Es ist warm, sehr warm. Als sich die letzten Läuferinnen und Läufer in Berlin am Sonntagvormittag auf die Marathon-Strecke begeben und die Siegessäule passieren, dröhnt an einem DJ-Pult der Song „Not so bad“ von Kaos aus den Boxen.
Nicht so schlecht? Das wird sich zeigen.
55.146 Starter sind es insgesamt, die sich für die 42,195 Kilometer durch die deutsche Hauptstadt angemeldet haben. Der erste Startschuss erfolgte um 9.15 Uhr – für die Profis. In Wellen ging es weiter. 9.45 Uhr, 10.10 und 10.40 Uhr. Bis auf 27 Grad werden die Temperaturen an diesem Tag steigen.
Um kurz nach elf setzt sich ein großer weißer Bus in Bewegung – der sogenannte Besenbus. Jener Bus, der als erstes Fahrzeug in der Begleitkarawane hinter der riesigen Gruppe der Läuferinnen und Läufer beim Berlin-Marathon fährt – und den eigentlich niemand benutzen möchte. Denn das Ziel am Brandenburger Tor möchte schließlich jeder zu Fuß erreichen.
Doch so groß dieser Wunsch eines jeden Starters auch ist – nicht selten kommt es vor, dass der Körper streikt. Und das trotz monatelanger Vorbereitung, trotz all der Energie, Arbeit und Leidenschaft, die man hineingesteckt hat. Plötzlich geht nichts mehr. Man fühlt sich schlapp, ausgelaugt. Verletzt sich vielleicht, hat Schmerzen. Der Körper kann nicht mehr, und der Kopf kommt nicht mehr dagegen an. Und dann ist da dieser Bus, in den man einsteigen und sich ins Ziel bringen lassen kann. Ich bin mitgefahren.
Mit im Bus sitzen zwei Sanitäter
Wolfgang Ungewitter sitzt am Steuer, rechts von ihm in der ersten Reihe Christian Löw. Früher sind sie selbst Marathon gelaufen, nun sind sie Begleiter. Löw, der ein Busunternehmen besitzt, organisiert seit 19 Jahren den Besenbus. „Natürlich will jeder, der an den Start geht, auch ins Ziel kommen. Aber nicht immer klappt das – und dann sind wir da, um zu helfen“, sagt er. Mit im Bus sitzen zwei Sanitäter von den Johannitern.
Geschichtlich geht der erste Beleg eines Besenbusses auf die Tour de France 1910 zurück. An den Fahrzeugen war über Jahre hinweg tatsächlich ein Besen montiert. Es gehörte zur Folklore dieser Sportveranstaltung – und symbolisierte quasi den Akt, die Straße zu säubern. Später übertrug sich die Verwendung eines Besenbusses auch auf andere Sportveranstaltungen, insbesondere auf Stadt-Marathons, bei denen viele Freizeitsportler mitlaufen, die die Strecke nicht in der vorgegebenen Zeit schaffen und so vom Besenbus eingeholt werden.
In Berlin gilt dafür folgende Regel: Teilnehmende, die langsamer sind als das Zeitlimit von 6:15 Stunden (ab dem Überqueren der Startmatte), oder den Cut-off-Punkt bei Kilometer 33 um 15.50 Uhr nicht rechtzeitig erreichen, müssen die offizielle Strecke verlassen oder werden im Besenbus ins Ziel gefahren. Die Fortsetzung des Wettbewerbs auf eigene Verantwortung wird nicht zugelassen, zumal die Strecke für den Verkehr freigegeben werden muss. Hinter dem ersten und dem zweiten Besenbus fahren Kleintransporter, um Dinge von der Strecke abzutransportieren. Zäune etwa, die Zeitmessmatten oder die vielen Tische, auf denen Wasser, Tee oder Obst für die Teilnehmer bereitliegen.
