Sie war jung, unbekümmert und enorm erfolgreich auf der größten Bühne des Sports, wenig später kamen Drama, Gold und Rekord hinzu. Mit diesen Zutaten avancierte Franziska van Almsick zum ersten gesamtdeutschen Sportstar nach dem Mauerfall, zum Teenie-Idol und Werbegesicht. Gerade mal 14 Jahre alt war die Berlinerin, als sie bei den Olympischen Spielen 1992 in Barcelona mit je zweimal Silber und Bronze zum Liebling der Nation wurde. Es folgten zwölf Jahre Spitzensport mit Höhen, Tiefen und dem Comeback bei der Heim-EM 2002, als sie ihren eigenen Weltrekord über 200 Meter Freistil brach. Nur eines gewann sie nie: Olympiagold.
Heute wohnt die 47-Jährige, die mit ihrem Lebensgefährten, dem Unternehmer Jürgen B. Harder die Söhne Don Hugo und Mo Vito hat, mit Familie und Hund Nils in Heidelberg. Ihr Privatleben ist ihr wichtig und heilig. Sie ist stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der Stiftung Deutsche Sporthilfe und setzt sich mit ihrer Stiftung sowie verschiedenen Projekten unter anderem dafür ein, dass mehr Kinder in Deutschland schwimmen lernen.
Die dreiteilige ARD-Dokuserie „Being Franziska van Almsick“ (ab 4. September in der Mediathek; 21. September Das Erste) erzählt nun ihre Geschichte, inklusive Interviews mit Weggefährten und van Almsick selbst.
WELT: Frau van Almsick, was hat Sie am meisten aufgewühlt beim Betrachten der alten Aufnahmen aus Kindheits- und Karrieretagen?
Franziska van Almsick: Ich muss sagen, dass ich relativ entspannt war und gut reflektieren konnte. Aber ich bin doch erschrocken, aus der Perspektive von heute mit 47 Jahren, dass es wirklich alles sehr früh war. Es fühlte sich damals gar nicht so an. Man hat ja auch lange versucht, mir einzureden, dass ich meine Kindheit verloren oder etwas verpasst hätte, aber das kann ich bis heute nicht behaupten. Und trotzdem war es früh. Meine Kinder sind jetzt zwölf und 18 – das ist genau die Zeit, in der sich das alles bei mir abspielte. Mit meinem Wissen von heute wüsste ich nicht, ob ich das meinen Kindern zumuten würde.
WELT: Der Hype um Sie war gigantisch, der Druck massiv, ihr Terminkalender voll. Bewunderung, Verehrung, Hass und Häme, Erfolg und Misserfolg – alles war dabei.
Van Almsick: Ich hatte eine tolle Zeit, habe die Welt gesehen, aber manchmal war das alles schwer zu händeln. Und im Nachhinein war es sicherlich etwas viel, was auf meinem Terminplan stand. Ich glaube aber, dass alle, die mich schützen konnten, Ihr Bestes gegeben haben. Sonst wäre ich heute nicht an dem Punkt, an dem ich bin.
WELT: Wie hat Sie die Tatsache, dass sich alle um sie rissen, es aber auch Neider und sogar Stalker gab, verändert?
Van Almsick: Es hat mich vorsichtig werden lassen gegenüber Menschen und prägt mich bis heute. Ich versuche auch, große Menschenmassen zu meiden. Wenn irgendwo viele Leute sind, ist das nicht mein Ding. Wobei sicherlich die Frage eine Rolle spielt: Erkennt man mich oder nicht? Ich bade nicht gerne darin, bekannt zu sein. Es ist immer wieder schön zu sehen, dass Leute mich erkennen, und die meisten sind wirklich sehr nett. Und trotzdem: diese Vergangenheit macht etwas mit einem. Meine Privatsphäre ist mir enorm wichtig.
WELT: Sie sind durch die harte Schule des Spitzensports und des Daseins als erster gesamtdeutscher Superstar. Wer sind Sie denn heute?
Van Almsick: Ich würde mich heute beschreiben als versöhnt, als ausgeglichen. Ich sehe ganz deutlich auch in der Doku, dass ich gewachsen bin an den Niederlagen und all den Dingen, die nicht so gut gelaufen sind. Es waren nicht die Siege und nicht die großen Momente – die haben natürlich mein Herz berührt, ich werde sie nie vergessen, und sie sind wichtig in meinem Leben. Aber als Mensch gewachsen bin ich an all den Herausforderungen, die ich zu meistern und durchzustehen versucht habe. Ich bin sehr dankbar, dass ich da so gut rausgekommen bin.
WELT: Das klingt, als hätte es auch anders enden können?
