Alex Megos‘ Leben ist der Fels, sein Ziel die schwierigsten Kletterrouten der Welt. Viele von ihnen hat der 32-jährige Deutsche bezwungen, eine aber hat seine Karriere auf einen Schlag auf den Kopf gestellt. Estado Critico in Spanien, Schwierigkeitsgrad 9a – anspruchsvoller geht es im Felsklettern kaum. Megos aber meisterte die Route 2013 onsight, wie es in der Szene heißt, also beim ersten Versuch ohne vorherige Informationen. Er war der Erste, dem das bei einer 9a-Variante gelang. Der Erfolg machte Megos zum Star.

Auch an künstlich angelegten Kletterwänden ist Megos erfolgreich, gewann zweimal Silber und einmal Bronze bei Weltmeisterschaften im Lead-Klettern, nahm 2021 und 2024 an den Olympischen Spielen teil.

Was bisher kaum jemand wusste: Bei allem sportlichen Erfolg gibt eine dunkle Phase in Megos‘ Vergangenheit. Als Jugendlicher war der Erlangener magersüchtig. Unter anderem darüber schreibt Megos in seinem Buch „Frei am Fels“ (Edel Sports). WELT hat mit ihm über die schwere Zeit gesprochen.

WELT: Herr Megos, von wie vielen Lebensmitteln kennen Sie die Kalorienzahl?

Alex Megos: Ich weiß nur noch einen Bruchteil von dem, was ich früher wusste. Natürlich habe einen groben Überblick, da geht es aber eher darum, zu tracken, ob ich genügend Proteine esse. Ich weiß aber nichts detaillierter als die meisten Sportler, die nie ein Problem mit Essen hatten.

WELT: Genau ein solches Problem hatten Sie als Jugendlicher. Welche Bedeutung hatten Kalorien damals für Sie?

Megos: Damals gab es noch keine Smartphones zum Tracken. Aber es gab Tabellen im Internet mit Kalorienangaben von allen möglichen Lebensmitteln. Die habe ich mehr oder weniger auswendig gelernt. Ich habe gelernt, zu schätzen, wie schwer etwas ist und im Kopf immer einen Kalorienzähler mitlaufen lassen. Einfach aus der Gefahr heraus zu viel zu essen. Ich habe oft gedacht, schon zu viele Kalorien gegessen zu haben, stand am Ende des Tages aber zum Beispiel bei nur 1200 Kalorien.

WELT: Sie beschreiben in Ihrem Buch ausführlich, wie Sie als Jugendlicher in eine Magersucht gerutscht sind. Haben Sie einen Ausgangspunkt festgemacht, mit dem alles losging?

Megos: Witzigerweise nicht. Ich habe gar nicht gemerkt, wie ich da langsam reingerutscht bin. Das war ein schleichender Prozess. Man realisiert das erst, wenn es schon zu spät ist. Ich kann auch nicht festmachen, zu welchem Zeitpunkt alles angefangen hat. Mit 15 Jahren steckte ich da sicher schon drin – mit 16 und 17 Jahren auch. Aber ich könnte keinen genauen Startpunkt ausmachen.

WELT: Wie sah Ihre Ernährung aus?

Megos: Ich habe nicht von einem auf den anderen Tag weniger gegessen, sondern es war wie gesagt ein schleichender Prozess. Ich habe irgendwann angefangen, weniger Butter aufs Brot zu schmieren, dann es mit weniger Käse zu belegen. Irgendwann habe ich die Butter ganz weggelassen. Ich habe das damit abgestempelt, dass ich es wegen des Sports mache, habe versucht, an allen Stellschrauben zu drehen. Fett ist für Athleten schlecht – so der Gedanke. So habe ich Denkmuster entwickelt, die am Anfang vielleicht weder krankhaft noch hinderlich erschienen, über einen längeren Zeitraum hinweg aber zu einem Problem und zu einem gestörten Verhalten dem Essen gegenüber führten. Letztendlich habe ich alles vermieden, wo Fett oder Öl zu sehen war. Ich habe den Fettrand bei einem Schinken nicht gegessen, Butter nicht gegessen, am besten ohne Öl gekocht. Dazu Kalorien gezählt. Alles hat sich dann darum gedreht. Da kommt man so leicht nicht wieder raus.

WELT: Was war das Niedrigste, das Sie in dieser Zeit gewogen haben?

Megos: Es müssen so um die 45 Kilogramm gewesen sein. Allerdings kann ich nicht genau sagen, wann das war oder wie groß ich zu dem Zeitpunkt war. Aber ich hatte auf jeden Fall deutliches Untergewicht.

WELT: Woher haben Sie überhaupt noch die Energie gezogen, Ihren den Sport zu betreiben?

Megos: Witzigerweise brennt man trotzdem so sehr für seinen Sport, dass dafür noch Energie da war – und für alles andere dann nicht mehr.

