Es war noch Jürgen Klopp, der den Liverpool FC gern als Robin Hood des englischen Spitzenfußballs darstellte. Gegen die überlegenen Finanzressourcen von Klubs wie Manchester City oder Chelsea könnten sie an der Anfield Road nur ihren legendären Enthusiasmus stellen, argumentierte der deutsche Trainer und erhob seine Erfolgsägide damit fast in den Rang des Märchens. Von seinem seit gut einem Jahr amtierenden Nachfolger Arne Slot gibt es solche Worte nun nicht mehr zu hören. Wie auch? Liverpool ist jetzt selbst der Tyrann unter den Shoppingkönigen der Premier League.
Rund 380 Millionen Euro hat der Klub diesen Sommer allein für Angreifer ausgegeben, das egalisiert fast die 400 Millionen Euro, mit denen Paris Saint-Germain 2017 einen Epochenwechsel im Fußball einleitete. Waren bis dahin nie mehr als 105 Millionen Euro für einen Transfer gezahlt worden, legte der Katar-Klub damals 222 Millionen für Neymar und 180 Millionen für Kylian Mbappé hin.
In Liverpool gibt es für fast dieselbe Summe nun immerhin drei Profis: Alexander Isak (145 Millionen Euro aus Newcastle) und Florian Wirtz (125 Millionen aus Leverkusen) reihen sich auf den Plätzen drei und fünf in die teuersten Spieler der Fußballgeschichte ein, Hugo Ekitiké (95 Millionen aus Frankfurt) schafft es noch gerade so unter die Top 20. Was einst Fassungslosigkeit hervorrief, nähert sich dem Standardtarif – angesichts eines vom Weltverband Fifa kommunizierten Rekordumsatzes von 9,76 Milliarden Dollar auf dem weltweiten Transfermarkt.
Ein Selbstläufer ist die Sache mit dem vielen Geld trotzdem nicht. Paris musste Neymar und Mbappé bekanntlich erst wieder verlieren, um ein – natürlich auch nicht billiges – Erfolgsteam zu komponieren und in der vergangenen Saison die erste Champions League der Klubgeschichte zu gewinnen. Auch gegen diese Ironie spielt Liverpool an, wenn es am Mittwoch gegen Atlético Madrid in die neue Europapokalsaison geht.
Van Dijk und Salah bleibt wenig Zeit
Die Rekordausgaben erheben die „Slot Machine“ automatisch in den Rang des ersten Titelkandidaten, da können sie an der Anfield Road noch so viel von Umbruch und Verjüngungsprozess sprechen. Englischer Meister waren sie ja schon im vergangenen Spieljahr und führen auch in dieser Saison nach dem 1:0 gegen Burnley die Tabelle an. 2024/25 schlossen sie außerdem die Champions-League-Vorrunde als erstes der 36 Teams ab, trafen dann eben nur im Achtelfinale schon auf den PSG, dem sie im Elfmeterschießen unterlagen.
Das soll nicht wieder passieren, zumal den etablierten Stars, Abwehrchef Virgil van Dijk, 34, und Rechtsaußen Mohamed Salah, 33, nur noch wenig Zeit bleibt, ihren bisher einzigen Triumph von 2019 zu wiederholen. Beide blieben dank üppiger Vertragsaufbesserungen für ihre letzten Tänze an der Mersey.
Europas Auguren bestätigen Liverpools Favoritenrolle. Bei den Buchmachern rangiert Englands Meister knapp vor Hansi Flicks FC Barcelona und dem PSG. Deutlichere Abstufungen ermittelt die Künstliche Intelligenz. Laut dem Großrechner des Branchendienstes Opta liegt Liverpool mit 20,4 Prozent Titelchancen klar vorn, gefolgt von Ligakonkurrent Arsenal, einem weiteren Großeinkäufer des Sommers, mit 16 Prozent. Dem PSG attestiert Big Data nur Aussichten von 12,1 Prozent, Barcelona nur 8,4, historischen Granden wie Real Madrid und dem FC Bayern gar nur 5,8 respektive 4,3 und Vorjahresfinalist Inter Mailand gerade mal drei Prozent. Genau so viel gibt es für Newcastle United, dabei hat der neue Klub von Nick Woltemade in seiner Geschichte noch kein einziges Mal eine K.o.-Runde der Champions League erreicht.
Nun sind die Ankündigungen englischer Hegemonie schon so etwas wie ein altbekanntes Ritual. Allsommerlich blickt Europa bang auf die Investitionen der Inselklubs und ruft das große Schlottern aus. Am Ende kommt der Sieger dann aber doch meistens vom Kontinent. In den vergangenen 20 Jahren gingen nur fünf Titel nach England, in den vergangenen zehn nur drei, und die Crème de la crème des Sports kickt weiter auf dem Festland. Aktuell etwa nicht nur die beiden Topfavoriten auf den Goldenen Ball, Ousmane Dembélé (PSG) und Lamine Yamal (Barcelona), sondern selbst die größten englischen Stars Jude Bellingham (Real) und Harry Kane (Bayern).
