Knapp ein Jahr ist es her, dass Lukas Märtens als Olympiasieger dem Schwimmbecken von Paris entstieg. Gut vier Monate, dass er in Stockholm den Weltrekord von Paul Biedermann brach. An diesem Sonntag nun tritt er in Singapur an, um über seine Paradestrecke 400 Meter Freistil nach Silber und zweimal Bronze das erste WM-Gold seiner Karriere zu gewinnen (Finals ab 13 Uhr/MEZ).
Nachdem zu Beginn der Weltmeisterschaften Florian Wellbrock mit viermal Gold im Freiwasser neue Maßstäbe gesetzt hat, sind jetzt die Beckenwettbewerbe dran. Für Märtens, der auch über 800 Meter Freistil und 200 Meter Rücken antritt, gilt es gleich ab dem ersten Tag, Wellbrock startet später über die 1500 Meter Freistil. Sven Schwarz, Isabel Gose und Angelina Köhler zählen ebenso zu den großen Medaillenhoffnungen.
Nur im Fernsehen können Schwimmsportfans dies nicht live verfolgen. Immerhin: Das ZDF streamt das Beckenschwimmen, auf eurovisionsport.com sind die Rennen ebenfalls zu sehen.
WELT: Herr Märtens, Sie sind großer Fan des 1. FC Magdeburg. Was können Sie selbst von den Fußballspielern des FCM lernen?
Märtens: Sehr viel. Sie müssen mit viel Druck umgehen, jedes Mal vor vielen Zuschauern spielen und so gut wie immer diese Leistung abrufen – das ist nicht selbstverständlich. Von daher bin ich allen einfach dankbar und bewundere, was sie jeden Tag für den Klub machen. Genau das verkörpere ich auch – dass man immer ein Ziel, einen Traum hat, an den man glauben kann und der einen nach vorn bringt. Ich fände es total spannend, zum Beispiel mit Jean Hugonet, meinem Lieblingsspieler beim FCM, oder mit dem Magdeburger Handballspieler Lukas Mertens einen Tag zu verbringen und die Trainingseinheiten zu tauschen.
WELT: Was bedeutet Ihnen diese gegenseitige Unterstützung und Wertschätzung? Der Verein, die Mannschaft, die Fans haben Sie nach dem Olympiasieg empfangen und gefeiert – Sie feiern die Fußballspieler.
Märtens: Jeder, der mich kennt, weiß, wie sehr mir der FCM am Herzen liegt, wie sehr ich den Verein in allem, was er tut, unterstütze. Und genau das Gleiche tut der Verein mit mir. Was sie während der Olympischen Spiele gemacht haben mit den verschiedenen Grußbotschaften, Nachrichten und Choreos werde ich dem Verein, den Verantwortlichen, den Fans nie vergessen. Das ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, ein Miteinander, das allen guttut und mir viel bedeutet.
WELT: Für den Fußballklub heißt es nach dem verpassten Aufstieg: neue Saison, neue Chance. Aufstehen nach dem Drama. Sie selbst kennen sich ebenfalls mit Rückschlägen aus – heute sind Sie Olympiasieger. Was sind Ihre wichtigsten Tools im Krisenmanagement?
Märtens: Der wichtigste Halt sind für mich Freunde und Familie. Sie geben mir viel Kraft, auch in Zeiten, in denen es nicht so gut läuft und man auch mal an der ganzen Sache zweifelt.
WELT: Welche Zweifel sind das genau?
Märtens: Da kommen ganz kurz auch mal Gedanken wie: Will ich nicht ein normales Leben führen? Eines mit weniger Entbehrungen? Ein weniger anstrengendes? Aber solche Gedanken sind sehr schnell vorbei. Dann kommen mir solche Momente wie in Paris wieder in den Kopf, als ich Olympiagold gewann und mir meinen Traum erfüllt habe. Oder ich denke an schöne Momente mit der Familie, mit Freunden, die mich immer unterstützt haben. Das trägt mich und hilft mir aus jedem Tief heraus.
WELT: Was ist denn einfacher, nach einer Niederlage wieder aufzustehen oder nach der Erfüllung eines Lebenstraums das Feuer wieder zum Brennen zu bringen?
Märtens: Ich glaube, das Zweite ist sogar ein kleines bisschen schwieriger. Denn wenn man einmal ganz oben war, gehört viel Willenskraft dazu, weiterzumachen und nach mehr zu streben. Das habe ich nach den Spielen gemerkt. Die Pause danach war wirklich vonnöten, ich brauchte sie für den Kopf. Es war anfangs schwer, sich nach dem Gold zu motivieren und sich in so jungem Alter neue Ziele zu setzen. Aber meine Familie, meine Sportpsychologin, Freunde, vor allem mein Trainer Bernd Berkhahn – alle haben mir geholfen, wieder in die Spur zu kommen. Und neu zu brennen.
