Dominik Siegrist, 67, wurde durch seine großen Überquerungen der Alpen und Pyrenäen bekannt, bei denen er ökologische und soziale Veränderungen beobachtete und dokumentierte. Der Geograf und Landschaftsarchitekt lehrte 24 Jahre lang an der Fachhochschule Ostschweiz in Rapperswil, war Präsident der Internationalen Alpenschutzkommission und veröffentlichte mehrere Bücher über seine Expeditionen.
Frage: Um die Berge zu entdecken, reicht es, durch Instagram zu scrollen. Lohnt es sich noch, die Wanderschuhe anzuziehen?
Dominik Siegrist: (lacht) Natürlich! Ein Video auf dem Handy anzuschauen hat nichts damit zu tun, wirklich draußen zu sein. Beim Wandern hört man die Geräusche der Landschaft, trifft Menschen, spürt die Luft. Keine audiovisuelle Installation, so perfekt sie auch sein mag, kann das ersetzen. Wer nur auf sein Handy starrt, verpasst ganz einfach das echte Leben.
Frage: Was macht das Wesen des Wanderns aus?
Siegrist: Es findet nicht nur im Kopf statt, sondern im ganzen Körper. Man nimmt die Landschaft in ihrer Gesamtheit wahr: durch Sehen, Hören, Riechen, Fühlen. Darin liegt der ganze Reichtum: vollständig in das Erlebnis einzutauchen.
Frage: Vielleicht kennen Sie das: Schwierigkeiten, seine Töchter oder Söhne zum Wandern zu motivieren. Sie sagen, es sei langweilig und es passiere nichts. Wie kann ich sie überzeugen?
Siegrist: Ich verstehe das vollkommen, denn genau das ist auch mit meinen Söhnen passiert. Irgendwann reichte ihnen das Wandern nicht mehr, es war ihnen nicht spektakulär genug. Also haben wir unterwegs kleine Herausforderungen eingebaut. Das hat eine Zeit lang funktioniert, aber nicht auf Dauer. Wandern widerspricht unserem hektischen Lebensrhythmus: Man braucht Stunden, um einen Gipfel zu erreichen. Und unterwegs lernt man, sich Zeit zum Nachdenken zu nehmen oder sich einfach von der Landschaft mitreißen zu lassen.
Frage: Wandern als Flucht?
Siegrist: Genau. Und wenn man mit anderen zusammen wandert, hat man auch Zeit zum Reden. Viele interessante Ideen und Projekte sind auf meinen langen Wanderungen entstanden. Heute reden alle über Trump. Wenn ich wandere, ist mir das völlig egal. Für mich ist es kein Problem mehr, dass es eine Person wie ihn auf der Welt gibt.
Frage: Lange Trekkingtouren erleben einen regelrechten Boom, insbesondere in Nordamerika. Mit Ihren Wanderreisen waren Sie Ihrer Zeit weit voraus. Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Siegrist: Alles begann vor über 40 Jahren, als ich im Sommer mit Freunden aus dem Studium für ein paar Wochen wandern ging. Wir nahmen unsere Schlafsäcke und machten uns mit sehr wenig Geld und nur dem Nötigsten im Gepäck auf den Weg.
Frage: Mit Rucksack, Schlafsack und Zelt?
Siegrist: Wir hatten keine Zelte und trugen alte Militärschuhe. Wir hatten nicht genug Geld, um richtige Wanderschuhe zu kaufen. Jedes Mal fragten wir uns: „Wie weit kommen wir heute? Wo können wir übernachten? Wie wird das Wetter?“ Der größte Genuss war es, sich in einem italienischen Ort im Tal eine Pizza zu gönnen. So hat alles angefangen, und diese Erinnerungen sind für mich unglaublich wertvoll. Es war ein echtes Gefühl von Freiheit. Mit 20 kann man sich nichts Freieres vorstellen.
Frage: Wodurch unterscheidet sich ein Tagesausflug von einer mehrtägigen Wanderung?
Siegrist: Es ist ein bisschen wie der Vergleich zwischen einem Wochenende und einem dreiwöchigen Urlaub: Man fühlt sich entspannter. Nach drei oder vier Tagen kehrt Ruhe ein, und man lässt sich ganz vom Rhythmus der Wanderung mitreißen. Es ist ein bisschen wie Meditation. Morgens bricht man auf, nachmittags kommt man an, abends trifft man sich wieder und am nächsten Tag geht es weiter. Ich habe schon mehrere Monate auf Wanderwegen verbracht. Vor kurzem habe ich drei Monate lang die Pyrenäen durchquert, vom Atlantik bis zum Mittelmeer. Das ist eine Erfahrung, die man nicht wirklich beschreiben kann, man muss sie erleben.
Frage: Was bewirkt das?
