnabrück, mit dem er in die 2. Liga aufstieg. Und jetzt als DAZN-Experte, der sich akribisch auf seine Einsätze am Spielfeldrand vorbereitet.
Schweinsteiger ist sicher – der Fußball erlebt gerade eine Revolution. Durch KI, durch die künstliche Intelligenz. Sie wird die Arbeit von Trainern, Klubs und Verbänden in Bezug auf Analyse und Scouting extrem verändern. Das glaubt nicht nur er, davon sind viele in der Branche überzeugt. Auf Veranstaltungen zu dem Thema, wie dem Big Bang KI Festival, laut Veranstalter Europas größtem KI-Event, sind Größen der Bundesliga regelmäßig dabei, zuletzt Horst Heldt, Manager des 1. FC Union Berlin.
Schweinsteiger begeistert sich so für das Thema, dass er bei einem KI-Unternehmen eingestiegen ist. Er ist Head of Football Operations bei Gamecode.Ai. Mitgründer und Geschäftsführer des Münchner Unternehmens ist Tobias Haupt. Der ehemalige Torwart und Fußball-Manager leitete mehrere Jahre die Akademie des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Ein Leitspruch seiner Firma: „Algorithmen sind das Gold unserer Zeit.“
Der 41-jährige Haupt hat eng mit dem damaligen Bundestrainer Hansi Flick zusammengearbeitet und sich über Jahre intensiv mit Coaches ausgetauscht. Wie Schweinsteiger weiß er um die Bedürfnisse und Ansprüche eines modernen Fußballtrainers. Und sagt selbstbewusst: „Wir werden die Analyse des Fußballs durch KI revolutionieren.“ Vor der Gründung des Unternehmens hat das Team über vier Jahre geforscht und entwickelt.
KI im Profifußball – es ist ein Milliardenmarkt. In dem sich immer mehr Unternehmen etablieren wollen – und mit großen Zukunftsversprechen werben. Sie sind sicher, dass KI mehr ist als nur ein (Mega)Trend. „Noch ist nichts pfannenfertig, aber die Dinge liegen auf dem Tisch. Wer sie nicht nimmt, ist selbst schuld“, schrieb bereits der Fußball-Autor Christoph Biermann in seinem Buch „Matchplan“, das vor einigen Jahren erschien: „Ob wir wollen oder nicht: Die digitale Wende des Fußballs hat längst begonnen.“ Mit dem KI-Boom hat diese Entwicklung das nächste Level erreicht.
Bundesliga-Aufsteiger HSV will mehr mit KI arbeiten
Immer mehr Persönlichkeiten aus dem Fußball befassen sich ausgiebig mit dem Thema KI. Die Anwendungsgebiete sind vielfältig. Manche Berater-Agenturen zum Beispiel zahlen monatlich hohe Beträge für Online-Plattformen, die sie zur Vermittlung von Spielern und Trainern einsetzen. Wie in den Klubs geht es meist um die Frage: Welcher Spieler und Trainer passt am besten wohin? Loic Favé ist Assistenztrainer bei den Profis des HSV und leitet dort den Nachwuchs-Campus. „Wir arbeiten uns in das Thema KI rein“, sagte er kürzlich.
Die Formel, die für eine bessere Zukunft des FC Schalke 04 sorgen soll, heißt „Statslibuda“. Angelehnt an den Namen der verstorbenen Klublegende Stan Libuda handelt es sich um das neue Scouting-Tool des Vereins. Über mehrere Jahre arbeiteten vier fest angestellte IT-Experten an dem Programm. Die Kosten: mehr als eine Million Euro. Beim 1. FC Nürnberg nutzen die Spieler KI-Kopfhörer, die ihnen die Worte ihres Trainers Miroslav Klose in Echtzeit in jede gewünschte Sprache übersetzen.
Tobias Haupt ist im europäischen Fußball bestens vernetzt und nimmt die Entwicklung intensiv wahr. Das Geschäftsmodell seines Unternehmens Gamecode.Ai: Die Firma hat Tools für Trainer und sportlich Verantwortliche entwickelt, die helfen sollen, das Spiel zu entschlüsseln. „Es geht um die Dinge, die jenseits des Offensichtlichen passieren“, sagt Haupt. „Wir machen Spielintelligenz und Entscheidungsfindung abseits des Balls messbar.“
Mit Kameras und Sensoren werden innerhalb eines Bundesliga-Spiels 3,6 Millionen Positionsdatenpunkte gesammelt. Aus Positionsdaten lassen sich Werte wie gelaufene Kilometer oder Laufgeschwindigkeit herauslesen. Die Roh- und Tracking-Daten zu verarbeiten, ist aufwendig und manuell nicht zu leisten. Dazu braucht es Algorithmen. Diese hat Haupts Firma in jahrelanger Arbeit entwickelt.