Van Almsick: Das war einer der ersten Gedanken, als ich mir die fertige Doku in Ruhe angesehen habe. Ich habe einen kurzen Moment gebraucht und dann gesagt: Vielen Dank, liebes Leben, dass ich das so überstanden habe. Ich glaube, das war ein guter Nährboden für mögliche Abstürze oder dafür, das spätere Leben nicht auf die Reihe zu bringen. Da bin ich all meinen Wegbegleitern unheimlich dankbar.
WELT: Einer von ihnen ist Ihr Trainer Norbert Warnatzsch. Er sagt: „Ich bin unendlich stolz auf sie. Was sie erreicht hat, wie sie sich entwickelt hat, das macht mich unheimlich glücklich.“
Van Almsick: Dass er das sagt, bedeutet mir wahnsinnig viel, weil ich darin auch erkenne, dass ich nicht nur seine Sportlerin war. Und das habe ich immer gemerkt. Ich war ihm wichtig als Mensch.
WELT: Was sich durch ihr Schwimmerleben zieht, ist der Goldfluch, wie Sie ihn nennen. Hat er einerseits angetrieben und gleichzeitig gelähmt?
Van Almsick: Das ist eigentlich die schönste Formulierung, die bis jetzt jemand gefunden hat. Ich habe mich immer erklärt darin, dass ich gesagt habe: Olympiagold war mein großer Traum. Und so einen Traum beendet man nicht einfach mittendrin. Und schon gar nicht hört man auf, ihn zu leben und weiterzuträumen, wenn man ihn noch nicht erreicht hat. Und natürlich fahre ich nicht zu Olympischen Spielen, zum Beispiel 2000 in Sydney, und sage: „Ich bin froh, dabei zu sein.“ (1996 holte sie erneut Silber über 200 m Freistil; 2000 sollte es klappen mit Gold, doch sie scheiterte im Vorlauf, Anmerkung der Redaktion).
WELT: Das wäre Selbstbetrug gewesen?
Van Almsick: Definitiv. Die Rennen bei Olympia waren immer jene Momente, die mir am meisten bedeutet haben. Ich wusste natürlich, dass Olympiagold – gerade in Sydney – total schwer zu erreichen ist. Und trotzdem will man das schaffen. Ich konnte mich selbst nie belügen, und deswegen zieht sich das wie ein roter Faden durch meine Karriere und gibt den Eindruck, dass es ein Fluch war. Er hat mich fast kaputt gemacht, aber eben nur fast. Eigentlich habe ich immer nur versucht, ehrlich zu sein. Ich habe tatsächlich angefangen zu schwimmen, weil ich Olympiasiegerin werden wollte. Dem bin ich hinterher gehechelt und habe am Ende festgestellt, dass ich alles erreicht habe, aber diesen großen Traum nicht.
WELT: „Es tut nicht mehr weh“, sagen Sie in der Doku. Sehen Sie es noch als Makel oder auch irgendwo als Glück?
Van Almsick: Weder noch. Es ist eher die Erkenntnis, dass man auch unvollendet ein toller Mensch ist und sein Leben im Griff hat. Zu sagen, es ist super, dass ich das nicht erreicht habe, wäre gelogen. Ich hätte mir wahnsinnig gerne meinen Traum erfüllt, aber ich weiß mittlerweile, dass es nicht dramatisch ist. Und das tut gut. Ich finde es auch völlig in Ordnung, darüber traurig zu sein, sich zu ärgern und festzustellen: Ich fühle mich unvollendet. Und trotzdem bin ich glücklich und fühle mich gesegnet, weil mein Leben dennoch schön ist und es mir gut geht. Das ist eine Erkenntnis, die ich in mein gesamtes Leben ziehe und an meine Kinder weitergebe.
WELT: Inwiefern genau?
Van Almsick: Indem ich ihnen vermittle: Manchmal läuft nicht alles so, wie wir uns das vorstellen, aber davon geht die Welt nicht unter. Dann müssen wir weiter dafür kämpfen oder uns andere Träume suchen und akzeptieren, dass wir das nicht geschafft haben. Das bringt dich menschlich weiter.
WELT: Ihr größter Triumph war die Heim-EM 2002, Ihr famoses Comeback: Sie brechen mit 24 Ihren eigenen Weltrekord von 1994. Dabei wollten Sie an jenem Tag erst gar nicht in die Halle. Spüren Sie heute noch die Emotionen von damals?
