Das hat niemand kommen sehen. Mit zwei Heim-Siegen gegen Hertha BSC und den VfL Bochum mischt Schalke 04 vorerst in der oberen Hälfte der zweiten Liga mit. Ausgerechnet ein Geistesblitz eines Bochumer weckt die Königsblauen aus ihrer Nostalgie.
Einmal geht ein lautes "Ja" durch die Arena in Gelsenkirchen. Der Schalker Torhüter Loris Karius pariert in der 25. Minute einen Elfmeter des Bochumer Neuzugangs Kevin Vogt. Der Jubel klingt wie ein Tor. Sonst gibt es lange wenig zu feiern in Gelsenkirchen. Es gibt auch wenig zu sehen. Es ist Zweitligafußball. Doch es kommt daher wie so viel mehr.
Das im Vorfeld zum Nachbarschaftsduell degradierte Zweitliga-Derby zwischen Schalke 04 und dem VfL Bochum ist lange Zeit harte Kost. Am Ende einer furiosen Schlussphase siegen die Gastgeber mit 2:1 (0:0) (Highlights bei RTL+). Mit nun sechs Punkten aus drei Spielen klopfen die Königsblauen weiter den Dreck der vergangenen Saison ab. Die Anhänger träumen von einer Saison weit weg von den Abstiegsplätzen und natürlich auch ein ganz kleines bisschen von der Rückkehr in die Bundesliga.
Zumindest die ersten beiden Saisonsiege in den Heimspielen gegen Hertha BSC und eben den VfL Bochum lassen erahnen, dass die Fans nicht ganz verkehrt liegen werden. "Wir haben diesen neuen Geist und glauben an uns", sagt Schalkes Trainer Miron Muslic nach dem Spiel bei RTL.
Schalke war ganz tief unten im Schacht
Muslic hat Schalke 04, diesen torkelnden, nostalgiebeladenen Ruhrpottgiganten wiederbelebt. Über jetzt schon vier Spiele in Liga und Pokal. Und über 20 Minuten im kurzzeitig verloren geglaubten Spiel gegen den VfL Bochum. Doch von mehr als dem neuen Geist will er noch nichts wissen.
Nach dem Abpfiff hämmert Muslic das seiner Mannschaft ein: "Beide Füße am Boden - wir wissen, aus welcher Situation und Saison wir kommen." Sie kommen von ganz tief unten. Wo schon so viele Klubs vor ihnen waren und von wo schon so viele für so lange Zeit nicht mehr zurückgefunden haben.
Auf Schalke suchen sie noch den Weg zurück aus der Vergangenheit, die hier präsenter als in anderen Stadien des Landes ist. Besonders dann, wenn es auf die momentan größte Bühne geht, die ihnen der Fußball noch bietet. Dann schmeißen sie sich Auf Schalke noch ein wenig mehr in Schale, singen das Steigerlied noch ein wenig inbrünstiger, schauen noch ein wenig seliger auf die dazu laufenden Bilder auf dem Videowürfel.
Dort auf dem Quadrat hoch oben in der Arena wird die Arbeitervergangenheit dieser Region verklärt. Da laufen Aufnahmen von Triumphzügen und aus dem alten Gelsenkirchen. Es sind Bilder in Schwarz und Weiß, die den Klub tief in der Geschichte verankern und ihm aber auch ein kleines wenig die Zukunft rauben. Die über die Jahre einfach verschwunden ist, auch wenn sich damit niemand abfinden will.
Die Schlote ragen hoch hinaus, das Spiel nicht
Das zeigt auch eine beeindruckende Choreo vor dem Spiel. "Ruhrpott", heißt es da und da drunter: "Der Stolz einer Region - es regiert der FC Schalke 04." Das ist vielleicht so. Denn Borussia Dortmund, der andere große und ebenfalls ewig torkelnde Ruhrpottgigant, hat über die Jahre sein Regierungsgebiet etwas verändert. Dort im Osten des Ruhrgebiets gibt man sich weltmännisch, will man als Leuchtturm strahlen.
