Seit 2022 arbeitet der ehemalige Nationalmannschafts-Kapitän Michael Ballack als Experte für den Streamingdienst DAZN. Dort hat er die Bundesliga ebenso wie die Champions League ganz genau im Blick. Kommende Woche geht die Königsklasse wieder los. Dann werden sich die Blicke besonders auf die englischen Klubs, die in diesem Rekordsummen für Transfers gezahlt haben, richten.

Frage: Herr Ballack, am 16. September startet die Champions League in ihre neue Saison. Ist der FC Liverpool nach seinem 500-Millionen-Euro-Transfer-Großangriff der Top-Favorit?

Michael Ballack: Schon vergangene Saison gehörte Liverpool zu den Favoriten. Nun wurde das Anspruchsdenken mit den Verpflichtungen unter anderem von Alexander Isak, Florian Wirtz oder Hugo Ekitiké (allein das Trio kostet ohne Bonuszahlungen 365 Mio. Euro; d. Red.) untermauert. Die Investitionen sind eine klare Ansage, die Champions League gewinnen zu wollen. Trotzdem ist Liverpool nicht der ultimative Anwärter auf den Titelgewinn.

Frage: Warum?

Ballack: Das Aufrüsten bringt auch eine große Erwartungshaltung mit sich. Und was nicht zu unterschätzen ist: Es muss sich in der Mannschaft eine neue Hierarchie bilden. Das ist immer ein Prozess, der kann dauern. Das hat die Vergangenheit gezeigt, beste Beispiele sind Paris oder Manchester City, die trotz ihrer Investitionen auch einige Zeit brauchten, um die Champions League zu gewinnen.

Frage: Welche Erwartungen haben Sie an Florian Wirtz?

Ballack: Es herrscht ein sehr großer Konkurrenzkampf in der Liverpooler Mannschaft, die Erwartungen an Florian Wirtz sind gestiegen, von außen. Oder die er an sich selbst hat. Und es wird anfangs nicht so sein wie in Leverkusen, dass jeder für ihn spielt, er fast jeden Ball bekommt. Darum ist es legitim, dass er sich noch ein Stück weit zurechtfinden muss. Aber er ist ein so außergewöhnlicher Fußballer, darum mache ich mir um ihn keine Sorgen. Für ihn und seine Entwicklung ist der Schritt, nach England zu gehen, nicht verkehrt gewesen.

Frage: Auch die Münchner hatten um Wirtz geworben – erfolglos. Nick Woltemade, der für 85 Millionen Euro Basisablöse zu Newcastle ging, bekamen sie ebenfalls nicht. Daraufhin verglich Ehrenpräsident Uli Hoeneß seinen FC Bayern in der Champions League mit Hoffenheim in der Bundesliga. Ist das ein Eingeständnis, keine große Rolle mehr in Europa zu spielen?

Ballack: Die Aussage muss man richtig einordnen. Bayern ist immer noch in der Lage, international jeden zu schlagen. Und was die Spielergehälter betrifft, da glaube ich schon, dass sie mit den Großen in Europa mithalten können.

Frage: Anders ist es bei den Ablösesummen?

Ballack: Natürlich zahlen die englischen Klubs Wahnsinns-Beträge. Doch auch für Wirtz waren die Bayern bereit, ein bis zu 100 Millionen Euro teures Paket zu schnüren. Und was Nick Woltemade betrifft: Das ist ein anderer Fall. Bayern hat einen Finanz-Haushalt. Den Klub hat es seit Jahrzehnten ausgezeichnet, sich nicht zu verschulden und groß gemacht. Darum verstehe ich, dass Bayern bei Woltemade entschied, nicht mehr als 55 Millionen Euro Ablöse zahlen zu wollen. Weil der Spieler für sie nicht mehr wert war. Grundsätzlich geht es mir aber um etwas anderes.

Frage: Worum genau?

Ballack: Nehmen wir das Beispiel Wirtz: Macht es für ihn und seine Entwicklung Sinn, noch zwei, drei Jahre in der Bundesliga bei den Bayern zu spielen? Natürlich gewinnt er dort Meisterschaften. Aber ist die Bundesliga für ihn noch die Challenge auf allerhöchstem Niveau? Nein, denn die Bundesliga wurde von der Premier League schon vor Jahren abgehängt. Das ist die Realität. Darum ist sie in der Regel für die absoluten Top-Spieler auch nicht mehr so attraktiv. Deshalb müssen Veränderungen her.

Frage: An welche denken Sie?

Ballack: Die Bundesliga muss etwas tun. Ich habe die 50+1-Regel immer kritisch gesehen. Man muss sich dem Thema Investoren öffnen, damit die Bundesliga nicht noch weiter an Boden verliert im Vergleich zur Premier League oder zu den anderen großen europäischen Klubs.