Van Almsick: Ich kann das noch absolut nachvollziehen. Diese Angst, dass jetzt der Moment kommt, in dem sich alles entscheidet. Ich glaube, das hat man nicht nur im Sport, aber ganz besonders dort. Man bereitet sich ewig lange vor, dann ist der Tag da und man muss auf den Punkt abliefern. Das klingt simpel, aber das ist es nicht. Du fühlst dich möglicherweise wirklich gut, aber bekommst diese geballte Energie und Kraft zu diesem Zeitpunkt nicht entladen. Damals bei der EM dachte ich: „Alles, was du je investiert hast, muss jetzt raus.“ Ich wollte den Moment nicht verpassen und nicht versauen. Aber ich hatte ja schon in Wettkämpfen gezeigt, dass ich ein emotionales Bündel bin und es selbst dann, wenn ich mich gut fühle, emotional verhauen kann. Deswegen war mir speiübel.
WELT: Ein Gespräch mit Ihrer Sportpsychologin, mit der Sie seit der Enttäuschung von Sydney 2000 arbeiteten, half. Und dann?
Van Almsick: Es war der größte Moment, einfach festzustellen, dass ich es endlich wirklich auf den Punkt gezeigt habe. Wenn du außerdem in der Lage bist, deinen eigenen Weltrekord zu brechen, den du acht Jahre zuvor aufgestellt hast, ist das etwas sehr Besonderes. Zumal nach all den Rückschlägen und Schlagzeilen.
WELT: Während der Spiele 2000 hieß es in einem TV-Magazin: „Gluck, gluck. Weg war sie. Wir sind enttäuscht von unserer Franzi.“ Und die Berliner Boulevardzeitung B.Z. schrieb auf der Titelseite „Franzi van Speck – als Molch holt man kein Gold“. Wie war das damals für Sie?
Van Almsick: Es wurde von allen Seiten versucht, mich abzuschirmen. Es gab zwar noch kein Social Media, aber natürlich habe ich die Schlagzeile mitbekommen. Und ich habe mich furchtbar geschämt. Es war das erste Mal, dass ich wirklich überlegt habe, alles hinzuschmeißen und aufzuhören. Ich habe mir dann auch eine Auszeit genommen und alles überdacht. Da kam aber schnell der Gedanke: Ich kann nicht aufhören, weil jemand anderes findet, dass ich zu fett bin. Und es wird nicht jemand anderes entscheiden, ob ich den Weg beende. Und dann kam die Wut. Jetzt erst recht – ich weiß, dass das nicht alles ist, und ich weiß, was ich kann. Und ich war ja damals die Einzige, die wusste, welche Probleme ich hatte.
WELT: Sie hatten sich gerade aus einer langen Essstörung gekämpft, wovon Sie nach Ihrer Karriere berichteten.
Van Almsick: Als Held hat man keine Makel – so dachte ich. Und als Heldin erzähle ich auch niemandem, wo meine Schwachstelle ist und weise andere Leute darauf hin, dass ich eigentlich ein großes Problem habe. Es war schwierig, nach außen hin die Starke zu geben, während ich innerlich das Gefühl hatte, dass mir alles zu viel ist und es in die falsche Richtung geht.
WELT: Essstörungen und mentale Gesundheit sind weiterhin Tabuthemen, auch wenn immer mehr Spitzensportler damit an die Öffentlichkeit gehen. Wie weit sehen Sie da die Gesellschaft?
Van Almsick: Ich glaube erst einmal, dass man weiterhin aufklären muss. Viele Menschen glauben bei Essstörungen, es sei nur dieser Gewichtsdruck, dass man in der heutigen Gesellschaft gut aussehen müsse. Darum geht es aber oft nicht. Auch bei mir war nicht der Auslöser, dass ich mich nicht hübsch genug fühlte oder dachte, ich sei zu dick – der Auslöser war meine Selbstwahrnehmung. Fehlende Selbstliebe. Die Essstörung war bei mir eine Art Kontrollzwang.
WELT: Weil Sie sich ansonsten gefangen fühlten?
Van Almsick: Ich fühlte mich fremdbestimmt. Wenn ich aber aufhöre zu essen, dann treffe ich eine Entscheidung für mich, und die kann auch nur ich allein treffen, niemand anderes. Das ist man selbst in purer Reinheit. Deshalb kann ich mir vorstellen, dass Essstörungen eher häufiger geworden sind, weil man sich oftmals, glaube ich, in der heutigen Gesellschaft fremdgesteuert fühlt, weil man funktionieren muss. Bei sich zu sein, sich nicht zu identifizieren über Geld, über Aussehen, über andere Dinge, sondern zu sich finden und zu sagen: Ich bin gut so, wie ich bin – das ist nicht leicht, zumal in der heutigen Zeit mit all der Reizüberflutung für junge Menschen.
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, extreme Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.
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