Unter dem rechten Auge hat er sich einen Bluterguss zugezogen. Wer ihm das tiefblaue Veilchen verpasst hat, möchte Oleksandr Usyk nicht verraten, als er unlängst nach Gandia am spanischen Mittelmeer zum Gespräch in sein neues Boxgym einlud. Die Blessur lächelt der 38-Jährige mit der Frage weg: „Das macht mich doch interessant, oder?“

Das Hämatom hätte es in der Tat nicht bedurft, um ihm etwas Bedeutsames abzugewinnen, dafür hat er als Boxer zu viel erreicht. Keiner war in diesem Sport zuletzt erfolgreicher als der Ukrainer. Als Amateur gewann er jedes wichtige Championat. Als Profi schrieb er Geschichte, indem er als bislang einziger im Cruiser- und Schwergewicht die Weltmeistertitel der vier renommierten Weltverbände WBA, WBC, WBO und IBF vereinigte. 

Am Samstag kommender Woche (19.7., 22 Uhr, DAZN) wartet die nächste Bewährungsprobe auf Usyk. Im Londoner Wembley-Stadion trifft der in 23 Kämpfen unbesiegte Superstar vor fast 100.000 Zuschauern auf den elf Jahre jüngeren Daniel Dubois. Der Brite möchte eine Rechnung begleichen. Vor zwei Jahren standen sich beide schon einmal in Breslau gegenüber. Usyks damaligem Abbruchsieg in Runde neun ging in der fünften Runde ein Fausthieb von Dubois voraus, der seinen Rivalen zu Boden schickte, vom Ringrichter aber als Tiefschlag gewertet wurde. Usyk erhielt fast vier Minuten Zeit, um sich zu erholen, sodass er weiterkämpfen konnte. Dubois beharrt bis heute darauf, dass der Treffer legal und er der wahre Sieger gewesen sei. 

Der Triumphator der brisanten Neuauflage wird mit mehr WM-Gürteln nach Hause reisen, als er mitgebracht hat. Usyk, Champion der WBA, WBC und WBO, hatte vor dem Rückkampf gegen Dubois‘ Landsmann Tyson Fury im vergangenen Dezember seinen IBF-Titel niedergelegt mit der Begründung, er könne ihn nicht im vom Weltverband vorgegebenen Zeitrahmen verteidigen. Die Vakanz wiederum nutzte Dubois. Nach zwei siegreichen Fights konnte er sich bei der IBF als Weltmeister verewigen. 

Erwartungsvoll blickt Usyk dem Kampf entgegen. „Meine Vorbereitung läuft hervorragend“, sagt der Rechtsausleger sichtlich erschöpft nach einer hochintensiven Athletikeinheit. Nachdem er sein klitschnasses T-Shirt gegen ein trockenes getauscht hat, fügt er noch schelmisch grinsend hinzu: „... trotz des blauen Auges.“

Und auch trotz der permanenten Sorgen, die ihn wegen des russischen Angriffskriegs auf sein Heimatland begleiten. In seiner abseits vom Touristentrubel gelegenen Trainingsstätte, die in den ukrainischen Nationalfarben blau-gelb leuchtet, findet er die Ruhe, die er braucht, um sich auf das zu fokussieren, was für ihn momentan am wichtigsten ist. Dazu gehört auch, dass in dem zweigeschossigen Gym auf überdimensionalen Bildschirmen der erste Kampf gegen Dubois in Endlosschleife läuft – und eine TV-Stimme Usyk ständig auf seine Fehler hinweist.

WELT AM SONNTAG: Herr Usyk, Sie sehen so zufrieden aus. Was beglückt Sie gerade? 

Oleksandr Usyk: Ich muss an London denken, an das Wembley-Stadion. Als Teenager träumte ich davon, in solch gigantischen Arenen zu boxen. Jetzt wird das Wirklichkeit. Ich bekomme Gänsehaut, wenn ich daran denke, wie ich in die Kultstätte einmarschiere, in den Ring klettere, der erste Gong ertönt und der Kampf beginnt. Und noch etwas bewegt mich dabei: England ist für mich wie meine zweite Heimat, ich liebe die dortigen Fans, weil sie mir unheimlich viel Herzblut entgegenbringen. So jedenfalls empfand ich es schon, als ich 2008 als Amateur bei den Europameisterschaften in Liverpool den Titel holte. Und das setzte sich fort bei meinem Olympiasieg und den drei bisherigen Titelverteidigungen als Profi, die ich auf der Insel gemacht habe. Man mag dort meinen Boxstil, das bekomme ich immer wieder zu hören. Ich erzähle Ihnen eine kurze Geschichte.

