Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft nimmt tüchtig Druck vom Kessel. Nach dem vergeigten Auftakt in die WM-Quali gegen die Slowakei gelingt zumindest im Ergebnis Wiedergutmachung gegen Nordirland. Alles wieder gut? Eher nicht.
Fußball-Fans sind vor allem in einer Sache besonders gut: im Vergessen. Als die deutsche Nationalmannschaft am späten Sonntagabend über einen 3:1 (1:1)-Sieg gegen Nordirland jubelte, gab es Applaus. Der war vor allem versöhnlich, in einigen Momenten vielleicht ein bisschen zu überschwänglich angesichts der Vorgeschichte im Kölner Stadion. Zur Halbzeit hatten die deutschen Fans wütend gepfiffen. Mitte der zweiten Hälfte nochmal, als unter anderem Nick Woltemade vom Feld ging. Die Tribünengäste waren stinksauer. Sie waren mit viel Geld in Vorleistung getreten und bekamen ein erneutes Schreckensstück angeboten. So hatten sie nicht gewettet.
14 Monate nach der Heim-EM, die so viele gute Gefühle um die Nationalmannschaft produziert hatte, drohte dieser Sommerabend ganz fürchterlich zu werden. Zum nächsten Fiasko nach dem vergeigten Auftakt in die WM-Qualifikation gegen die Slowakei am Mittwoch. So viele Katastrophenszenarien wurden vorab gezeichnet, sogar eine Niederlagenserie aus dem Jahr 1913 als Referenz für den aktuellen Zustand des DFB-Teams bemüht.
Es stand 1:1, als Woltemade in der 61. Minute ging und das Stadion pfiff. Nur im kleinen grünen Block in einer Ecke war die Stimmung bestens. Die Nordiren hatten einen riesigen Spaß, bewarfen sich mit aufgeblasenen Schwimmreifen und Bällen. So viel Leichtigkeit hier. So viel Schwermut dort.
Der Ball? Etwas Sonderbares!
Deutschland war durch Serge Gnabry früh in Führung gegangen. Alleine war der Bayern-Spieler durchgebrochen und schloss mit einem Lupfer elegant ab. Woltemade hatte bei der Vorbereitung seine mittlerweile 90 Millionen schweren Füße im Spiel, die sonst aber bleiern an seinen staksigen Beinen hafteten. Nagelsmann freute sich sehr und für Augenblicke wirkte es so, als könnte die DFB-Elf das Debakel in Bratislava als Betriebsunfall abstempeln. Aber dann geschah Folgendes: nichts. Deutschland hatte auch fortan zwar viel den Ball, aber die meisten Spieler betrachteten das runde Ding als etwas Sonderbares, wenig Freudvolles. Gewinnbringende Ideen hatten sie nicht.
Dann schlugen die Nordiren nach einer Ecke zu. Das Zustandekommen war ebenso unnötig, wie die Folge. Alles war fürchterlich schlecht verteidigt. Von Antonio Rüdiger, von Pascal Groß und zuletzt von Serge Gnabry. Und so drosch Isaac Price den Ball volley über Keeper Oliver Baumann ins Tor. Was eine Eskalation in Grün. Was für eine Emotionalität. Nagelsmann hätte das sicher gefallen, wenn es nicht zu seinem Schaden und dem seines Teams gewesen wäre. Die Emotionalität war nämlich als großes Ding von ihm entlarvt worden. Würden die Deutschen ihre ganzen Gefühle auf den Platz bringen, dann würde weniger über Misserfolg diskutiert werden. Auf diesen kleinen Nenner kann man die große Debatte seit Donnerstag verdichten.
Ungewöhnliche Personalentscheidungen
Für Köln hatte Nagelsmann seine Mannschaft deutlich größer umgebaut als erwartet, nur noch sechs Spieler aus Bratislava blieben in der Startelf. Und er überraschte durchaus mit der Wahl der Neulinge. In der Abwehr durfte nur Antonio Rüdiger bleiben, an der Seite von Joshua Kimmich spielte Pascal Groß und rechts offensiv war Jamie Leweling die erste Wahl. An dem Stuttgarter ließ sich die steigende Betriebstemperatur des deutschen Teams vielleicht am besten ablesen. Ein bisschen warm am Anfang, deutlich abgekühlt nach der eigenen Führung, schockgefrostet nach dem Ausgleich und immer heißer, je länger das Spiel dauerte. Leweling brachte zunächst nur Sicherheitspässe über wenige Meter an den Mann, am Ende rannte er mit Ball über das ganze Feld und an jedem Gegenspieler vorbei. Er war einer der wenigen Gewinner des Doppel-Lehrgangs.
Ein anderer war Nadiem Amiri. Bislang war dessen Länderspielgeschichte eher ein Lebensabschnitt, über den man nicht so gerne spricht, doch nun kam er rein und riss den ganzen Kölner Laden an sich. Er holte einen Freistoß raus, grätschte, spielte einen Pass in die Tiefe. Er tat Dinge, die sich Nagelsmann gewünscht und von vielen anderen nicht bekommen hatte. Und dann traf Amiri. Zum 2:1. David Raum flankte von links, eigentlich wollte er den ebenfalls eingewechselten Maxi Beier finden. Er war zwar auch irgendwo da, aber weil sich der nordirische Keeper Bailey Peacock-Farrell tüchtig verschätzte, war der Ball plötzlich bei Amiri und drin (69.).
Und dann kam auch noch der magische Wirtz, der die Last des stets etwas Überirdisches tun zu müssen, mit einem überragenden Freistoß abschüttelte (72.). Deutschland war wieder leicht, wieder frei. "Die letzten 30 Minuten war das wieder unser Gesicht", freute sich Nagelsmann. Die Energie stimmte, die Emotionalität.
