Miron Muslic (43) ist ein neugieriger Mensch. In der VIP-Loge des FC Schalke in der Veltins-Arena schaut er sich alles ganz genau an. Muslic öffnet die Schiebetüre, tritt hinaus in das leere Stadion und stellt Fragen: Wer sitzt hier an Spieltagen? Wem gehört die Loge? Sind alle VIP-Räume gleich?
Dieses Verhalten kann auf den ersten Blick irritierend wirken. Muslic ist schließlich nicht erst seit wenigen Tagen Trainer auf Schalke. Er kennt die Arena, hat sie zigmal durchquert. Wer aber seine Geschichte kennt, versteht, woher diese Neugier und die Begeisterung kommen.
Der gebürtige Bosnier musste früh vor dem Krieg in seiner Heimat fliehen. In der neuen Heimat Innsbruck war der Weg steinig. Sportvorstand Frank Baumann (49) erzählte in „Sport Bild“, Muslic habe mit seiner Familie in einer Wohnung gelebt, in der Kakerlaken durch die Zimmer krabbelten. Diese Zeit prägt ihn. „Kirschentalgasse 6. Die Postleitzahl: 6020, Innsbruck in Tirol“, sagt Muslic und blickt wie in weite Ferne: „Für mich ist das mein Wertekompass.“
Die einstige Schießbude ist plötzlich die beste Defensive
Werte seien nachhaltiger als schnelle Trainerentscheidungen, Taktiken oder Pressing: „Ich schäme mich nicht für meine Vergangenheit. Sie ist das Fundament für meine Gegenwart und Zukunft. Ich bin froh, dass ich Dinge miterlebt habe, die mich geprägt haben. Nicht alles war schön, aber wir haben einen Weg herausgefunden. Gegen viele Widerstände und schwierige Momente. Ich habe miterlebt, was es mit einem macht, wenn die Basics fehlen. Daher: Demut! Auf dem Boden bleiben – mit beiden Füßen.“
Diesen Kompass bringt er mit nach Schalke – ein Klub, der sportlich durch die Hölle ging. Der Abstieg in die Zweite Bundesliga, gefolgt von zwei Spielzeiten, in denen sich ein weiterer Abstieg in die dritte Liga immer mehr zu einem realistischen Szenario entwickelte. Ein Schreckgespenst im Ruhepott.
„Besonders nach der vergangenen Saison haben wir bewusst einen klaren Schlussstrich gezogen. Wir haben einen neuen Weg, eine neue Dynamik und ein neues Miteinander gestartet“, erklärt Muslic. „Im Profileistungszentrum haben wir vom ersten Tag an eine Kultur implementiert, wie wir miteinander arbeiten wollen. Wir haben uns vor vier Monaten das Versprechen gegeben, dass wir zwei Gänge höher schalten werden. Das ist uns auch gelungen, wenn man sich die Daten anschaut.“
Die sprechen in der Tat für sich: 18 Punkte aus acht Spielen. Platz zwei hinter Elversberg und mit fünf Gegentreffern die beste Defensive der Liga, zusammen mit Paderborn – Königsblau zählte zuvor zu den größten Schießbuden der Liga (60 und 62 Gegentreffer). Im DFB-Pokal (1:0 n.V. gegen Lok Leipzig) in die zweite Runde eingezogen.
„Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst“
Muslic hat dem Klub Selbstvertrauen zurückgegeben – den Spielern, den Fans. Er weiß, wie viel Platz Schalke in den Herzen der Anhänger einnimmt. „Die Verantwortung ist auf jeden Fall größer, wenn du Trainer bei Schalke 04 bist – zu 100 Prozent“, erzählt er. „Meine Vergangenheit und meine Geschichte decken sich mit vielen anderen Lebensläufen von Menschen in Gelsenkirchen und der Region. Ich bin mir meiner Verantwortung bewusst und fühle mich auch deshalb so wohl hier.“
Nach den Spielen steht er mit der Mannschaft vor den Fans – und ist seit zwei Wochen selbst Vereinsmitglied. So viel Euphorie um einen Trainer gab es lange nicht mehr auf Schalke. Muslic: „Ich habe den Mut, zu sein, wer ich bin. Ich muss mich nicht verstellen oder verstecken. Ich habe keine Angst, das zu zeigen, was ich fühle. Mit Worten, aber auch mit Taten. Ich bin gerne mit der Mannschaft bei den Fans, weil auch ich diese Emotionen teile. Für mich ist das auch eine Form von Danke sagen.“
Führt dieser Weg zurück in die Bundesliga? Muslic blockt die Frage (noch) ab. Er sieht die Tabelle nicht als Motivation, sondern als Konsequenz der Arbeit. Mit der richtigen Mentalität und Intensität. Er will von Aufstiegsträumereien nichts wissen: „Demut passt sehr gut zu Schalke 04. Und auch zum Charakter dieser Mannschaft. Weil wir wissen, wo wir herkommen, aber auch wissen, wo wir hinwollen. Das gelingt aber nicht über Nacht, sondern muss vorbereitet und entwickelt werden. Die notwendigen Schritte haben wir eingeleitet, und die sind klar erkennbar.“
Den Kader stellte Muslic gemeinsam mit Baumann und Sportdirektor Youri Mulder (56) zusammen. Charakterspieler wie Abwehrchef Nikola Katic (29) und Rückkehrer Timo Becker (28) entlasten Kapitän Kenan Karaman (31). Die Verantwortung wird geteilt. Das alles passiert mit einem anderen Umgang, einem spürbar positiven Spirit. Die Zusammenarbeit der drei sportlichen Verantwortlichen funktioniert.
„Meiner Meinung nach ist die große Stärke von Schalke, dass in den vergangenen vier Monaten, das intern Besprochene auch intern bleibt. Das ist eine große Errungenschaft. Das schaffst du, wenn du Vertrauen hast“, sagt Muslic.
So keimt bei den Fans die Hoffnung, dass dieses Mal wirklich etwas zusammenwächst. Muslic, der laut „Sport Bild“ eine Ausstiegsklausel besitzt, sagt: „Ich bin unglaublich stolz und glücklich, hier arbeiten zu dürfen. Ich hoffe, ich bleibe sehr lange Schalke-Trainer.“
Ein Satz, der in jedem königsblauen Fan etwas auslöst – Begeisterung und Stolz. Was Muslic in der Loge ausstrahlte, prägt inzwischen den ganzen Schalke-Kosmos.
Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) erstellt und zuerst in BILD AM SONNTAG veröffentlicht.
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