Vor der Fußball-EM ist die Aufregung um das französische Team groß. Nationaltrainer Laurent Bonadei sortiert Legenden aus. Jetzt spielt die Équipe Tricolore groß auf. Für das Viertelfinale schieben die Französinnen die Favoritenrolle aber den DFB-Frauen zu.
Erst frustriert und für den eigenen Geschmack viel zu wenig am Ball, nach Abpfiff die strahlende Spielerin des Spiels und um zwei Tore reicher: Delphine Cascarino hat der zweiten Hälfte des EM-Gruppenspiels ihrer Französinnen gegen die Niederlande (5:2) den Stempel aufgedrückt. Die 28-Jährige ist eine derjenigen aus dem Team von Laurent Bonadei, wegen der das DFB-Team als Außenseiter in das Viertelfinale (Samstag, 21 Uhr/ZDF und im ntv.de-Liveticker) dieser Fußball-Europameisterschaft geht.
Sie selbst wollen von ihrer Favoritenrolle nichts wissen. "Sie sind eine große Mannschaft, eine große Nation. Wir wissen das, sie haben mehrere internationale Wettbewerbe gewonnen", sagte Cascarino nach dem furiosen Spiel, in dem die Französinnen die zweite Halbzeit nach Belieben dominierten, über Deutschland. "Sie haben die EM achtmal gewonnen. Deutschland ist deshalb der Favorit", erklärte Bonadei. "Das ist eine große Herausforderung, aber wir sind ehrgeizig und werden als Herausforderer alles geben, um sie zu schlagen."
Geht es nur nach der Historie, ist das DFB-Team eine Macht. Noch nie haben die Rekord-Europameisterinnen (acht Titel) ein WM- oder EM-Duell gegen Frankreich verloren. Zuletzt gab es bei der EM 2022 im Halbfinale einen 2:1-Sieg. Frankreich ist seit Jahren hochgelobt und doch immer tief gefallen. Das darf allerdings niemanden entspannen. Denn Bonadei hat das Team vor dem Turnier umgekrempelt - alles für den Erfolg. Mit drastischen Entscheidungen.
"Unverständnis und Ungerechtigkeit"
Der Aufschrei war riesig, als der 55-Jährige, der das Team nach den enttäuschenden Olympischen Spielen im eigenen Land übernahm, die verdienten Superstars aussortierte. Abwehrchefin Wendie Renard muss nun zuschauen, die 34-Jährige war lange Zeit die Kapitänin. Sie kritisierte ihre Ausbootung bei "Martinique La Première": "Nur Gott weiß, warum ich nicht auf dieser Liste stehe." Und: "Es gibt Unverständnis und Ungerechtigkeit." Sie ist nicht die Einzige: Eugenie Le Sommer, mit 200 Einsätzen Frankreichs Rekordspielerin und mit 94 Toren auch die Rekordtorschützin, ist ebenfalls nicht dabei. Genauso eine Leidtragende ist Kenza Dali, die 76-mal für Frankreich auflaufen durfte.
Trainer Bonadei war gezwungen, sich zu erklären. Es habe nichts mit den Spielerinnen zu tun, "es war sportlich und menschlich schwer zu ertragen". Er machte sich einen Satz von Albert Einstein zu eigen: "Wahnsinn ist, immer wieder das Gleiche zu tun und ein anderes Ergebnis zu erwarten." Seine Begründung, bislang hätte es mit ihnen ja auch nie zum Titel gereicht: "Ich will andere Ergebnisse für dieses Team, also habe ich eine andere Auswahl getroffen."
Und diese Auswahl bestätigt Bonadeis Weg bislang. "Wir sind als Mannschaft gewachsen", sagt Doppeltorschützin Cascarino, die die Trophäe als Spielerin des Spiels nach dem England-Auftakt bereits zum zweiten Mal in Empfang nehmen durfte. Zum Auftakt die Titelverteidigerinnen aus England ganz schlecht aussehen lassen, das 2:1-Endergebnis verschleiert den Klassenunterschied. Sich gegen EM-Debütant Wales (4:1) keine Blöße gegeben. Und nun gegen die Niederlande zwar schwach begonnen und zwischenzeitig zurückgelegen, aber in der zweiten Halbzeit mächtig aufgedreht.