Die Erleichterung jubelt mit
Der Bundestrainer sprang nach dem 2:1 auf wie ein aufgeregter Teenie auf seinem ersten Technofestival und jubelte sich die Anspannung aus den angespannten Muskeln. Das wirkte ein wenig entrückt, denn der Mann will eigentlich im nächsten Jahr Weltmeister werden. Nun feierte er das 2:1 gegen die Nummer 71 der Weltrangliste und betonte, dass das doch nichts Besonderes sei, er würde halt immer so jubeln. Sei's drum, ein bisschen Erleichterung jubelte da schon mit - dank des glücklichen Händchens. "Nadiem ist immer auf dem Gaspedal. Er hat immer Lust, Spiele zu gewinnen. Das war schon in der U17 oder U19 so. Er kam rein und hatte einfach Bock. Er hat sich zerrissen. Deswegen freut es mich sehr für ihn, weil er alles reingeworfen hat, was uns in der Phase des Spiels sehr gut getan hat." Amiri und Leweling als Hoffnungsträger, das sagt auch viel über die deutsche Stimmung aus, die sich an jeden Halm der Hoffnung heftet.
Nagelsmann war in Debatten verstrickt worden, von denen er nichts mitbekommen haben wollte, jedenfalls bis zum Samstagabend, als er von einem nordirischen Journalisten gefragt worden war, ob er Angst habe, seinen Job zu verlieren. Nein, sagte der Bundestrainer und wirkte erstaunt. Der Sieg gegen die Nordiren wird zumindest die akuten Diskussionen ein wenig befrieden. Die nächsten Monate wird es kein mediales Casting geben. Aber auch keine Glücksgefühle, wenn man an die DFB-Elf denkt. Denn zu viel klappt einfach nicht. Nicht mal gegen einen fußballerisch sehr limitierten Gegner. Vor allem Woltemade gibt Rätsel auf. Und auch Florian Wirtz kämpft um seine Form. Die aberwitzigen Ablösen lasten vielleicht doch stärker auf ihrem Gemüt als zu befürchten war.
Und auf manch einem Spieler lastet womöglich der zu hohe Anspruch des Bundestrainers. Der will sein Team unbedingt weiterentwickeln, ihm taktisch neue Impulse geben. Es nervt ihn, dass man seit März 2024 taktisch immer dasselbe macht. Dass er die Spieler mit seinen Experimenten, die er doch eigentlich gar nicht machen wollte, überfordert, war nach dem Slowakei-Spiel Thema gewesen. Kapitän Joshua Kimmich räumte diese These nun ab: "Der Trainer hat seine Idee und wir versuchen, die umzusetzen. Ich habe nicht das Gefühl, dass das zu viel Inhalt ist." Aber er gestand auch erneute Schwächen ein: "Wir waren die bessere Mannschaft, kassieren dann das 1:1. Danach haben wir nicht die Antwort gefunden. Wir haben es nicht so gut geschafft, in die gegnerische Hälfte zu kommen. Da haben wir uns in der zweiten Halbzeit ein bisschen leichter getan."
Jetzt nicht auf himmelhochjauchzend machen
Die Offensive krampfte weiter, ehe sich Leweling immer mehr zutraute und Amiri das Spiel an sich zog. Aber ein ideenloses Ballgeschiebe bei Vermeidung jedweden Risikos kann nicht der Anspruch sein und wird nicht reichen, um das WM-Ziel zu erreichen. Das verbannt der Bundestrainer vorerst aus seinem Wortschatz. Er denkt für den Moment nicht visionär, sondern erarbeitet sich das Gefühl wieder im Kleinen. "Wir schauen auf das Momentum und konzentrieren uns auf die Spiele. Ich finde es ein bisschen vermessen, nach Donnerstag, wo alles in Schutt und Asche lag, jetzt auf himmelhochjauchzend zu machen." Daran wolle er sich nun nicht beteiligen. "Dieser Lehrgang war zu 50 Prozent zufriedenstellend, der nächste sollte zu 100 Prozent zufriedenstellend sein. Wir versuchen, die vier Spiele zu gewinnen, um auf uns zu schauen."
Von himmelhochjauchzend war die Stimmung in Köln auch weit entfernt. Als sich die Mannschaft kurz nach dem Abpfiff auf die Ehrenrunde begab, war das Stadion schon halb leer. Vergessen waren die Pfiffe bei den Fans, nicht aber beim Bundestrainer. "Die Zuschauer gehen mit einer gewissen Erwartungshaltung ins Stadion, die dann offensichtlich aber nicht erfüllt wurde. Das kann ich auch nachvollziehen. Auf der anderen Seite schaue ich mir auch Spiele an, und ich bin auch nicht immer super zufrieden, trotzdem pfeife ich nicht."
Und dann verließ Nagelsmann doch nochmal für einen Moment seinen kleinen Kosmos und betrachte das große Ganze, wie schon nach dem EM-K.-o. im vergangenen Sommer. Die Pfiffe mag er nicht, sagte er, "weil ich glaube, dass es den Menschen da unten nichts bringt. Wenn wir alle wie Hyänen im Busch sitzen und warten, bis man endlich wieder beißen und sagen kann, wie schlecht jemand ist und dass er alles beschissen macht - ich glaube nicht, dass man sich dann so super entwickelt als Land. Ich habe auf der einen Seite Verständnis und auf der anderen Seite einen Wunsch für etwas anderes." Das beste Rezept gegen Pfiffe: guter Fußball. Der Fan verzeiht nämlich ebenso schnell, wie er vergisst.
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