Der erste Passagier ist 91 Jahre alt
Die Zeit rennt – anders als in New York, wo es beim Marathon kein Zeitlimit gibt. In Berlin muss der erste Läufer an diesem Sonntag bereits nach einem Kilometer passen. Karl-Heinz Clemens, 91 Jahre alt, steigt in den Bus. „Ich habe es probiert. Aber ich kann nicht mehr. Ein Zeh ist verstaucht, da konnte ich nicht so viel trainieren, wie ich wollte“, sagt Clemens. Er nimmt Platz und erzählt, dass es sein „35. oder vielleicht auch schon 40. Marathon-Start“ war. Und er erzählt auch, dass er 1974 beim ersten Berlin-Marathon gelaufen ist – und damit einer von 286 Teilnehmenden war. Damals betrug die Startgebühr 1,60 Mark, inzwischen kostet es 200 Euro.
Während Clemens aus dem Fenster schaut, ist Christian Löw auf der Straße. Er ist kurz ausgestiegen und spricht einen Läufer an, der nach rund anderthalb Kilometern schon so langsam unterwegs ist, dass er das Zeitlimit in dem Tempo nicht schaffen wird. Es ist ein Starter aus Kolumbien, wie Löw berichtet, als er wieder im Bus sitzt. Der Mann, so haben sie sich verständigt, will nun auf dem Bürgersteig weiterlaufen. Er will es probieren, aufgeben möchte er trotz der Temperaturen noch nicht. „Das sind extreme Wetterbedingungen“, sagt Sabrina Mockenhaupt. Die ehemalige Langstreckenläuferin ist als Expertin für RTL beim Marathon dabei – die Übertragung läuft auf einem Tablet im Besenbus.
Bei Kilometer vier, es ist kurz vor zwölf Uhr, verlässt Karl-Heinz Clemens den Besenbus. Er will Freunde und Bekannte treffen, die am U-Bahnhof Turmstraße warten. Dass er aus dem Bus steigt, überrascht die Freunde. Aber sie freuen sich, ihn zu sehen.
Der weiße Bus fährt weiter, meist in Schrittgeschwindigkeit, nur selten etwas schneller. Vor ihm, mit etwas Abstand, fährt ein „Besenroller“. Peter Bartel, ebenfalls einer der 286 Teilnehmer vom ersten Berlin-Marathon, steht auf ihm. Im vergangenen Jahr war er mit 82 Jahren als gefeierter Letzter ins Ziel gekommen – und dem Besenwagen knapp entkommen.
Jetzt rollt er an den Läuferinnen und Läufern vorbei, spricht sie auch mal an, macht ihnen Mut. Als eine Frau umgeknickt, lässt er den Roller fallen und eilt zu ihr. Bartel hilft ihr hoch. Er sei gern dabei, um zu helfen, hat Bartel erzählt, bevor er sich mit seinem Besenroller auf den Weg begeben hat. Selbst könne er inzwischen nicht mehr laufen. Da würden die Knochen und Gelenke nicht mehr mitspielen.
Aus Läufern werden Spaziergänger
Die Hitze fordert ihren Tribut. Immer mehr spazieren nur noch vor dem Bus her. Sie können nicht mehr joggen, nicht mehr rennen. Ihr Gangbild ist gezeichnet von den zurückliegenden Kilometern. Löw telefoniert bei Kilometer sieben. Die Situation würde sich für ihn so darstellen, wie sonst bei Kilometer 20, 22. „Das ist schon krass“, findet er. Wie extrem die Bedingungen sind, zeigt auch die Tatsache, dass die Siegerin bei den Frauen – Rosemary Wanjiru – nach ihrem Zieleinlauf erst einmal in einer Eistonne verschwindet, ehe sie erste Interviews gibt, so kaputt ist sie.
Kurz vor dem Friedrichstadtpalast verlässt Löw den Besenbus erneut. Er joggt nun vor ihm her und spricht viele Läufer gezielt an. Er teilt ihnen mit, dass sie über dem Zeitlimit sind und auf dem Bürgersteig laufen müssten, da die Strecke hinter dem zweiten Bus zeitnah für den Verkehr wieder freigegeben wird. Nicht viele folgen seiner Bitte. Sie probieren es weiter, wollen nicht aufgeben.
Der Besenbus fährt an ihnen vorbei – und auf den nächsten Kilometern noch an vielen anderen Läufern. Es sind unzählige Starter, die Probleme haben und schon über dem Zeitlimit sind. Löw befürchtet viele Diskussionen, die es ab Kilometer 33 geben könnte – am Cut-off-Punkt. Jenem Punkt also, wo jeder aussteigen muss, der nicht um 15.50 Uhr oder einige Minuten später dort ist.
