Puzzeln gehört nicht zu den Hobbys von Matthias Blübaum. Und so dürfte er froh sein, dass die Organisatoren des Turniers in Usbekistan angesichts der Mischung aus persönlichem Ungeschick und überhartem Umgang mit Blübaums Koffer durch das Flughafenpersonal Gnade walten lassen. Seinen auf der Heimreise nach Deutschland in Einzelteile zerbröselten Preisteller bekommt der 28-jährige Deutsche ersetzt.

Der Teller, der ein Abbild einer Moschee im Austragungsort, dem usbekischen Samarkand, ziert, ist Symbol von Blübaums größtem Triumph. Zwar hat der 28-jährige Deutsche dieses Jahr als erster Spieler überhaupt zum zweiten Mal den EM-Titel gewonnen. Aber die Qualifikation für das Kandidatenturnier, die ihm sein zweiter Platz in Usbekistan vor rund drei Wochen einbrachte, ist eine noch größere Nummer. Es ist die Vorstufe zu einem Kampf um die WM-Krone im Schach. Je zwei Spiele gegen sieben andere Großmeister trennen Blübaum noch davon, den König seines Sports herauszufordern – den Inder Dommaraju Gukesh.

Dass Blübaum beim Kandidatenturnier kommendes Frühjahr dabei ist, veranlasste den Deutschen Schachbund zu einer ungewöhnlich überschwänglichen Mitteilung. „Sensationell“ sei der Erfolg, „verrückt“ und „historisch“. Der Verband übernahm die Gefühlsausbrüche, die es von Blübaum selbst so nicht geben würde. „Auch wenn es wahrscheinlich nicht ganz falsch ist: Ich würde einen eigenen Erfolg niemals als Sensation bezeichnen. Es ist eine riesige Überraschung auch für mich selbst, ich habe damit nicht gerechnet. Und natürlich ist es ein großer Erfolg“, sagt Blübaum zu WELT AM SONNTAG.

„Ich habe gepatzt wie ein kompletter Idiot“

Dass es aber doch mehr als eine „riesige Überraschung“ ist, zeigt ein Blick auf die Historie. Blübaum ist erst der dritte Deutsche, dem der Einzug in ein Kandidatenturnier gelungen ist, zudem der erste seit Robert Hübner, der 1991 antrat. Vorgänger Hübner, so übermitteln die Nachrufe über den im Januar verstorbenen Großmeister, war einer, der seine Partien im Nachgang konsequent zerpflückte. Selbstkritisch bis in die letzte Pore. Blickt man auf Blübaums Auftritt in Samarkand, wird deutlich, dass er diese Eigenschaft durchaus weiterträgt. Denn es sind keine Freudentränen, über die nach dem Erfolg berichtet wurde. Es gab keine markigen Kampfansagen in Richtung der Konkurrenz. Vielmehr blieben die Zitate nach dem deutsch-deutschen-Duell gegen Vincent Keymer, das Blübaum fast seine Spitzenposition kostete, hängen.

„Ich habe gepatzt wie ein kompletter Idiot. Ich hätte verlieren müssen“, sagte er direkt nach der Partie. Für den sonst so nüchternen Ostwestfalen ist das fast schon eine Wuttirade. Letztlich rettete Blübaum ein Remis, weil Keymer einen Trick seines Gegners übersah. Er sei „von den Toten auferstanden“, urteilte Experte Christof Sielecki im Schach-Podcast „Schachglatzen“. Während Blübaum mit einem weiteren Remis im elften und letzten Spiel Platz zwei sicherte, wurde Keymer Vierter.

Es gibt noch einen Aspekt dieser Überraschung. Deutschland hat über Nacht einen neuen Schach-Helden – und es ist nicht Shootingstar Keymer, der auf Platz neun der Weltrangliste geführt wird. Während dessen Name auch außerhalb der Szene ein Begriff ist, gilt das für Blübaum (Rang 41) kaum. „Es ist okay für mich, eigentlich im Schatten von Vincent Keymer zu stehen. Es ist gerechtfertigt“, sagt die deutsche Nummer zwei: „Er ist derjenige, der in den Top 10 der Welt ist, er ist noch mal einige Jahre jünger als ich und der stärkere Spieler. Logischerweise steht er dann mehr im Rampenlicht.“

Seine Demut hat sich Blübaum erhalten, wenngleich die neue Aufmerksamkeit natürlich Türen öffnet. Finanziell ist der Lemgoer in neue Sphären vorgestoßen, gut 53.000 Euro gab es für den zweiten Platz in Usbekistan. „Das Preisgeld ist das Dreifache von dem, was ich bisher als höchstes für ein Event bekommen habe. Für einen EM-Titel gab es mal 17.500 Euro. Das war auch sehr viel Geld, aber das jetzt ist noch mal eine ganze Ecke mehr. Da kann ich mich nicht beschweren“, sagt Blübaum. Das biete vor allem Sicherheit: „Es ist als Schachprofi nicht so, dass man ständig solche Preisgelder gewinnt.“