WELT: Sie beschreiben, dass sie parallel zur Mager- auch eine Sportsucht entwickelt haben.

Megos: So ist es. Ich hatte immer das Gefühl, wenn ich mehr Sport treibe, verbrenne ich auch mehr Kalorien und darf mir gönnen, mehr zu essen. Es war jetzt nie so extrem, dass ich am Nachmittag einen Halbmarathon gelaufen bin. Aber ich habe viele Sachen gemacht, die kontraproduktiv für das eigentliche Klettertraining sind. Das ging einher mit dem gestörten Verhältnis zum Essen.

WELT: Wie war Ihr Wohlbefinden abseits des Sports?

Megos: Mein Sozialleben und alles andere hat gelitten. Ich hatte keine Lust mehr, mich mit jemandem zu treffen. Ich saß zu Hause und hatte keine Lust, mich im Haus zu bewegen, weil es zu anstrengend war. Irgendwann wurde das komplette Dasein zur Qual. Ich habe gehofft, einzuschlafen, damit die Nacht rumgeht und ich in dieser Zeit erst mal keinen Hunger verspüre.

WELT: Ein Hungergefühl verspürten Sie also?

Megos: Wenn mich jemand damals danach gefragt hätte, hätte ich mit „Nein“ geantwortet. Ich habe teilweise stundenlang nichts gegessen und trotzdem keinen Hunger verspürt. Es war aber paradoxerweise immer dann am größten, wenn ich gerade etwas gegessen hatte. Es ist faszinierend, wie lange der Körper durchhält und welche Schutzmechanismen er entwickelt, um irgendwie zu überleben.

WELT: Sie wurden trotz allem zweimal Jugend-Europameister. Hat der Erfolg im Sport Sie in ihrer Lebensweise noch weiter bestärkt?

Megos: Ich hatte immer das Gefühl, der Erfolg bestätigt mich. Und klar, irgendetwas habe ich richtig gemacht in meinem Sport, sonst hätte ich die Erfolge nicht gehabt. Allerdings muss ich auch klipp und klar sagen: Ja, ich bin zweimal Jugend-Europameister geworden. Aber ich habe mir mindestens zwei Jugend-WMs durch die Unterernährung versaut. Beim ersten Mal war mein Körper so unterversorgt, dass er starke Krämpfe bekommen hat. Beim zweiten Mal war ich dann so energielos, dass ich schlecht klettern konnte und viel zu früh abgefallen bin.

WELT: Haben Sie durch diesen Misserfolg erkannt, dass Sie ein Problem haben?

Megos: Ich habe mir erst viele Jahre später eingestanden, dass die Unterernährung und Unterversorgung der Grund dafür waren, dass ich da versagt habe. Damals habe ich versucht, woanders Ausreden zu suchen.

WELT: Was waren Ihre Ausreden?

Megos: Die Krämpfe mussten mit einem Magnesiummangel zusammenhängen. Es waren fadenscheinige Ausreden, die im Nachhinein alle keinen Sinn gemacht haben. Aber ich konnte mich so damals vor mir rechtfertigen. Wenn es schlecht lief, habe ich die Ausrede natürlich auch darin gesehen, dass ich zu viel gewogen oder zu viel gegessen habe.

WELT: Wann hat es bei Ihnen so Klick gemacht, dass Sie Ihr Ernährungsproblem erkannt haben?

Megos: Das muss kurz vor meinem 18. Geburtstag gewesen sein, da ging das ganze schon rund drei Jahre. Es war wieder ein schleichender Prozess. Es gab nicht den einen Aha-Moment. Ich habe irgendwann verstanden, dass ich in Denkmuster und Verhaltensstrukturen verfallen bin, die so nicht normal sind. Und die mich nicht weiterbringen, weder für meine Gesundheit noch für meinen Sport.

WELT: Ihre Eltern haben früh erkannt, was mit Ihnen passiert. Ihre Mutter hat Sie schon mit 15 Jahren zum Kinderarzt gebracht. Sie beschreiben die Termine aber in Ihrem Buch aber als „völlig wirkungslos“. Warum haben Sie in dem Moment nicht geglaubt, was Außenstehende Ihnen geraten haben?

Megos: Weil ich davon überzeugt war, es selbst besser zu wissen. Mein Ziel war, so wenig Körperfett wie möglich zu haben. Als mir der Arzt dann gesagt hat, dass ich mit ein bisschen mehr Körperfett besser gepolstert wäre, wenn ich mal hinfalle, habe ich gedacht: Hallo, ich bin doch keine sieben mehr. Was erzählst du mir für einen Scheiß? Das war aus meiner damaligen Sicht ein Quatsch-Argument. Ich habe ein Ziel verfolgt, und das nun mal mit allen Mitteln. Ich hatte den Eindruck, im Recht zu sein. Ich fühlte mich doch gut, warum sollte ich irgendwas verändern? Nur weil jemand anders einem das sagt, merkt man noch lange nicht, dass man ein Problem hat.