„Ich habe es versucht, doch ich fühle mich schlapp“
Auf der Homepage des Veranstalters SCC Events heißt es dazu: „Das Zeitlimit ist 6:15 Stunden ab Überqueren der Startlinie. Teilnehmende, die bis 15:50 Uhr KM 33 oder bis 16:35 Uhr den KM 38 nicht erreicht haben, müssen die offizielle Strecke verlassen und auf dem Gehweg weiterlaufen bzw. werden im Besenbus ins Ziel gefahren. Bitte beachte, dass du dann keine Ergebniszeit, keine Medaille und auch keine Nachzielversorgung erhältst.“
Der Bus füllt sich nun etwas. Anne sitzt jetzt drin. Sie ist extra aus Kanada angereist und hatte sich auf ihren ersten Berlin-Marathon gefreut. Nun hat sie Tränen in den Augen. „Ich habe gut trainiert, aber in den vergangenen Tagen hat der Magen nicht so mitgespielt. Ich habe es versucht, doch ich fühle mich schlapp“, sagt sie.
Zwei Reihen hinter ihr sitzt eine Läuferin aus Südamerika. Sie ist hingefallen und hat sich wahrscheinlich den Arm gebrochen. Kurz vor Kilometer 15 steigt Marcus dazu. „Ich wollte mich nicht mehr quälen. Es ist einfach zu heiß, das hat keinen Sinn gemacht. Zwischendurch wurde mir schon schwindlig. Schade, aber es ist, wie es ist“, erzählt der 56-Jährige. Es war sein 19. Berlin-Marathon – sein 55. Marathon insgesamt. Er ruft seine Frau an. Sie unterhalten sich. „Pass auf dich auf“, hört man sie am Ende sagen.
Der Besenbus rollt und rollt. Bei Kilometer 17, kurz hinter dem Hermannplatz, passiert er immer mehr Menschen, die mit sich selbst und der Hitze ringen. 27 Grad, sagt Busfahrer Ungewitter, seien es laut seiner Anzeige. Dieser Berlin-Marathon hat es in sich. Das bestätigt auch Löw: „Man sieht wirklich viele Menschen, denen die Hitze scheinbar sehr zu schaffen macht. Viele walken nur noch und sind einfach nur fertig. Das hatten wir so lange nicht.“
Sharon benötigt ihr Insulin
Bei Kilometer 18 verlässt Sharon den Bus. Sie war kurz zuvor eingestiegen. Die Schmerzen am Fuß seien unerträglich gewesen, sagt sie. Nun will sie in die U-Bahn, um Freunde zu treffen. Die haben auf der Strecke mit Insulin auf sie gewartet. Das braucht sie nun.
Bei Kilometer 22, also kurz nach der Halbmarathonmarke, verlasse ich den Besenbus. Es werden schon jetzt immer mehr Teilnehmer, die vor Erschöpfung kaum noch laufen oder gehen können. Die sich tapfer quälen – und versuchen, der Hitze mit letzter Kraft zu trotzen. Wie sehr die hohen Temperaturen vielen Startern zu schaffen machen, zeigt sich auch noch auf den letzten Kilometern. Bei Kilometer 39 etwa ist ein Mann kollabiert. Endstation Leipziger Straße. Er sitzt auf dem Boden, umgeben von Sanitätern, die Umstehende nach Wasser fragen, da sie selbst offenbar auf Nachschub warten. Ich reiche meine Flasche. Dem Mann kann geholfen werden. Ob er weiterlaufen konnte, weiß ich nicht.
Später am Abend erfahre ich, dass es viele Diskussionen am „Cut-off-Punkt gab“. Einige Läufer ignorierten, dass sie über dem Zeitlimit sind und liefen einfach weiter. Für den einen oder anderen sogar mit einem glücklichen Ende, denn es gab Teilnehmer, die wurden teils mit 20 Minuten über dem Zeitlimit gewertet und erhielten ihre Medaille, die sie auf ewig an den 51. Berlin-Marathon erinnern wird. Aber etliche gingen leer aus, denn irgendwann musste auch der letzte abgesperrte Abschnitt wieder freigegeben werden.
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