WELT: Welche Rolle spielt dabei, wenn jemand wie Schwimm-Legende Ian Thorpe Ihnen schreibt, zum Weltrekord gratuliert und sich treffen möchte?
Märtens: Wenn man so etwas liest, ist das natürlich großartig. Es hat mir das Gefühl gegeben, vieles richtigzumachen. Mein Trainer hatte mir einen Tag vorher erzählt, dass er ein großer Fan von Ian Thorpe ist – und dann schreibt er mir! Da war auch Bernd überrascht. Es hat mich stolz gemacht, dass mir jemand wie Ian Thorpe schreibt. Das macht er ja nicht einfach so – da muss schon etwas Großes passiert sein. Mit einem Treffen hat es zwar leider noch nicht geklappt, aber es wird hoffentlich noch stattfinden.
WELT: Was würden Sie ihn fragen?
Märtens: Ich würde ihn einfach gern kennenlernen, als Mensch. Jeder weiß, welch herausragender Schwimmer er war, aber der Ian Thorpe, der dahintersteckt, hatte ja auch mit psychischen Problemen zu kämpfen, die er bewältigt hat. Er sprach auch von Depressionen. So etwas wäre noch viel interessanter für mich zu erfahren als Sportliches. Wie ging es ihm, wie hat er das geschafft? Wie geht es ihm heute? Das macht ja jeder auf seine eigene Art und Weise. Einfach ein bisschen was über ihn erfahren, denn ich glaube, dass er auch außerhalb des Beckens eine herausragende Persönlichkeit ist.
WELT: Setzen Sie sich generell lieber große Ziele und Träume – oder kleinere, um nicht enttäuscht zu werden.
Märtens: Ich würde sagen, ich setze lieber ein bisschen niedriger an. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich keine Ambitionen oder Ziele habe, aber ich denke, das passt einfach besser zu mir. Ich hatte vor den Spielen ja auch gesagt: „Ich kann, aber ich muss nicht. Ich kann alles schaffen, aber ich muss nicht.“ Und ich glaube, dieser Satz trifft immer noch zu, weil auch diese Saison nicht leicht war. Ich hatte am Anfang viele Medienauftritte, war viel unterwegs, hatte ja auch eine Nasen-OP, die nicht ganz so glimpflich verlief. Da muss man erst mal wieder auf die Füße kommen. Das habe ich gut geschafft, aber die Saison ist lang. Am Ende kommt es bei der WM auch darauf an, wer die größte mentale Stärke hat.
WELT: Die WM wird bei den Öffentlich-Rechtlichen nur im Stream zu sehen sein, und auch nur die Finals im Becken. Wie nehmen Sie das auf?
Märtens: Das ist für mich eine Enttäuschung – vor allem nach dem letzten Jahr, nach den Erfolgen des deutschen Schwimmens hat man natürlich gehofft, dass es wieder ein bisschen präsenter wird. Uns bleibt nichts anderes übrig, als weiter erfolgreich zu sein, weiter schnelle Zeit ins Wasser zu bringen und Medaillen zu holen – in der Hoffnung, dass Schwimmen irgendwann wieder live im TV zu sehen sein wird.
WELT: Am Ende noch eine ganz andere Frage zum Schwimmen. Es heißt immer so schön: Er hat sich in einen Rausch geschwommen. Fühlt sich das tatsächlich so an – und wenn ja, wie fühlt es sich an, sich in einen Rausch zu schwimmen?
Märtens: Das kann ich gar nicht so richtig erklären. Du bist leicht, du lebst in deiner eigenen Welt, denkst nicht nach und lässt es einfach laufen, weil es auch nicht so wehtut wie sonst, denn du weißt, dass etwas Großes passieren kann. Und dann hinterfragst du Dinge nicht. Das war in Stockholm so, das war in Paris so – und ich hoffe, dass es in Singapur auch so sein wird. Daran werde ich alles setzen. Und ich glaube, ich bin auf einem guten Weg und gut vorbereitet.
WELT: Ist Schwimmen bei all der harten Arbeit im Training manchmal auch so etwas wie Meditation? Es klang gerade ein bisschen so, auch wenn das im Wettkampf sicher nicht der Fall ist.
Märtens: Ja, es ist auch eine Form der Meditation. Man hat so viel Zeit, über verschiedene Dinge nachzudenken – oder auch mal nicht nachzudenken. Da kann auch mal eine angenehme Leere herrschen. Schwimmen ist für mich tatsächlich auch eine Form von Entspannung, weil Wasser mein Element ist, weil ich das tue, was ich schon immer tun wollte – und das als Beruf. Besser geht es nicht.
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, extreme Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.
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