Mittag am FC Bayern Campus. Georgia Stanway kommt aus einer Besprechung mit der Mannschaft auf dem Trainingsgelände der Frauen des deutschen Fußball-Rekordmeisters. Die 26-Jährige gehört zu den bekanntesten Fußballerinnen Europas. Auf Instagram folgen der Mittelfeldspielerin der Münchner knapp 500.000 Menschen, im Juli gewann sie mit der englischen Nationalmannschaft in der Schweiz zum zweiten Mal in Folge die EM. Stanway trägt ein T-Shirt, an ihren Armen sind zahlreiche Tattoos zu erkennen.

WELT: Frau Stanway, wie viele Tattoos haben Sie?

Georgia Stanway: Ich habe ewig nicht gezählt. Es dürften inzwischen über hundert sein. Die meisten sind sehr klein.

WELT: In der Bundesliga ist das wohl Rekord. Haben Sie sich den EM-Pokal schon tätowieren lassen?

Stanway: (zeigt auf ein Tattoo am Unterarm) Dies hier zeigt die Uhrzeit, an dem unser gewonnenes EM-Finale 2022 abgepfiffen wurde. Eine Freundin von mir aus der Nationalmannschaft, Lotte Wubben-Moy, ist sehr kreativ. Ich habe sie gebeten, mir ein Tattoo zu entwerfen, das Zürich oder Basel symbolisiert – die EM eben. Ich habe auch meine „Heritage Number“ tätowiert – ich war die 209. Spielerin, die je für England gespielt hat.

WELT: Viele Fußballer und Fußballerinnen sind tätowiert. Das Besondere bei Ihnen: Sie tätowieren auch selbst.

Stanway: Ja, ich liebe es. Ich verbringe viel Zeit in Tattoostudios. Das ist mein Rückzugsort, mein kreativer Raum. Gerade als ich neu in München war, habe ich auf diesem Weg viele Freundschaften geschlossen. Das Tätowieren ist für mich wie Fußball: Man muss konzentriert sein, auf Details achten – und trägt Verantwortung. Das Tätowieren beruhigt mich und gibt mir Abstand vom Fußball.

WELT: Inwiefern hat sich Ihr Leben seit dem erneuten EM-Gewinn verändert?

Stanway: Es fühlt sich immer noch total surreal an. Das ganze Turnier war eine Achterbahnfahrt. Wir hatten Rückschläge, mussten oft einem Rückstand hinterherlaufen, aber wir haben unseren Charakter und die richtige Mentalität gefunden, um den Pokal zu holen. Einmal so etwas zu erleben, ist sehr besonders. Aber zweimal? Ich glaube, das werde ich nie ganz verarbeiten. Die vergangenen Wochen waren absolut außergewöhnlich. In England kann ich kaum noch rausgehen, ohne erkannt zu werden.

WELT: Genießen Sie das? In Deutschland können die meisten Nationalspielerinnen viel ruhiger leben.

Stanway: Dass wir in England nun mehr wahrgenommen werden, zeigt, dass wir einen guten Job machen und etwas bewegen. Vielleicht inspirieren wir Menschen. Ich möchte ein Vorbild sein, das Ehrgeiz, Leidenschaft und Siegeswille verkörpert – das ist mein Charakter.

WELT: Werden Sie in Deutschland auch mehr erkannt?

Stanway: München ist da ruhiger – eine Art Zufluchtsort für mich. Nach großen Turnieren bin ich oft direkt zurück nach Deutschland gekommen, um hier meinen Urlaub zu beginnen. Diesmal war ich länger in England und habe zum ersten Mal so richtig gespürt, wie intensiv das Leben dort inzwischen geworden ist.

WELT: Inwiefern hat der Frauenfußball einen anderen Stellenwert als in Deutschland?

Stanway: Ich wurde in England ausgebildet, habe in Deutschland also nicht so viel mit der Fußball-Basis zu tun gehabt. In England wird viel Wert daraufgelegt, dass Mädchen im Schulsport Fußball spielen können – mit festem Platz im Stundenplan. Das ist toll und wichtig. Es sollte auch in Deutschland außerhalb der großen Städte genug Möglichkeiten für Mädchen geben, Fußball zu spielen. Ich finde, man muss die Plattform, die man durch Erfolg bekommt, auch nutzen, um etwas zu bewegen. Das tun wir in England, und ich hoffe, dass auch in Deutschland Spielerinnen wie Giulia Gwinn und Lena Oberdorf noch mehr so eine Rolle übernehmen können. Sie haben in Deutschland das Ansehen, um wichtige Veränderungen herbeiführen zu können.

WELT: Kann der Frauenfußball in Deutschland so groß werden wie in Ihrer Heimat England?

Stanway: Davon träume ich. Und möchte meinen Teil beitragen. England setzt derzeit den Standard. Deutschland sollte keine Angst haben, sich zu vergleichen. Manchmal ist vergleichen das Beste, was man tun kann.

WELT: Inwiefern?

Stanway: Mit anderen Vereinen sprechen und sich anzuschauen, wie sie die Dinge angehen – das ist wichtig. Mehr Wege finden, um sich gegenseitig zu inspirieren. Der Blick auf andere Länder und andere Ligen, die Gespräche mit anderen Klubs können sehr helfen.

WELT: Am 6. September eröffnen Sie mit dem FC Bayern in der Allianz Arena die Saison gegen Bayer Leverkusen. Bislang sind bereits über 40.000 Karten verkauft, es wird eine Rekordkulisse sein. Im Bundesliga-Alltag allerdings kommen oft nur wenige tausend Zuschauer in die Stadien der Liga. Wie beurteilen Sie die Entwicklung des Frauenfußballs in Deutschland?