Eine Zwillingsschwester spielt, eine ist verletzt
Delphine Cascarino ist eine derjenigen, die die Offensive so gewaltig machen. Seit einem knappen Jahr spielt sie bei San Diego Wave FC. Nachdem sie zuvor mit Olympique Lyonnes alles gewonnen hatte, sehnte sie sich nach einem neuen Impuls. Sie hatte 2023 bei der WM in Australien aufgrund eines Kreuzbandanrisses gefehlt. Traurige Ironie: Delphines Zwillingsschwester Estelle war vor zwei Jahren dabei, nun fehlt sie bei der EM - wegen eines Kreuzbandrisses. Die Schwester aber hält die Ehre der Familie hoch. Delphine Cascarino ist exzellent im Dribbling, spielt Gegnerinnen aus, findet dann entweder die Mitspielerin für den Pass oder zieht selbst ab, wie bei ihrem ersten Tor (64.) gegen die Niederlande. Ein Fernschuss von der Strafraumgrenze, perfekt ins linke obere Eck, Torhüterin Daphne van Domselaar hatte keine Chance.
Zum herausragenden Angriff der Französinnen gehört auch Marie-Antoinette Katoto, die wiederum bei der EM 2022 in der Vorrunde einen Kreuzbandriss erlitten hatte und auch noch die WM 2023 verpasste. Die 26-Jährige, die nach dem Turnier von Paris Saint-Germain zu Liga-Konkurrent OL Lyonnes wechselt, hatte ihr Team gegen die Niederlande mit dem Ausgleich zum 2:2 (61.) wieder in die Spur gebracht, nachdem Selma Bacha das Missgeschick des ziemlich unbedrängten Eigentores unterlaufen war (41.).
Und wenn dann eine mal einen schlechteren Tag erwischt, kann Bonadei in der Offensive auch noch gleichwertig wechseln. Sandy Baltimore, Kadidiatou Diani, Clara Mateo, Amel Majri und Melvine Malard - keine fällt ab. Gegen die Niederlande hatte Mittelfeldspielerin Sandie Toletti ihr Team in Führung gebracht, die Kapitänin aber musste wegen Achillessehnen-Problemen ausgewechselt werden (59.), ihr Einsatz gegen Deutschland ist fraglich. "Ich hatte während der Vorbereitung Sehnenentzündungen, ich werde mich mit den Ärzten beraten."
"Ich will gar keinen Stil haben"
Bonadei scheint das problemlos kompensieren zu können: "Ich will gar keinen Stil haben", sagte er nach dem Auftaktsieg gegen England. "Im nächsten Spiel kann die Mannschaft anders aussehen." Denn sein Team zeigt, dass es das volle Repertoire beherrscht. Vor allem das Können der französischen Angriffsreihe ist für alle Gegnerinnen schwer in den Griff zu bekommen - das wird dem DFB-Team nicht anders gehen. "Für uns war ja klar, dass ein sehr schwerer Gegner auf uns wartet. Wir haben alle gesehen und wissen, über welche Qualitäten Frankreich verfügt, über welche Dynamik, welches Tempo", sagt Sportdirektorin Nia Künzer der ARD. "Sicherlich werden wir über die Kompaktheit kommen müssen, das gilt für alle Mannschaftsteile."
Die Französinnen zeichnet das aus, was dem DFB-Team bislang enorme Probleme bereitete. Hohes Pressing, schnelle, direkte Konter, Dominanz in den Eins-gegen-eins-Duellen. All das spielte Schweden und überforderte damit die Deutschen. Frankreich macht es bislang sogar noch besser. Die deutsche Defensive ist bekanntlich der Schwachpunkt des Teams und muss nach der Roten Karte für Carlotta Wamser zum Viertelfinale schon zum zweiten Mal umgebaut werden. Ob Bundestrainer Christian Wück wie bislang eine Viererkette spielen und entweder Kathrin Hendrich oder Sophia Kleinherne als Rechtsverteidigerin agieren lässt oder ob er, wie in der Not gegen Schweden, zur Dreierkette mit Hendrich in der Mitte und den schnellen Außen Klara Bühl und Jule Brand als Schienenspielerinnen umbaut - völlig offen. Wück will sich diesbezüglich nicht in die Karten gucken lassen.
Vielleicht auch, weil die Französinnen ihr Understatement mit Argumenten ausschmücken. Vor Brand und Bühl auf Außen haben sie Respekt. Eine Möglichkeit könnte zudem frühes Pressing durch die Deutschen sein, mit dem kamen die Französinnen gegen die Niederlande in der ersten Halbzeit nicht zurecht. Wenn der Spielaufbau hakt, tun sich Lücken auf.
Doch wie dominant Frankreich aktuell agiert, zeigt auch die Statistik des bisherigen Jahres: Bonadeis Team hat alle elf Spiele gewonnen. Nach der EM werden sich die beiden Teams daher auch wiederbegegnen: im Final Four der Nations League. Wie im Vorjahr ist es eines der beiden Halbfinal-Spiele. Im Februar 2024 unterlag das DFB-Team mit 2:1. Auch wenn die Équipe Tricolore darauf beharrt, die Rolle des Herausforderers zu haben - die Wirklichkeit sieht derzeit anders aus.
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