Siegrist: Man kommt zur Ruhe, entspannt sich. Selbst wenn man mit anderen Menschen wandert, ist man mehr auf sich selbst konzentriert als im Alltag, wo man ständig alle möglichen Anforderungen erfüllen muss.
Frage: Würden Sie es jemandem empfehlen, der es noch nie gemacht hat?
Siegrist: Auf jeden Fall. Und ich bin kein Esoteriker. Wandern ist eine sehr konkrete Erfahrung, die in der Realität verankert ist.
Frage: Wie lässt sich der Boom der Fernwanderungen erklären?
Siegrist: Das zeigt sich an den vielen neuen Routen, die entstehen, an Büchern und Filmen. Das Buch von Cheryl Strayed über den Pacific Crest Trail („Wild“) steht ganz oben auf der Bestsellerliste der „New York Times“. In der Deutschschweiz ist auch das Buch der Bündnerin Christina Ragettli („Von Wegen“) sehr erfolgreich. Viele würden gerne öfter lange Wanderungen unternehmen, aber ihre Arbeit lässt dies nicht zu. Rentner haben, solange sie fit sind, mehr Freiheit.
Frage: Gibt es eine neue Begeisterung fürs Wandern?
Siegrist: Auf jeden Fall. Und das in zunehmendem Maße. Faszinierend ist, dass das Wandern eine echte Renaissance erlebt. Eine Zeit lang dachte man, es sei aus der Mode gekommen und die Wanderer in roten Socken würden verschwinden. Aber in den letzten zehn bis 15 Jahren hat sich der Trend umgekehrt, zweifellos dank des Booms der Outdoor-Aktivitäten. Heute trifft man alle möglichen Typen: von Trailrunnerinnen über Mountainbiker bis hin zu Bergsteigern.
Frage: Sie sind in vielen Ländern gewandert. Ist die Schweiz das Land Nummer 1 für diese Aktivität?
Siegrist: Ja, und zwar mit Abstand. Ein entscheidender Vorteil ist das Bundesgesetz über Fuß- und Wanderwege, das seit 1985 deren Finanzierung regelt. Das ist ein echter Trumpf. Zum Vergleich: In Italien sind viele Wanderwege schlecht gepflegt, von Vegetation überwuchert oder nach einem Erdrutsch unpassierbar. In einigen Regionen kann Österreich fast mithalten, insbesondere in Vorarlberg, wo viele Aspekte vom Schweizer Modell inspiriert wurden, darunter auch die Beschilderung. Eine weitere Stärke der Schweiz ist ihr öffentliches Verkehrsnetz mit Postautos, die selbst die abgelegensten Dörfer anfahren.
Frage: Welche Bedeutung haben die Berge in der Schweiz?
Siegrist: Wir verstehen uns als Alpenland, was sich in vielen Mythen widerspiegelt. Wenn die Parlamentarier abstimmen, haben sie im Nationalratssaal das monumentale Gemälde des Urnersees vor sich. Das ist ziemlich symbolisch. Die Berge, die Alpen und die Gletscher nehmen in unserer Kultur einen wichtigen Platz ein. Das hängt auch mit der Nähe der Bevölkerungszentren zu den Gipfeln zusammen. Die Schweiz ist ein Alpenland, und wie das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest zeigt, wird diese Identität gefeiert, inszeniert und vermarktet.
Frage: Heute ist Wandern in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig. Sind Outdoor-Influencer eher ein Mittel, um Lust auf Wanderungen zu machen, oder ein Risiko?
Siegrist: Ich bin kein Influencer. Wenn ich 30 Jahre jünger wäre, vielleicht schon.
Frage: Das kann noch passieren.
Siegrist: (lacht) Das stimmt, als Älterer. Ich sehe Influencer als Chance, da sie ein großes Publikum erreichen und Menschen dazu motivieren, in die Natur zu gehen. Aber es gibt Risiken, wenn sie sich in sensible Gebiete wagen. In Deutschland musste ein Bereich des Nationalparks Berchtesgaden gesperrt werden. Eine Influencerin hatte dort ein Video auf einer Felsplatte im Herzen des Parks gedreht und damit Tausende von Besuchern angezogen. Ähnliche Probleme gibt es auch bei uns, im Alpsteinmassiv oder rund um den Brienzersee.
Frage: Hat sich das Wandern durch die sozialen Netzwerke verändert?
Siegrist: Nicht das Wandern, sondern die Wahrnehmung davon. Auf Instagram sieht man fast nur Fotos, auf denen schönes Wetter ist. Das schafft die Illusion einer perfekten Welt. Ich finde das nicht unbedingt schlecht. Wir werden ständig mit negativen Nachrichten bombardiert. Es kann also nicht schaden, wenn uns die sozialen Netzwerke der Natur und ihrer Schönheit näherbringen.