Stanway: Nicht falsch verstehen: Ich mag es sehr in Deutschland. Aber wir brauchen hier noch mehr Weiterentwicklung. In England spielen der FC Arsenal oder Chelsea regelmäßig im Emirates Stadium oder an der Stamford Bridge – da spricht keiner mehr vom „Männerstadion“. Das wünsche ich mir auch für Deutschland, dass die Vereine regelmäßiger große Stadien bespielen. Dass wir 40.000 Menschen in die Allianz Arena bekommen, zeigt, dass wir auf einem großartigen Weg sind und was in Zukunft möglich ist.

WELT: Man kann oft den Eindruck haben, dass den Mannschaften im Frauenfußball gesellschaftliches Engagement besonders wichtig ist. Bei der EM machte ihr Team Rassismus gegen Ihre Kollegin Jess Carter in den sozialen Netzwerken öffentlich.

Stanway: Das ist extrem wichtig. Niemand sollte so etwas erleben müssen – weder im Fußball noch im Alltag. Wir als Team stehen füreinander ein, das haben wir sinnbildlich gemacht. Dass Spielerinnen sich trauen, offen Missstände anzusprechen, zeigt, wie eng wir als Team zusammenstehen. Wir haben entschieden, nicht mehr zu knien, sondern zu stehen – damit es Diskussionen und Aufmerksamkeit gibt. Es geht aber nicht nur um Rassismus.

WELT: Um was sonst noch?

Stanway: Wir beim FC Bayern haben zum Beispiel gerade kürzlich wieder unsere Namen in Gebärdensprache aufgenommen. Diese Clips werden jetzt wie bei den Männern in der Allianz Arena und auch wieder auf unserer Website zu sehen sein – das sind kleine Dinge mit großer Wirkung. Denn alle sollen sich einbezogen fühlen. Der FC Bayern ist eine Heimat für alle Menschen.

WELT: Was ist die größte Herausforderung für den Frauenfußball?

Stanway: Weiter zu wachsen, ohne dass Klubs auf der Strecke bleiben. Manche Vereine haben nicht die finanziellen Mittel, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. Und auf dem Rasen müssen wir sicherstellen, dass die Spiele spannend und hochwertig bleiben. Unser Sport entwickelt sich generell: Die Transfersummen steigen, die Klubs investieren mehr in die Infrastruktur.

WELT: Sie sind bereits mit 16 Jahren Profi geworden, haben für Blackburn Rovers und Manchester City gespielt. Haben Sie je gedacht: Ich opfere für meinen Sport so viel, ich verpasse etwas im Leben?

Stanway: Nie. Fußball war schon immer mein Leben. Seit ich es im Fernsehen gesehen habe, wusste ich: Ich will Profifußballerin werden. Ich hatte immer diese Mentalität: Wenn ich etwas will, dann ziehe ich es durch – auch wenn ich dafür auf Dinge verzichten muss. Für mich waren das nie echte Opfer. Die haben meine Eltern erbracht. Ohne ihre Opferbereitschaft wäre ich nicht hier. Ich komme aus Barrow-in-Furness im Norden Englands. Die nächste Mädchenmannschaft war zwei Stunden entfernt. Als ich nicht mehr mit Jungs spielen durfte, mussten meine Eltern mich ständig fahren. Ich bin mit drei Brüdern aufgewachsen, es gab immer Wettbewerb zwischen uns. Ich habe darum gekämpft, im Auto vorn zu sitzen. Jeder wollte als Erster mit dem Essen fertig sein. Wir sind eine sportliche Familie, in unserem Haushalt ging es immer um das Gewinnen. Auch deshalb bin ich ein Wettkampf-Typ.

WELT: Sie sind mit der deutschen Surferin Camilla Kemp zusammen. Gibt es Parallelen zwischen Fußball und Surfen? Können Sie etwas von Ihrer Partnerin lernen?

Stanway: Definitiv. Für mich ist es total wichtig, nach Hause zu kommen und nicht nur über Fußball zu sprechen. Camilla hilft mir, demütig zu bleiben. Sie zeigt mir, wie gut wir es im Fußball haben – was die Bedingungen angeht. Beim Surfen ist das ganz anders, die Athletinnen und Athleten müssen viel selbst organisieren. Dafür ist bei ihr alles selbstbestimmter. Das inspiriert mich. Ich habe sogar mal versucht zu surfen.

WELT: Und? Können Sie gut surfen?

Stanway: Ich würde es nicht surfen nennen (lacht). Ich bin eher gestanden als gesurft.

WELT: Sie haben im Fußball viele Titel gewonnen. Wovon träumen Sie noch?

Stanway: Mein Traum ist, die Champions League zu gewinnen – und die Weltmeisterschaft. Im WM-Finale 2023 gegen Spanien zu verlieren, war extrem hart. Ich will wissen, wie es sich anfühlt, ganz oben zu stehen.

WELT: Kann Ihr Traum mit dem FC Bayern in der neuen Saison wahr werden?

Stanway: Ich hoffe es. Wir müssen hart arbeiten und uns zunächst auf das Hier und Jetzt konzentrieren. Ich bin sehr zuversichtlich.

WELT: Bei der Meisterfeier mit den Männern des FC Bayern auf dem Marienplatz sangen Sie mit Harry Kane nach der Vorsaison „Sweet Caroline“. Musik-Experten waren sich einig: Gesanglich geht noch mehr. Was singen Sie mit Kane nach dieser Saison im Falle von Titeln?

Stanway: Es lag natürlich nicht an Harry und mir, es lag an der Techno-Version des Liedes, das gespielt wurde. Wir werden wieder Sweet Caroline singen. Und uns gesanglich bessern, versprochen. Als Duett mussten wir uns erst finden (lacht).

Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen.

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