WELT: Sie haben den Schritt zu einer Psychologin gewagt. Wir schwer fiel es Ihnen, sich ein Problem einzugestehen, dass man eigentlich die ganze Zeit wegreden wollte?

Megos: Wenn man den Schritt zur Psychologin geht, hat man den schwersten Schritt schon getan. Es war für mich nicht so schwer, mir Hilfe zu holen. Einfach, weil ich vorher verstanden habe, dass da ein Problem ist und ich es ändern muss.

WELT: Wie lange hat es gebraucht, bis Sie ein anderes Verhältnis zu Essen entwickelt haben?

Megos: Je länger man in diesem Problem steckt, desto länger braucht man auch, um wieder rauszukommen. Es hat bei mir sicher fünf, sechs Jahre gedauert – wahrscheinlich sogar länger.

WELT: Hatten Sie auf Ihrem Weg aus der Magersucht einen speziellen Ernährungsplan?

Megos: Nein. Ich habe versucht, mich gesund zu ernähren und wieder deutlich mehr Fette gegessen. Käse, Nüsse und so weiter. Für mich war es der leichtere Weg, anstatt das pure Fett in Form von Butter aufs Brot zu schmieren, etwa Nüsse zu essen. Da ist das Fett ein bisschen versteckter. So konnte ich Körper und Geist austricksen. Was in die eine Richtung geht, geht auch in die andere Richtung.

WELT: Wenn Sie jetzt zurückblicken: Gibt es etwas, was Sie Ihrem jugendlichen Ich raten würden?

Megos: Ich würde ihm einen Haufen Sachen raten, aber ich weiß auch ganz genau, dass der jugendliche Alex Megos damals darauf nicht gehört hätte. Aber ich würde ihm raten, dass er bei dieser Essens-Thematik aufpassen muss, nicht in etwas hineinzugeraten, bei dem er Jahre braucht, um wieder rauszukommen. Letztendlich haben mich diese Erfahrungen aber zu dem gemacht, der ich jetzt bin. Jemand, der Essen wertzuschätzen weiß.

WELT: Würden Sie sagen, dass Sie heute geheilt sind?

Megos: Ich würde sagen, ich bin zu 98 Prozent geheilt. Der ultimative Test ist, ob man nur des Sports wegen ein paar Kilo abnehmen kann, aber danach kein Problem hat, diese wieder zuzunehmen. Das ist bei mir mittlerweile der Fall. Wenn ich auf ein Projekt hinarbeite, bei dem zwei bis drei Kilo weniger hilfreich sind, kann ich das machen und danach wieder mit dem Gewicht hochgehen.

WELT: Sie ernähren sich seit einigen Jahren vegan. Wie kam es dazu?

Megos: Ich habe den Film „The Game Changers“ (US-Dokumentarfilm zu den Effekten veganer Ernährung als Sportler, d. Red.) gesehen, es danach einfach mal ausprobiert. Hauptsächlich aus Umweltgründen, weil ich gemerkt habe, dass mein CO₂-Fußabdruck durch die vielen Reisen als Kletterer schon ausreichend groß war. Ich habe mich gefragt, was ich machen kann, um das ein bisschen zu reduzieren. Ein leichter Weg war, sich vegan zu ernähren. Das Experiment ging am Anfang aber erst mal in die Hose, hat gerade mal drei Monate gehalten. Es mangelte mir an Alternativen. Aber dann habe ich es später noch mal probiert und mich schrittweise umgestellt.

WELT: Welche Vorteile sehen Sie neben dem Umwelt-Aspekt in der veganen Ernährung?

Megos: Ich fühle mich körperlich besser. Ich bin weniger träge und habe weniger Verletzungen. Das war für mich wichtig, weil ich oft mit Entzündungen in den Fingern zu kämpfen hatte. Die haben deutlich nachgelassen. Fairerweise muss ich sagen, dass ich mich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Ich habe mich eingelesen und immer wieder Bluttests gemacht, um sicherzugehen, dass ich keine Mangelerscheinungen habe. Klar, das ist aufwendig. Aber ich habe das Gefühl, dass sich unsere Gesellschaft zu wenig mit Essen, vor allem mit gesundem Essen, auseinandersetzt.

WELT: Was meinen Sie genau?

Megos: Die Franzosen oder Italiener geben prozentual zu ihrem Gehalt viel mehr Geld fürs Essen aus als die Deutschen. Sie zelebrieren das viel mehr, das Beisammensein am Tisch und gute Produkte haben einen viel höheren Stellenwert. Bei uns hingegen hat der eigene Körper einen geringen Stellenwert. Es kann nicht sein, dass wir einen Haufen Mist essen und uns Null damit auseinandersetzen.

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