Mit zwölf kam Blübaum in die „Prinzengruppe“

Der Sport pflegt in Deutschland ein Nischendasein, wenngleich er durch die Corona-Pandemie und dem damit einhergehenden Online-Schachboom neuen Schwung bekommen hat. Dennoch mangelt es an Sponsoren. Blübaum verdient sein Geld bislang rein durch Antritts- und Preisgelder, darunter ein paar Hundert Dollar bei Online-Turnieren, die er auf der Plattform Twitch streamt. „Die Top 10 bis Top 20 der Welt verdienen sehr gut. Darunter wird es weniger. Auf dem Level, auf dem ich mich in den vergangenen Jahren bewegt habe, kann man vom Sport vernünftig leben“, sagt Blübaum, „aber es ist nicht so, dass ich durch Schach ausgesorgt habe. Gerade weil ich weiß, dass das Niveau so ab 40 Jahren langsam abnimmt.“

Bis dahin hat Blübaum noch einige Jahre, um auf Topniveau zu spielen. Dass er überhaupt in der erweiterten Weltspitze steht, ist das Resultat eines konsequenten Wegs. Entwickelt wurde das Talent mit zwölf Jahren in der „Prinzengruppe“: Bundesnachwuchstrainer Bernd Vökler versammelte vier Jungs mehrmals im Jahr zu Lehrgängen, Trainer wurden vom Verband gestellt. Aus den „Prinzen“ sollten „Könige“ werden. Ein Konzept, von dem Blübaum heute sagt, dass es „sehr gut funktioniert“ habe: „Im Endeffekt sind alle aus der Prinzengruppe Großmeister geworden.“

Seinen zweiten Karriereweg aber vernachlässigte Blübaum nie – auch nicht, nachdem der Schachbund ihm die Möglichkeit eröffnet hatte, sich nach dem Abitur ein Jahr voll gefördert auf den Sport zu konzentrieren. Blübaum studierte Mathematik, machte seinen Master. Erst mit dieser Sicherheit, eine Alternative zu haben, entschied er sich für eine Profikarriere und widmet sein Leben dem Schach: „Schach ist der zentrale Punkt in meinem Leben. Ich verfolge sonst auch fast keine Sportarten, schaue etwa keine Fußballspiele an. Ich versuche, Ausgleichssport zu machen, gehe regelmäßig laufen, aber mehr auch nicht.“

Ins Kandidatenturnier geht Blübaum als klarer Außenseiter

Wenn sich Blübaum nicht gerade über eigene Leistungen ärgert, sei er ein introvertierter Mensch, sagt er über sich. Extreme Positionen finden bei ihm keinen Platz, stattdessen spricht er gern in Relativierungen. Wenn er darüber redet, dass Schachspieler „Nerds“ seien, schiebt er ein „zu einem gewissen Grad“ zwischen, es gebe schließlich genug Ausnahmen. Wenn er über die gute Zeiteinteilung als Stärke seines Spiels spricht, fügt er an, dass dies aber auch die Schwäche berge, dass „ich in manchen Stellungen nicht tief genug gehe und zu schnell eine Entscheidung treffe – und auch dass manchmal nicht genug Risikobereitschaft da ist, kann eine Schwäche sein.“ So wirklich passen die Farben seines Sports – schwarz und weiß – nicht zu Blübaum. Hört man ihm zu, kommen vor allem Grautöne zum Vorschein.

Ins Kandidatenturnier wird er als klarer Außenseiter gehen. In der Kategorie, die im Schach über die Qualität der Spieler entscheidet, dürfte er deutlich hinter seinen Konkurrenten liegen. Blübaum hat eine Elo-Zahl von 2687 Punkten – ab 2700 beginnt die absolute Weltklasse. „Ein paar Punkte in der Elo machen definitiv einen Unterschied. Es geht vor allem um die Konstanz, mit der man gute Ergebnisse erzielt, und um ein paar kleinere Faktoren wie etwa die Nervenstärke“, erklärt Blübaum.

In Usbekistan hat der Deutsche genau diese Tugend unter Beweis gestellt, während seine vor ihm platzierten Gegner reihenweise scheiterten. „In dem Turnier hat es als Underdog sehr gut geklappt, weil die stärkeren Spieler gegen mich etwas beweisen wollten, teilweise zu viel Risiko gegangen sind. Logischerweise hoffe ich darauf, dass so was noch mal passiert“, sagt Blübaum. Er fühlt sich immer noch wohl, wenn ihn niemand auf dem Schirm habe. Auch wenn sich zumindest die Wahrnehmung in Deutschland geändert hat.

Luca Wiecek ist Sport-Redakteur für WELT. Seine letzte Schachpartie hat er zu Schulzeiten gespielt.

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