Big Data, eine Masse von Daten, gibt es im Fußball schon lange. „Doch die individuellen Einsichten und Analysen haben bislang gefehlt“, sagt Haupt im Gespräch mit WELT. „Nach dem Spiel steht auf der Statistik-Seite: Pässe, Torschüsse, schnellster Spieler. All das sagt wenig über die Qualität des Spiels und der Spieler aus.“ Auf ihrer Internetseite beschreibt es die Firma von Haupt und Schweinsteiger so: „Das Spiel wird immer schneller. Doch die Erkenntnisse halten nicht Schritt. KI verändert Branchen – doch der Fußball ist immer noch stark von oberflächlichen Statistiken abhängig.“
Haupt findet, dass den Daten bislang oft der Kontext fehlt und es an passenden und brauchbaren Algorithmen mangelt. Mit KI lassen sich zum Beispiel die Bewegungen eines Stürmers ohne Ball analysieren, damit er seine Positionierung verbessern kann. Ein Trainer kann auch das Passnetz eines Mittelfeldspielers aufdecken, um die Effizienz der Ballverteilung zu steigern. Er könnte zudem die Abwehrformation einer Mannschaft bei Gegenangriffen analysieren und seine Taktik anpassen, um in entscheidenden Momenten Lücken zu schließen oder das Pressing zu optimieren. Die Gamecode-Algorithmen lassen sich auf die Bedürfnisse der Trainer anpassen.
Beim Thema KI und Big Data denken viele an „Moneyball – Die Kunst zu gewinnen.“ In dem Spielfilm, der mitunter auf wahren Begebenheiten beruht, spielt Hollywood-Star Brad Pitt den Teammanager eines Baseballklubs. Er arbeitet mit einem jungen Wirtschaftsanalysten, der ein System entwickelt, das mittels Computerstatistiken eine perfekte Mannschaft formen soll. „Wir haben einen Schlüssel entwickelt, mit dem jeder in der Lage ist, Moneyball zu spielen“, sagt Haupt. Mit Hilfe einer relativ kostengünstige Kameralösung können zudem auch im Training Positions- und Skelettdaten erhoben werden – das war laut Haupt bislang nicht möglich.
Seine Firma verkauft den Zugang zu dem cloudbasierten Gamecode-Tool als Abo-Modell. Klubs aus der Premiere League, der Bundesliga, der MLS und Verbände arbeiten mit Game-Code. Zudem namhafte Trainer.
Einer von ihnen ist Edin Terzic, der mit Borussia Dortmund das Finale der Champions League erreichte. Der 42-Jährige hat sich in den vergangenen Monaten intensiv mit KI auseinandergesetzt und sagt im Gespräch mit WELT zu dem Thema: „Der Mensch steht weiter im Fokus. Ich brauche weiterhin meinen Kopf, um Ideen zu entwickeln. Ich brauche weiterhin meine Augen, um zu beobachten. Aber die Datenanalyse, die KI, kann in bestimmten Situationen zu meiner Brille werden. Sie können mir als Trainer dabei helfen, gewisse Dinge schneller zu entdecken und manche Entscheidungen vorzubereiten, schneller und richtiger oder einfacher zu treffen.“
Für einen Trainer sei es notwendig, Tools zu nutzen, die helfen können, Potenzial auszuschöpfen. Es gehe darum, bislang recht unsichtbare Faktoren messbar zu machen. Auch bei der Trainingsgestaltung könne die KI helfen.
Die Klubs der europäischen Topligen beschäftigen inzwischen immer mehr Datenanalysten, die mitunter aus der Informatik kommen. Der Markt wird immer größer.
Im Scouting spielt die KI schon eine große Rolle. Unter anderem die TSG Hoffenheim nutzt das bei der Spielerauswahl. „KI-gestützte Programme durchleuchten Leistungsdaten, analysieren Bewegungsprofile und prognostizieren Entwicklungspotenziale – und das in Sekundenbruchteilen“, sagt Sportwissenschaftler Daniel Memmert von der Deutschen Sporthochschule Köln. Er beschäftigt sich ebenfalls intensiv mit dem Thema KI.
