Das Ende hatte surreale Züge. Die Dortmunder standen auf dem Rasen, blickten sich ungläubig an. Die Turiner jubelten, als ob sie gewonnen hätten. Und Ramy Bensebaini, der mit Blick auf den seltsamen Ausgang des dramatischen Champions League-Spiels bei Juventus Turin eine besondere, aber äußerst tragische Rolle gespielt hatte, wirkte fast schon abwesend – so, als er hätte er gerade einen bösen Traum. Doch es war real: Die Mannschaft von Niko Kovac „verlor“ 4:4 (0:0) bei Juventus – weil sie es nicht schaffte, eine 4:2-Führung über die Zeit zu bringen und sich in der Nachspielzeit noch zwei Gegentore gefangen hatte.

Das erste hatte Bensebaini eingeleitet. Weil der Algerier, als er seitlich vom eigenen Strafraum stand, den Ball ans Schienbein von Pierre Kalulu schießen wollte, um einen Einwurf herauszuholen. Doch das gelang nicht – und Kalulu leitete das 3:4 ein. Das war in der zweiten Minute der Nachspielzeit. Es war der Moment, in dem die bereits geschlagenen Italiener wieder neuen Mut fassten – und abermals zwei Minuten darauf tatsächlich noch das 4:4 machen konnten. Lloyd Kelly (90.+6) hatte getroffen.

„Ich sage nicht umsonst: Hinten gibt es keine Play-Zone. Gerade in der Nachspielzeit darf der Ball eigentlich gar nicht mehr im Spiel sein“, erklärte Kovac – der unmittelbar nach Schlusspfiff doch sehr an sich halten musste. Wie konnte es sein, dass sein Team, das in der zweiten Halbzeit eine starke, teils beeindruckende Offensivleistung gezeigt und vier Tore erzielt hatte – von denen eines, ein verwandelter Strafstoß, auch noch auf das Konto von Bensebaini ging – dieses Spiel am Ende doch nicht gewinnt?

In der Kabine waren die Fehler der Schlussphase großes Thema

Das Problem ist leicht zu personalisieren: Weil Bensebaini kein Gespür für den Ernst der Lage entwickeln konnte. Genau wie Yann Couto, der, statt einfach zur gegnerischen Eckfahne zu gehen, den Ball im Spiel hielt und so den Italienern erst die Möglichkeit für diesen Angriff gab. Es ließen sich auch weitere Dortmunder Profis benennen, die sich plötzlich nicht mehr professionell verhielten.

„So wie dieses Spiel gelaufen ist, ist es eine extreme Enttäuschung“, sagte Gregor Kobel. In der Kabine seien die Fehler in der Schlussphase ein „großes Thema“ gewesen, so der Torhüter. „Wir müssen einfach erwachsener spielen, mehr Fouls machen, die Zeit herunterlaufen lassen, abgezockter sein und auch mal ein bisschen dreckig spielen“, erklärte er. Die Mannschaft müsse dies schnell lernen. Sonst, so Kobel, könnte es gerade in der Königsklasse, in der die Gegner über „viel Qualität“ verfügen, eine böse Überraschung geben.

Die Tragik ist allerdings nicht nur, dass der BVB auf fahrlässige Weise zwei Punkte liegen ließ – dies ließe sich in den noch sieben ausstehenden Spielen in der Ligaphase korrigieren. Das größere Problem, das sich daraus ergeben könnte, ist psychologischer Natur: Die Dortmunder traten am Mittwoch äußerst frustriert die Heimreise an. Denn niemand sprach mehr von den teilweise stark heraus gespielten Toren, von ihrem mutigen Auftritt.

Damit dies nicht völlig in Vergessenheit geriet, erinnerte Kovac daran. „Meine Mannschaft hat ein tolles Spiel gemacht. Die Jungs haben alles rausgehauen“, sagte er und sprach darüber, wie der BVB, der im ersten Durchgang die Partie zwar kontrolliert, aber nicht mutig gespielt hatte, in der zweiten Hälfte von Minute zu Minute stärker wurde. Etwa, als Karim Adeyemi die Führung (53.) erzielt hatte und Felix Nmecha nur eine Minute nach dem Ausgleich von Juventus mit einem perfekten Schuss von der Strafraumkante zum 2:1 (65) traf. Oder wie Yann Couto einem bereits verlorenen Ball nachsetzte und das 3:2 beisteuerte (67.)

Die Attitüde, die die Dortmunder in dieser Phase an den Tag legten, war die einer Spitzenmannschaft. „Natürlich, wenn ich die letzten Minuten bewerte, bin ich enttäuscht. Aber ich lasse es mir nicht nehmen: Wir haben viele gute Sachen gesehen, die nehmen wir mit“, erklärte Kovac: „Wir haben vier Tore bei Juventus geschossen. Ich glaube, da muss man schon tief in die Bücher schauen, um jemanden zu finden, dem das gelungen ist.“

Kovac arbeitet in Situationen, in denen er die Gefahr sieht, dass aus Frust Verunsicherung entstehen könnte, mit positiven Verstärkungen. Das hatte er schon im vergangenen Frühjahr getan, als er, damals gerade frisch in Dortmund, feststellte, dass bestimmte Spieler mit Selbstzweifeln zu kämpfen haben. So verglich er Julian Brandt mit Jamal Musiala und Florian Wirtz – und sagte, dass es Niklas Süle noch zur WM schaffen kann. Aktuell geht es Kovac darum, dass die Spieler die Schlussphase von Turin möglichst schnell aus den Köpfen bekommen – und die Fans nicht anfangen, schon wieder über die Mentalität der Mannschaft zu diskutieren. So etwas geht in Dortmund nämlich schnell.

Die Borussen sind gebrannte Kinder. In den vergangenen Jahren hat es verschiedene Ereignisse mit gravierenden, teils traumatischen Folgen gegeben, die bei Bedarf immer wieder heraus gekramt werden: Die am letzten Spieltag der Bundesligasaison 2022/23 verspielte Meisterschaft. Die fahrlässig vergebenen Torchancen im Champions-League-Finale 2024, als am Ende dann doch Real Madrid den Henkelpott holte. Seitdem hat sich zwar viel getan – Kovac hat den BVB stabilisiert. Saisonübergreifend ist die Mannschaft seit zwölf Pflichtspielen ungeschlagen. Das soll sich aber auch so schnell nicht ändern.

Wie groß die Autorität des Trainers ist, zeigte sich am Dienstag in einer viel beachteten Szene. Als der BVB in der 86. Minute einen Strafstoß zugesprochen bekam, stritten sich Bensebaini und Serhou Guirassy um die Ausführung. Kovac tobte und sprach ein Machtwort: Bensebaini, den er eingeteilt hatte, sollte schießen. Guirassy trollte sich. „Ramy wird auch weiterhin schießen“, stellte Kovac klar: „Es sei denn, er ist einmal so nett und sagt zu Serhou: So, du kannst jetzt auch einmal einen schießen.“

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