Als für Hertha BSC beim Auswärtsspiel in Hannover beinahe alles dahingeht, schmeißt sich ein Veteran in einen Ball. Das Spiel kippt und der Stern eines 16-jährigen Rekordhalters scheint plötzlich noch etwas heller.
Wer die Faszination des Fußballs erleben wollte, war am gestrigen Samstag im ehemaligen Niedersachsenstadion genau am richtigen Ort. Innerhalb nur einer Minute kippt da eine Partie, die vorher nur in eine Richtung läuft. Kippt eine Partie, in der unter Druck stehende Berliner alles reinwerfen und es doch zu wenig zu sein scheint.
Entscheidenden Anteil an dem, was danach passiert, hat einer, der zum ersten Mal überhaupt von Beginn an auf dem Platz steht. Denn beim Spiel zwischen Hannover 96 und Hertha BSC feiert Mittelfeldspieler Kennet Eichhorn mit gerade einmal 16 Jahren und 48 Tagen sein Debüt in der Startelf der Gäste. Jünger war in der zweiten Bundesliga noch niemand. Die Nummer 23 der Alten Dame aus der Hauptstadt ist fundamental für das überraschende 3:0 (0:0) der Berliner (Highlights hier auf RTL+). Sie verleiht der Mannschaft Ruhe und Tempo, sie kreiert mit Mut Räume, die vorher nicht existieren.
Lobeshymnen über Lobeshymnen
"Er war für mich der beste Spieler auf dem Platz", wird Hertha-Trainer Stefan Leitl nach dem Spiel auf Sky sagen: "Ich fand es unfassbar, wie der Junge hier gespielt hat. Er spielt gegen die momentan beste Mannschaft der Liga vor 50.000 Zuschauern und spielt so ein Ding runter. Hut ab." Eichhorn hat ihm natürlich auch viel Unruhe erspart. Eine weitere Niederlage hätte die Diskussionen um den Trainer der Hertha nur befeuert.
Das Vertrauen Leitls in den Teenager hat sich an diesem Abend ausgezahlt. Die Berliner hatten ihn unter der Woche vorzeitig von der U17 des DFB zurückbekommen. So kann Kapitän Fabian Reese über den "Super-Jungen" und "unglaublichen Fußballer" jubeln. Herthas Erleichterung hat in Hannover viele Namen, doch einer erklingt besonders laut: Kennet Eichhorn.
Der debütiert Anfang der Saison als Einwechselspieler. Er wird der jüngste Zweitligaspieler der Geschichte. Gegen Hannover stellt er den nächsten Rekord auf. Umworben von nationalen und internationalen Top-Klubs hat er seinen Vertrag in Berlin erst Anfang Juli langfristig verlängert.
Veteran springt, Teenager passt
Dass Eichhorns Name überhaupt so laut erklingen kann, hat viel mit einer Szene in der 51. Minute des Spiels zu tun. Die unter ihrem neuen Coach Christian Titz offensiv-radikalen Hannoveraner rennen immer wieder an. Sie spielen sich mit Keeper Nahuel Noll den Ball hoch in der eigenen Hälfte zu und überfallen dann Herthas Hälfte.
Im Abschluss ignorieren sie das Glück. Schon in der ersten Halbzeit vergeben sie reihenweise gute Gelegenheiten. Jannik Rochelt (4.) und Benedikt Pichler (9.) scheitern an Torhüter Tjark Ernst und Verteidiger Virgil Ghita setzt einen Kopfball aus kurzer Distanz genau auf den Kopf des auf der Torlinie lauernden Berliners Marton Winkler (39.). Winkler soll später noch einmal auf der Linie klären und seine Aktien ebenfalls in der entscheidenden Situation des Spiels haben.
Auch in der zweiten Halbzeit ändert sich zunächst nichts. Dann beginnt die 51. Minute. Hannover bricht über die rechte Seite durch. Sie spielen auf ihre Fans in der Nordkurve zu und wollen nun endlich Kapital aus ihrem Übergewicht schlagen. Wieder einmal fliegt ein Ball in Richtung Fünfmeterraum, Mustapha Bundu hat sich durchgesetzt. In der Mitte wehrt Ernst den Ball nach vorn ab. Dort wartet Hannovers Husseyn Chakroun. Er kann jetzt das hochverdiente 1:0 für Hannover erzielen. Er scheitert. Nicht, weil sein Abschluss schlecht ist. Er scheitert, weil der 35-jährige Veteran Toni Leistner sich im letzten Moment in den Schuss wirft. Der bedingungslose Einsatz des alten Manns ist die Bedingung für all die Lobgesänge auf den Teenager Eichhorn.
"So viel Talent sieht man selten"
Noch in der eigenen Hälfte gewinnt David Kownacki den zweiten Ball nach dem Befreiungsschlag aus der Abwehr. Über Michael Cuisance wandert der Ball rüber auf die rechte Seite zu Fabian Reese. In der Zentrale fordert Eichhorn den Ball, er bekommt ihn, dreht unter Gegnerdruck auf und öffnet damit einen komplett neuen Raum auf der anderen Seite des Spielfelds. Mit nur einer Bewegung macht er aus einer 2:5-Unterzahlsituation eine Überzahlsituation auf der anderen Seite des Spielfelds. Sein Pass auf Kownacki und dessen schnelles Auge für Winkler überfordern den bis dahin starken Japaner Hayate Matsuda. "Das ist ein unglaublicher Junge", sagt Torschütze Winkler nach dem Spiel. "So viel Talent sieht man selten."
Während Hertha in Führung geht, reißt unter dem jungen Flügelspieler der Hannoveraner der Boden auf. Er versinkt immer tiefer und tiefer und tiefer. Rund zehn Minuten später gräbt ihn Trainer Titz aus dem Loch und wechselt ihn aus. Auf Herthas Seite läuft das Spiel über Eichhorn, der nur einmal in der 58. Minute seine Jugend zeigt. Da ist er nach einem zu kurzen Hannover-Rückpass durch. Er muss nur noch den an der Mittellinie positionierten Torhüter Noll umspielen oder ihn mit einer Bewegung zu einer Notbremse verführen. Beides gelingt ihm nicht. Ihm fehlt die Erfahrung.
Immer wieder lässt er mit seinen Bewegungen Hannovers Spieler in die Leere laufen. Immer wieder schmeißt er sich in Zweikämpfe, geht auf den Boden, setzt sich dort beinahe sitzend gegen zwei Mann durch und zieht dann noch ein Foul. Mit großer Ruhe am Ball und dem Wissen um den richtigen Moment für taktische Fouls, führt der Kapitän der deutschen U17-Nationalmannschaft Hertha an diesem Abend in Hannover zum Sieg. Irgendwann geht es nicht mehr. Er bricht mit Krämpfen zusammen, wird vom vollkommen frustrierten Gegenspieler Kolja Oudenne vom Platz gerollt und durch den erst 17-jährigen Boris Mamuzah Lum ersetzt.
Eichhorn, der Teenager aus dem nördlichen Speckgürtel der Hauptstadt, hat am gestrigen Samstag dafür gesorgt, dass in Berlin wieder mehr geträumt und weniger gezweifelt wird. Der Klub hing in dieser 51. Minute im ehemaligen Niedersachsenstadion schwer in den Seilen, dann übernahm er das Kommando. Als tief in der Nacht die letzten Hertha-Fans in Richtung Bahnhof schlendern, steht es längst fest: "Dit is unser Jahr. Wir gehen hoch", sagt einer, der sich am nächsten Tag wohl kaum noch an seine Worte erinnern wird. An Eichhorn schon.
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