Premier League sprintet der Konkurrenz davon
Genauso unbestreitbar ist andererseits, dass die englische Premier League die stärkste in der Breite ist. Um eine ähnliche Leistungsdichte zu erzeugen, müssten sich Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich schon zusammenschließen. Nicht umsonst gaben die englischen Erstligavereine mit 3,6 Milliarden Euro diesen Sommer mehr Geld aus als die vier Eliteligen vom Festland zusammen. Dass die Finalisten der Europa League, Tottenham Hotspur und Manchester United, im heimischen Betrieb gleichzeitig nur die Plätze 17 und 15 belegten, illustriert das hohe Alltagsniveau.
In diesem Alltag ist Liverpool vor dem Gastspiel am Sonntag in Burnley schon wieder als einziges Team ohne Verlustpunkt, tat sich aber bei allen drei Siegen schwer. Schließlich gibt es auch Verluste zu verschmerzen. Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold verließ seinen Jugendklub zu Real Madrid, im Angriff verloren die „Reds“ Luis Díaz für 70 Millionen Euro an den FC Bayern und Diogo Jota tragisch auf der Autobahn, dazu wurde in Darwin Núñez der auch schon nicht wirklich billige Rekordtransfer der Klopp-Zeit für gut die Hälfte der damals investierten 85 Millionen Euro nach Saudi-Arabien abgegeben.
Insgesamt bleibt ein Import/Export-Defizit von knapp 300 Millionen Euro bei Gesamtausgaben von rund 500 Millionen Euro, denn es gibt im Fußball ja nicht nur den Angriff, sondern auch die Abwehr: Milos Kerkez aus Bournemouth, Jeremie Frimpong aus Leverkusen und Giovanni Leoni aus Parma kosteten zusammen 120 Millionen Euro, und dabei blieb es nur, weil ein zwischen den Klubspitzen vereinbarter Deal für Crystal Palaces Marc Guéhi am letzten Transfertag noch durchfiel. Palace-Trainer Oliver Glasner drohte mit Rücktritt, das bereits abgedrehte Goodbye-Video wurde kassiert (in Umlauf gelangte es trotzdem), der bereits abflugbereite Privatjet storniert.
„Wir müssen uns gegenüber der Vorsaison verbessern, weil die Konkurrenz sich verbessert hat“, erklärt Trainer Slot den Umbau. Trotz komfortablen zehn Punkten Vorsprung vergangene Saison gebe es „nichts zu romantisieren“, so der analytische Niederländer gewohnt kühl.
Liverpool mit Problemen in der Mittelfeld-Zentrale
Nach den ersten Eindrücken der neuen Spielzeit hat Slot tatsächlich noch einiges zu tüfteln. Erst gab es zu viele Gegentore, da fehlten die Absicherungen. Zuletzt im Spitzenspiel gegen Arsenal gelang dann trotz heimischer Kulisse wenig nach vorn, alles steuerte auf ein 0:0 zu, ehe Dominik Szoboszlai kurz vor Schluss einen Freistoß aus weiter Entfernung im Tor versenkte.
Skeptiker bemängeln Defizite im Mittelfeld – dem einzigen Mannschaftsteil, in dem Liverpool nicht shoppen ging. Dabei erweist sich das Spielzentrum gerade in internationalen Wettbewerben immer wieder als Schlüssel zu Titeln. In Jürgen Klopps „Heavy Metal“-Fußball mag es zuvorderst als Kampfzone und Durchgangsstation definiert und dadurch nicht ganz so wichtig gewesen sein.
Slot verfolgt jedoch einen Ansatz mit mehr Spielkontrolle. In der Liga wie in der Champions-League-Vorrunde konnte ihn seine Mannschaft auch zumeist durchsetzen. Gegenüber anderen Topteams Europas allerdings wirkt die Zentrale mit Alexis MacAllister und Ryan Gravenberch etwas dünn bekleidet, zumal für die beiden Stammspieler annähernd gleichwertige Alternativen fehlen. Im Achtelfinale gegen den PSG war das Ergebnis knapper als der Spielverlauf. Liverpool wurde über weite Strecken dominiert.
Richten muss es also die Flucht nach vorn: der 400-Millionen-Euro-Angriff. Noch wartet Isak, der erst am letzten Transfertag kam, auf seinen ersten Einsatz und Wirtz auf sein erstes Tor. Ekitiké hat bereits zweimal getroffen, doch ob und wie er und Isak überhaupt zusammen in eine Mannschaft passen, wird auf der Insel noch heiß diskutiert. Beide agieren bevorzugt als Mittelstürmer, nun muss womöglich Ekitiké auf links ausweichen, wo allerdings Cody Gakpo bisher eine starke Saison spielt. Wirtz dürfte als mittlere Halbspitze ebenso gesetzt bleiben wie Salah auf rechts.
Liverpools bisher wichtigstes Stürmertor der Saison erzielte unterdessen ein 16-Jähriger. Rio Ngumoha (mittlerweile 17) traf vor drei Wochen bei Newcastle in der zehnten Minute der Nachspielzeit zum 3:2 und avancierte damit zum jüngsten Torschützen der Klubgeschichte. Wie viele Chancen das Talent bei so viel Konkurrenz noch bekommt – auch das gehört zu den Fragen bei Europas neuem Krösus.
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