Als Vorreiter der Datenanalyse im europäischen Profifußball gelten der FC Brentford aus England und der FC Midtjylland aus Dänemark. Deren Besitzer – beziehungsweise ehemaliger Anteilseigner – Matthew Benham hat in Oxford Physik studiert und mit einer Sportwettenfirma ein Vermögen verdient. Seit dem Einstieg von Benham bei Midtjylland vor zehn Jahren gewann der Klub viermal die dänische Meisterschaft.
FC Liverpool setzt bei Eckbällen auf Künstliche Intelligenz
Der FC Liverpool setzt speziell beim Trainieren von Eckbällen „TacticAI“ ein, ein System, das von Googles Deepmind-Team in Zusammenarbeit mit dem Klub entwickelt wurde. Die KI wurde mit Daten aus knapp 7200 Eckballsituationen trainiert.
Seit zwei Jahren ist die Firma Plaier am Markt. Die Online-Plattform macht Klubs individuelle Transfervorschläge, welche mit Hilfe einer selbst entwickelten KI individuell auf sie abgestimmt sind. Der dafür genutzte Datenpool umfasst über 390.000 Spieler aus über 200 Ländern. Mitgründer Jan Wendt nennt es „eine Demokratisierung in den Fußball.“ Ein Abo kann einen Klub eine sechsstellige Summe pro Jahr kosten. Bei Transfergewinnen für Spieler, die mit der KI ausgesucht wurden, und für Erfolge können die Anbieter mitunter Boni erhalten.
Fußball-Romantiker sehen den Einzug der KI in den Fußball mitunter kritisch. Vieles wird gläsern. Und oft schwingt die Frage mit, wie wichtig der Faktor Mensch noch bleibt.
Doch in der Branche sind sich die meisten einig: KI gehört zur Entwicklung des Sports. Christoph Kramer gewann als Spieler mit Deutschland 2014 die WM. „Auch, wenn man es vielleicht nicht möchte und es eine unromantische Vorstellung ist, muss man mit der Zeit gehen“, sagte der ehemalige Profi bei Watson.de. Es sei wie im realen Leben: „Entweder man macht sich die Technik zunutze und gewinnt oder bleibt stehen und verliert eher etwas.“ Den Trainer werde die Künstliche Intelligenz aber „auf gar keinen Fall“ überflüssig machen. KI werde vieles vereinfachen und auch noch mal in ein anderes Licht rücken. „Aber am Ende steht dort ein Mensch, der Sachen macht, die keine Maschine übernehmen kann.“
Auch Hecking, bis vor kurzem Trainer des VfL Bochums und einer der erfahrensten Coaches in Deutschland, sagte kürzlich, dass Spieldaten und KI immer einflussreicher werden. „Wir glauben an Innovation, die die Wurzeln des Fußballs respektiert und gleichzeitig seine Zukunft neu denkt“, sagt Tobias Haupt.
Vieles deutet darauf hin, dass ein Assistenztrainer künftig bald auf dem iPad an der Seitenlinie mit Hilfe einer KI den idealen Spielfluss seiner Mannschaft sehen kann, gemessen an der individuellen Spielphilosophie des Cheftrainers. Und dies quasi als Schablone über das reale Spiel legt und sieht, welche Schwachstellen die Mannschaft gerade hat.
Einen anderen KI-Ansatz verfolgt die App Cuju, die in Zusammenarbeit mit zertifizierten Trainern und Sportwissenschaftlern entwickelt wurde. Mit ihr können sich Talente weltweit bei Übungen filmen. Die KI gibt eine Bewertung ab und erstellt eine Rangliste. Beim Pilotprojekt in Brasilien nahmen 80.000 Talente teil. Ein Erfolgsbeispiel: Die 14-jährige Marcela Geremias wurde so entdeckt und erhielt einen Jugendakademie-Vertrag beim Corinthians São Paulo.
Plattformen wie Impect, SkillCorner oder Statsbomb haben sich darauf spezialisiert, weltweit Daten zu Fußballern zu sammeln und an Klubs zu verkaufen. Einige Klubs arbeiten mit Scouttastic. Die Algorithmen sind nicht öffentlich. Eine unabhängige wissenschaftliche Untersuchung ist daher bislang nicht oder kaum möglich. Sportwissenschaftler Memmert verwies zuletzt auf eine eigene Studie.
Für diese wurden 8000 Spiele der Premier League ausgewertet. Diese ergab, dass das Spiel, also vor allem die erzielten Tore, zu 42 Prozent aus Zufall bestehen. Ersetzen wird die KI den Trainer nicht. Aber ergänzen und womöglich bessere Entscheidungen ermöglichen.
Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-und Sport-Ernährungs-Themen.
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