WAMS: Bitte.

Usyk: Als ich vor einigen Wochen zur Pressekonferenz in London war, bin ich zum Friseur gegangen, wo ein junger Mann auf mich zukam und mich um ein Selfie bat. Nachdem ich ihm seinen Wunsch erfüllt hatte, sagte er ganz beseelt zu mir: „Ich gehe heute nicht zur Arbeit. Ich gehe jetzt nach Hause.“ Daraufhin schickte er seinem Chef das Foto und rief ihn an, um ihm das gleiche zu sagen wie mir. Für einen Augenblick war sein Arbeitgeber irritiert, doch als er realisiert hatte, mit wem er sich hatte ablichten lassen, antwortete er: „Junge, genieße die Begegnung mit dem großartigen Champion, du darfst heute freimachen.“ Ist das nicht eine schöne Geschichte?

WAMS: Ohne Frage. Fühlen Sie sich geschmeichelt?

Usyk: Was heißt geschmeichelt? Natürlich freue ich mich über die Wertschätzung, schließlich habe ich sie mir über viele Jahre sehr hart und ehrlich erarbeitet. Ich habe viel entbehrt, um dorthin zu kommen, wo ich heute stehe. Insbesondere seitdem die russische Invasion tobt. Dass ich meine Familie, meine vier Kinder zusammen nur sehr selten sehe, da ich mich ja nicht mehr so wie vor Kriegsbeginn in Kiew auf meine Kämpfe vorbereiten kann, stimmt mich sehr traurig. Als ich Profi wurde, hätte ich einen lukrativen Kampfvertrag in Amerika unterschreiben können, was ich meiner Frau zuliebe nicht tat, weil ich dann wenigstens ein halbes Jahr nicht zu Hause gewesen wäre. Nun ja, so ist das Leben ...   

WAMS: Welcher Tag seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 machte Ihnen besonders zu schaffen?

Usyk: Ebenjener 24. Februar 2022. An dem Tag war ich nicht in Kiew, sondern in London, wo ich Szenen für ein Videospiel drehte. Ich habe zwar sofort einen Flug gebucht, doch der wurde gecancelt, sodass ich nach Warschau fliegen musste und vor dort mit dem Auto nach Hause fuhr. Und am 24. Februar hat auch noch meine älteste Tochter ihren Geburtstag. 

WAMS: Der Krieg spaltet Ihre Familie. Ihre beiden Söhne, die als talentierte Judoka gelten, sind mit Ihnen hier im Trainingscamp. Ansonsten wohnen Sie bei Ihren Schwiegereltern, nicht weit von Gandia entfernt. Ihre Frau Katerina lebt mit den Töchtern weiterhin in Kiew. Die Hauptstadt wird in den Nachtstunden immer wieder mit Drohnen angegriffen. Belastet Sie das nicht mental? 

Usyk: Während der Kampfvorbereitung kann ich das ganz gut ausblenden. Ich muss es auch, sonst macht es keinen Sinn, dass ich mich Dubois noch einmal stelle. Ich kann damit leben, weil ich weiß, dass meine Daheimgebliebenen vom ukrainischen Volk und den Soldaten beschützt werden. Ich gehöre den ukrainischen Territorialverteidigungskräften an und bin dadurch sehr gut über die Entwicklungen informiert. An der Seele nagt es vor allem, wenn deine Kinder dir schwierige Fragen stellen, wie: „Papa, warum wollen die uns töten?“

WAMS: Da kann es einem schon schwer ums Herz werden. 

Usyk: Alle meine Titel würde ich hergeben, wenn dieses fürchterliche Gemetzel dadurch aufhören würde. Ich kann den US-Präsidenten Donald Trump nur bitten, dass er den Krieg so schnell wie möglich beendet, so wie er es versprochen hat. Ein Friedensabkommen darf aber nicht beinhalten, dass die Ukraine Gebiete an Russland abtritt. Ich würde Trump anbieten, eine Woche lang in meinem Haus in Kiew zu wohnen, wo beinahe jede Nacht Bomben- und Raketenalarm zu hören ist, damit er eine Vorstellung davon bekommt, was die Menschen auszuhalten haben. Wer das nicht erlebt hat, kann nicht einmal erahnen, wie furchtbar das ist. 