Auf Schalke strahlt kaum jemand, dort dominieren noch die Gestalten der langsam versinkenden Welt des alten Potts. "Kohle unter unseren Füßen, Schlote ragen hoch hinaus, unsere Heimat Ruhrrevier, unser Klub der S04", singen sie hier und auch vor dem Spiel gegen den VfL Bochum ist das so.
Die Partie selbst bietet für derlei Gedanken viel Raum. Sie ist umkämpft, wird anfangs vom VfL Bochum dominiert. Die erspielen sich ein paar gute Chancen, drücken Schalke tief in die eigene Hälfte und können sich dafür doch nichts aufschreiben. Zur Halbzeit steht es 0:0. Das Spiel ist arm an Highlights und reich an Erinnerungen.
Alles, was gut war, ist lange her
Es ist das erste Spiel gegeneinander in der 2. Bundesliga. Vorher trafen sie sich oben. Zweimal fügte der VfL den Schalkern großen Schmerz zu. In den Beinahe-Meisterjahren 2001 und 2007 verkündeten Niederlagen in Bochum das kommende Unheil. Doch das ist lange her. Wie so vieles hier. Der letzte Weltstar, der letzte Sieg in der ersten Liga, der letzte Titel.
Aktuell, gegen Mitte der zweiten Halbzeit, sind auch die letzten Erinnerungen an wirklich gefährliche Aktionen lange her. Immer mal wieder gelingt es jetzt den Schalkern, die Kontrolle über das Spiel zu erlangen, aber gefährlich wird es selten. Als das Spiel endgültig in der Nostalgie-Soße abzusaufen droht. Als ein zäher Kampf im Mittelfeld die Zuschauer immer tiefer in die Vergangenheit ihrer Vereine drückt. Als auf den Tribünen die Erinnerungen an alte Zeiten aufleben und die Realität der 2. Bundesliga ausgeblendet wird - da katapultiert ein Geistesblitz das Stadion zurück zu diesem 23. August 2025. Draußen ist es mittlerweile dunkel. Alles wird jetzt erleuchtet.
Über Umwege kommt der Ball in der 65. Minute zu Bochums Mittelfeldspieler Cajetan Lenz. Der 19-jährige Lulatsch, einer der Gewinner der Sommervorbereitung, könnte es aus der Distanz probieren. Seine Position hat einen Expected-Goals-Wert von vielleicht 0,01, die Wahrscheinlichkeit, aus der Entfernung Karius zu überwinden, ist also nicht gegeben.
Das weiß auch Lenz, der herrlich in die Tiefe auf den am Strafraum lauernden Philipp Hofmann legt, der klatscht ab auf Mats Pannewig. Weil Karius auch von dem 20-Jährigen nicht überwunden werden kann, fällt Gerrit Holtmann der Ball vor die Füße und schlägt wenig später doch noch im Tor ein. Dabei hatten die Gäste in der zweiten Halbzeit eigentlich die Kontrolle über das Spiel hergeschenkt.
Keine Kohle, keine Spieler- S04
"Wir haben eine gute zweite Halbzeit gespielt, dann kam aus dem Nichts das 0:1", sagt Schalkes Trainer Muslic später nach diesem Sieg, der die Trümmer des Chaos der Vorsaison wohl endgültig beiseite wischt.
Das, was gegen Ende der Saison 2024/2025 an Unmut der Anhänger über den Klub gekommen war, hatte den Ursprung in der großen Leidenschaft eben dieser für das Mysterium Schalke 04. Die Pendelschläge hier im Norden des Potts sind besonders heftig. Darauf sind sie stolz. Sie tragen ihr Herz auf der Zunge und das hat viel mitmachen müssen in all den Jahren.
Der bittere Absturz aus den Höhen der Champions League, der Abschied vom ewigen Scheitern im Kampf um die Meisterschaft, die Abstiege in die 2. Bundesliga und das Aufwachen in einer, wie man in diesen Jahren sagt, alternativlosen Realität. Keine Kohle, keine Spieler, keine Zukunft. Nur noch diese mächtige Vergangenheit.