Frage: Spielt das Wandern eine Rolle dabei, das Bewusstsein der Menschen für die Natur und den Umweltschutz zu schärfen?
Siegrist: Auf jeden Fall. Für mich ist es eine Berufung, das Wandern zu nutzen, um auf ökologische Probleme aufmerksam zu machen. Das Abschmelzen eines Gletschers ist ein direkter Indikator für den Klimawandel. Auch Wälder, Flüsse oder die Landwirtschaft bieten unzählige konkrete Beispiele. Man muss diese Themen nicht extra suchen, sie liegen direkt auf dem Weg.
Frage: 1992 haben Sie Ihre erste thematische Alpenüberquerung unternommen. Worum ging es dabei?
Siegrist: Das Projekt hieß „Transalpedes“. Wir wanderten in vier Monaten von Wien nach Nizza und wurden dabei vom Schweizer Fernsehen begleitet. Unterwegs interessierten wir uns für die Situation in den Alpen und sprachen lokale Themen an: Staudammprojekte, neue Skigebiete, Straßenbaupläne. Damals kam mir die Idee, lange Wanderungen mit großen Themen zu verbinden. Im Jahr 2021 organisierte ich „Traces du climat“, eine Wanderung von Ilanz in Graubünden nach Genf: 42 Tage, 700 Teilnehmer und 70 Veranstaltungen rund um die Klimakrise.
Frage: 25 Jahre später haben Sie dieselbe Route von Wien nach Nizza erneut zurückgelegt. Was hat sich verändert?
Siegrist: 2017 haben wir das Projekt „Whatsalp“ ins Leben gerufen und unsere Reise über soziale Netzwerke geteilt. In 25 Jahren hat sich viel verändert: mehr Verkehr, Massentourismus, städtische Expansion, aber auch neue Formen der Landwirtschaft, wie hoch spezialisierte Bio-Bauernhöfe und Agrotourismus. Auch der Rückgang der Gletscher war beeindruckend. Während 1992 der Klimawandel noch ein Randthema war, waren seine Auswirkungen 2017 offensichtlich.
Frage: Heute wird viel Geld in die Bergregionen investiert. Was halten Sie davon?
Siegrist: Ich bin kritisch. Internationale Investoren und Stadtbewohner treiben die Immobilienpreise in die Höhe. Das ist ein echtes Pulverfass. Die Zweitwohnungsinitiative hat nicht ausgereicht, um dieses Phänomen zu bremsen, es gibt noch zu viele Schlupflöcher. Die Bergdörfer, die 1992 noch bescheiden wirkten, sind heute perfekt restauriert. Der Skitourismus wird immer exklusiver, aber die eigentliche Zeitbombe ist der Immobilienmarkt: Die Einwohner finden keine Wohnungen mehr.
Frage: Immer mehr Skigebiete in tieferen Lagen verschwinden. Wie sieht Ihre Prognose für den Wintertourismus aus?
Siegrist: Studien zeigen, dass es in einigen Jahrzehnten wahrscheinlich nur noch ein Dutzend große Skigebiete in den Alpen geben wird, wie Zermatt, Saas-Fee oder St. Moritz. Viele kleine Skilifte werden verschwinden oder müssen auf den Sommerbetrieb umgestellt werden.
Frage: Ist das eine Chance für den Sommertourismus und das Wandern?
Siegrist: Es handelt sich eher um eine Verlagerung. Der Winter verliert zugunsten des Sommers an Bedeutung. Aufgrund der Klimaerwärmung suchen immer mehr Menschen die Kühle der Berge. In Italien beispielsweise strömen immer mehr Stadtbewohner aus der Poebene in die Alpen. Auch in der Schweiz nehmen die Übernachtungen im Sommer zu. Der letzte Sommer hat trotz des durchwachsenen Wetters sogar einen Rekord bei den Hotelübernachtungen gebrochen.
Frage: Haben Sie zum Schluss noch einen Wandervorschlag?
Siegrist: Ich arbeite derzeit an den alten Schmugglerwegen. Etwa 30 Routen zwischen dem Münstertal und dem Unterwallis, begleitet von Geschichten aus dieser Zeit. Mein Buch erscheint im nächsten Frühjahr. Derzeit empfehle ich eine Herbstwanderung auf der Albiskette, von Sihlwald nach Urdorf, etwa 35 Kilometer, die auch in Etappen zurückgelegt werden kann: von Sihlwald zum Albishorn, über den Albispass, dann über den Uetliberg und schließlich hinunter nach Urdorf. Eine angenehme und ruhige Route.
Das Interview führte Simon Graf für die Schweizer Tageszeitung „Tribune de Genève“. Durch eine Kooperation im Rahmen der Leading European Newspapers (LENA) erscheint es auch in WELT.
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