Frage: Zurück zu den Bayern, die 2026 die Champions League gewinnen wollen. Worauf kommt es für sie an?

Ballack: Vincent Kompany macht seine Sache als Trainer grundsätzlich gut. Entscheidend wird sein, ob aus der vergangenen Saison die Lehren gezogen wurden. Denn das offensive Spiel mit dem hohen Verteidigen birgt schon ein gewisses Risiko. Wenn der FC Bayern selbstbewusst agiert und zu dem Spiel findet, was den Verein ausmacht, dann ist er wettbewerbsfähig. Zum Nachteil könnte werden …

Frage: Was?

Ballack: Dass den Bayern in der Bundesliga mit der Ausnahme der Saison 2023/24, als Leverkusen Meister wurde, der Konkurrenzkampf fehlt. Man braucht diese regelmäßige Challenge, um in den großen Spielen auf internationaler Bühne, die auf einem anderen Level stattfinden, zu bestehen.

Frage: Gehört Bayern zu den Top-Favoriten?

Ballack: Wie gesagt: Die Bayern können jeden Gegner schlagen. Aber wir müssen über das Momentum sprechen: In der vorigen Saison sind sie im Viertelfinale gegen Inter Mailand ausgeschieden.

Frage: Und seit 2020 hat Bayern nur einmal das Halbfinale erreicht und scheiterte bei der Klub-WM ebenfalls in der Runde der letzten acht Mannschaften.

Ballack: Darum gehört Bayern für mich nicht zu den absoluten Top-Favoriten, sondern ist ein Herausforderer. Ich zähle auch Manchester City nicht zu den Top-Favoriten nach den vergangenen Leistungen und wegen des Umbruchs.

Frage: Dafür Real Madrid?

Ballack: Auch nicht. Dort ist die Situation ein wenig vergleichbar mit der bei Manchester City.

Frage: Wer zählt noch zu Ihren Favoriten?

Ballack: Natürlich der FC Barcelona. Die Mannschaft ist stark, hat vor allem mit Lamine Yamal einen überragenden Unterschieds-Spieler in ihren Reihen – und mit Hansi Flick einen Trainer, der passt. Man muss natürlich Paris St-Germain als Titelverteidiger zu den Top-Favoriten zählen. Die Mannschaft hat sich unter Trainer Luis Enrique zu einem Top-Team gefunden.

Frage: Und wer könnte die Überraschung werden?

Ballack: Vielleicht der FC Chelsea. In der Vergangenheit wurde sehr viel Geld in die Mannschaft investiert. Jetzt scheint es sich auszuzahlen. Chelsea hat bei der vergangenen Klub-WM gezeigt, dass es große Titel gewinnen kann. Der Erfolg wird sehr viel Selbstvertrauen geben.

Frage: Welche Rolle trauen Sie Borussia Dortmund zu?

Ballack: In den vergangenen zwei Jahren hat der BVB in der Champions League super performt mit der Final-Teilnahme 2024 und den guten Spielen im Viertelfinale gegen Barcelona 2025. Was ich nur nicht verstehe: Dass es die Dortmunder nicht in der Bundesliga schaffen, dauerhaft gut aufzutreten. Im Alltag haben sie ihre Probleme.

Frage: Was sind die Gründe?

Ballack: Die Borussia sollte sich nicht nur als Ausbildungsverein und Champions-League-Aspirant definieren, sondern als wirklicher Konkurrent des FC Bayern, wenn es um die Meisterschaft geht. Dadurch könnte man aus meiner Sicht noch viel mehr aus den Spielern herausholen – als wenn man sich mit weniger zufriedengibt.

Frage: Steht Leverkusen vor einer schwierigen Champions-League-Saison?

Ballack: Nach den zahlreichen Abgängen von Schlüsselspielern – dazu auch noch Alonso als Trainer verloren – wird es schwer für Leverkusen. Das macht etwas mit einer Mannschaft, das ist nicht einfach aufzufangen. Das haben die ersten Spiele in der Bundesliga gezeigt. Das Achtelfinale zu erreichen, wäre ein großer Erfolg.

Frage: Vierter deutscher Vertreter ist Frankfurt.

Ballack: Die Eintracht wird eine gute Rolle spielen, vielleicht reicht es bis zum Viertelfinale oder sogar zu noch mehr. Die Mannschaft ist superstabil. Trainer Dino Toppmöller hat sich mit seiner Ruhe und ausgeglichenen Art sowie Fach-Kompetenz etabliert und ist ein absoluter Sympathieträger. Hinzu kommen die unglaubliche Fan-Base und die Euphorie. Alles Punkte, die dazu führen können, dass Frankfurt mit etwas Glück ebenfalls zu den ganz großen Überraschungen werden kann.

Der Artikel wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) verfasst und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.

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