15 Jahre aus dem Wimmelbild gelöscht
Die aus den Videos auf dem Videowürfel beim Steigerlied in der Arena, aber auch die, die der russische Angriffskrieg auf die Ukraine aus den Kleiderschränken der Anhänger des Klubs vertrieben hatte. Denn große Teile der jüngeren Vergangenheit sind visuell mit Gazprom verbunden.
Der Gazprom-Schriftzug war bald 15 Jahre Teil des Klubs, er prangte auf den Trikots und war überall auf den Werbebanden zu sehen. Der ehemalige Boss Clemens Tönnies war dem russischen Machthaber Wladimir Putin freundschaftlich verbunden. Die Fans lehnten sich auf, forderten bereits 2014 nach der Annexion der Krim Veränderungen. Die gab es nicht. Weil Tönnies zu mächtig war.
Diese Gazprom-Trikots trägt niemand mehr. Und mit ihnen verschwinden die großen Namen wie Raul, wie Benedikt Höwedes oder Klaas-Jan Huntelaar aus dem Wimmelbild rund um die Arena und in der Arena. Die Personen nicht. Von der Tribüne aus beobachtet der Hunter in dieser 65. Minute nun den Führungstreffer der Gäste aus Bochum. Einen wie den ehemaligen Torschützenkönig der Bundesliga haben sie hier Auf Schalke schon lange nicht mehr.
Die Spieler kommen wegen Schalke
Ein lautes Stadion haben sie immer noch. Ihre Geschichte haben sie immer noch. Sie wissen das. Der neue Sportvorstand Frank Baumann weiß auch, wie er das einsetzt, um ohne Geld einen wettbewerbsfähigeren Kader ins Rennen zu schicken. "Als ich die Möglichkeit hatte, hierherzukommen, musste ich nicht lange nachdenken. Ich habe so viel Bock auf Schalke 04", sagt zum Beispiel Finn Porath, der nach dem Schalker Sieg auf Ehrenrunde durch das Rund denkt: "Dafür stand ich früher stundenlang auf dem Platz." Baumann hatte nicht viel gebraucht, um Porath von Schalke zu überzeugen.
Gegen Bochum steht der ehemalige Kieler noch nicht so lange auf dem Platz. Gerade erst vom Liga-Konkurrenten aus Schleswig-Holstein in den Pott gelotst, wird er kurz nach dem 0:1 durch Holtmann eingewechselt. Neben ihm erscheinen in der 70. und 71. Minute in kurzer Abfolge auch Bryan Lasme und der Bochumer Colin Kleine-Bekel zum Dienst. Dieses Trio wird das Spiel noch entscheidend beeinflussen.
Mit seinem ersten Schuss als Schalker löst er ein mittelschweres Beben aus. Hasan Kurucay lenkt den Ball ungewollt im Strafraum stehend an Bochums Timo Horn vorbei ins Tor. Eine Erlösung auch für Neuzugang Kurucay. Der hatte sich unter der Woche ebenfalls beeindruckt von der Wucht des Klubs gezeigt, mit einem maximal dummen Handspiel aber den Elfmeter für Bochum herausgeholt. Karius rettet ihn in der ersten Halbzeit, jetzt rettet sein Fuß das Spiel.
Wenig später treten dann auch noch Lasme und Kleine-Bekel gegeneinander an. Der Schalker, der Königsblau neulich noch verlassen sollte, nimmt einen starken Pass von Soufiane El-Faouzi auf und lässt Kleine-Bekel dann wie einen D-Jugendlichen aussehen. Er trifft und mit ihm stürzt ein ganzes Stadion aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Die Arena Auf Schalke bebt, auf der Tribüne sind die Schwingungen zu spüren und der Lärm will nicht mehr abebben.
Die Anhänger des FC Schalke 04 sind an diesem Samstag mit Hoffnung aufgebrochen und haben das Ende ihrer Reise mit einem verwirrenden Gefühl erreicht: Plötzlich ist das nicht mehr nur die Hoffnung, sondern auch der Glaube. Das gab es lange nicht mehr.
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