Er ist der wohl streitbarste Geist in der Expertenwelt – und Matthias Sammer hat den Finger tatsächlich in die größte Wunde des deutschen Fußballs gelegt: die Selbstzufriedenheit. „Wir überhöhen das Gute und deuten das Schlechte allenfalls an“, hatte der frühere Nationalspieler, Trainer von Borussia Dortmund, Sportdirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und des FC Bayern gesagt. Und dass wir „im Schönreden immer noch stärker als in der kritischen Analyse sind“.
Damit hat er vollkommen recht. Wir lügen uns tatsächlich selbst in die Tasche, wenn wir – wie im vergangenen Jahr – so tun, als sei das Viertelfinale bei einer Europameisterschaft im eigenen Land ein Erfolg.
Das war es natürlich nicht, völlig unabhängig davon, dass die DFB-Elf bei Turnieren zuvor noch schlechter abgeschnitten hat. Der deutsche Fußball ist Mittelmaß, das hat auch das Fiasko im Finalturnier der Nations League gezeigt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass es die Bayern und die Dortmunder in der Champions League und bei der Klub-WM immerhin ins Viertelfinale geschafft haben.
Wie kann der Anschluss an die Weltspitze wieder geschafft werden? Auf Vereinsebene ist das schwieriger. Die Bundesligisten verfügen nicht über die Mittel, derer sich die Konkurrenz dank ihrer Investoren bedienen können. Aber warum hinkt die Nationalmannschaft hinterher?
Recht eindimensionale Antworten
Gerade auf diese Fragen fielen die Antworten, die Sammer in seinem aufsehenerregende „Kicker“-Interview gab, doch recht eindimensional aus. Er beließ es im Wesentlichen bei der Fehleranalyse. Es fehle im Bereich Athletik, an Spielerpersönlichkeiten und vor allem an dem, was früher mit „deutschen Tugenden“ bezeichnet wurde: Kampfkraft, Entschlossenheit, Mentalität. „Wir sind keine Maschine mehr, sondern maximal ein Maschinchen“, kritisierte Sammer.
So weit, so richtig.
Was er jedoch kaum thematisierte: Eine Lösung der Probleme lässt sich nicht mehr so erreichen, wie es Sammer suggeriert und wie dies vielleicht tatsächlich noch vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren der Fall gewesen wäre.
Es stimmt schon: Gute Trainer könnten helfen. Es gibt gerade auf Klubebene Beispiele, wie es gelungen ist, Mannschaften wieder in die Spur zu bringen: Luis Enrique hat beim Champions League-Sieger Paris St. Germain launische Stars dazu gebracht, endlich auch zu verteidigen.
Niko Kovac hat dem BVB im Saisonendspurt sein Mentalitätsproblem ausgetrieben. Das vor Kovac zuvor hierzulande als ein fast schon antiquierter Schleifer abgestempelt worden war, zeigt, wie weit verbreitet falsche Wahrnehmungen in der Öffentlichkeit sind. Trainer werden oftmals an vermeintlicher Eloquenz gemessen statt an ihren fachlichen Qualitäten. Auch dies beklagt Sammer zu Recht.
Aber: Eine grundsätzliche Anhebung des Niveaus im deutschen Fußball lässt sich nur durch bessere Nachwuchsarbeit und Ausbildung erreichen. Und da hilft es wenig, wenn Sammer gegen flache Hierarchien, Datenanalyse oder Künstliche Intelligenz polemisiert. Ersteres ist das Produkt einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Man mag sie bedauern, das ändert aber nichts. Datenbasierte Informationen und KI sind dagegen, richtig eingesetzt, äußert wirkungsvolle Mittel, um Entwicklungen von Talenten zu optimieren.
„La Masia“, die erfolgreiche Nachwuchsschmiede des FC Barcelona, die oft als leuchtendes Beispiel genannt wird, arbeitet seit Jahren vor allem auch technologisch auf höchstem Niveau. Dort wird beispielsweise schon lange „Bio-Banding“ angewendet: ein datengestütztes System, das zielsicher das biologische Alter von Talenten bestimmt – welches häufig von dem tatsächlichen Alter stark abweicht.
So ermöglicht es eine deutlich effizientere Förderung. Auch deshalb schaffte es Barca in den vergangenen Jahren wieder häufiger, junge Spieler hervorzubringen, die bereits mit 16, 17 und 18 Jahren auf Topniveau bestehen können. Auch die Engländer, die zuletzt viel mehr Talente als die Deutschen entwickelt haben, setzen seit Jahren darauf.
Mit Beginn der vergangenen Saison kam dann auch der DFB endlich auf diesen Trichter. Auch in mehreren Nachwuchsleistungszentren der Bundesliga wird es mittlerweile eingesetzt. Etwas spät, aber immerhin. Sammer geht in seiner Kritik aber gerade auf die neuen Erkenntnisse im Nachwuchsbereich kaum ein. Dabei liegt der Kern des Problems darin, dass die in Deutschland lange verschlafen worden sind.
Es mag zwar vielen Fans aus der Seele sprechen, wenn sich Sammer nach robusten Charakteren aus den 1980er- oder 90er-Jahren zurücksehnt, doch in Bezug auf die Gestaltung der Zukunft hilft das wenig. Die Antworten auf die vielen Fragen, die der Zustand des deutschen Fußballs aufwirft, sind deutlich komplexer als die, die Sammer gegeben hat.
Oliver Müller ist Podcaster und Fußball-Reporter. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren über Borussia Dortmund und zahlreiche andere Themen. Sein Schwerpunkt liegt auf den Klubs im Westen Deutschlands.
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