WAMS: Einen Ihrer WM-Gürtel besitzt Trump als bekennender Boxfan bereits. Ihr ukrainischer Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte die Trophäe seinem Amtskollegen im Februar beim vorzeitig abgebrochenen Treffen im Oval Office als Geschenk überreicht. Liebäugeln Sie damit, nach Ihrer Sportkarriere, so wie Ihr Landsmann Vitali Klitschko, in die Politik zu gehen? Der ältere Klitschko-Bruder war auch Weltmeister im Schwergewicht und fungiert seit elf Jahren als Bürgermeister von Kiew.

Usyk: Nein. Politik bedeutet für mich, Abgeordneter zu sein und manchmal etwas zu sagen, was man dann nicht machen würde. Das könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Alles, was ich tue, geschieht im Dialog und im Einklang mit meinem Gewissen und mit mir selbst. Ich bin jederzeit bereit, mich für eine bessere Gesellschaft einzubringen und Menschen in Not zu helfen, das aber schnell und unbürokratisch. 

WAMS: Gründeten Sie deshalb die „Usyk Foundation“?

Usyk: Ja. Meine Stiftung verbindet christliche Werte, Sportsgeist und strategische Vision, um unsere Nation zu unterstützen und zu stärken. Wir helfen Landsleuten, die von der Invasion betroffen sind mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Unterkünften. Wir unterstützen die Armee, medizinische Einrichtungen, Bildungsprojekte und vieles mehr. Unser Slogan lautet: die Hilfe von heute – der Sieg von morgen! Ich kann mir vorstellen, mich später mal im Sport und der Wirtschaft zu engagieren. Wobei das Boxen mich nie loslassen wird.

WAMS: Wie lange wollen Sie noch aktiv Ihre Fäuste schwingen? Visieren Sie vielleicht den Altersrekord als Weltmeister in der Königsklasse an? Gehalten wird er mit 45 Jahren und 299 Tagen von George Foreman, der im März verstorben ist.

Usyk: (lacht) Diese Absicht habe ich nicht. Meine oberste Prämisse lautet, gesund zu bleiben, damit ich mich auch noch nach der Sportkarriere an die Geburtstage meiner Kinder und Freunde erinnern kann. Mein finanzielles Wohlergehen hängt nicht mehr vom Boxen ab. Geld war auch nie mein Antrieb fürs Boxen. Mir war klar, wenn ich auf höchstem Niveau meinen Job erledige, werde ich auch gut verdienen.  

WAMS: Im Vorjahr gehörten Sie mit einem Einkommen von über 120 Millionen Dollar zu den zehn bestbezahlten Sportlern weltweit. Für das jetzige Duell gegen Dubois kassieren Sie auch eine dreistellige Millionensumme. Bei einem erneuten Sieg wären Sie auch noch um einen Bentley reicher. Das jedenfalls versprach Ihnen Dubois‘ Promotor Frank Warren. 

Usyk: Mal schauen, ob er Wort hält. Ich jedenfalls liebe diesen Nervenkitzel, rauszugehen zu einem Kampf und mich zu stellen, nachdem ich vorher bedingungslos trainiert habe. Wenn dann die junge Generation oder die eigenen Kinder noch zuschauen und sagen: „Verdammt, es ist möglich, was der schafft, können wir auch schaffen. Wir werden genauso engagiert arbeiten“, hätte ich viel erreicht. Ich möchte gern ein Vorbild für die Jüngeren sein. 

WAMS: Wie lange aber beabsichtigen Sie nun noch, um prestigeträchtige Titel zu kämpfen?

Usyk: Das entscheide ich nach dem 19. Juli. Auf jeden Fall möchte ich danach Fußball spielen, auch da bin ich Profi. Ich habe einen Vertrag bei Polissja Schytomyr unterschrieben. Der Verein spielt in unserer höchsten Liga und wurde in der vorigen Saison Vierter. Ich trage die Trikotnummer 17. Die Saison beginnt am 1. August. Ich habe aber auch noch einen besonderen Traum, den ich mir erfüllen möchte. 

WAMS: Und der wäre? 

Usyk: Ich würde so gern in Friedenszeiten einen Kampf in unserem Olympiastadion in Kiew machen. Ich bin mir sicher, die Arena wäre mit 80.000 Zuschauern ausverkauft. 

WAMS: Sie bestritten Ihre 14 WM-Kämpfe als Profi allesamt im Ausland. Das kann kein anderer Berufskollege von sich behaupten. Auch Ihre letzte Niederlage liegt mittlerweile fast 16 Jahre zurück. Am 11. September 2009 unterlagen Sie bei der Amateur-WM dem Russen Egor Mechonzew. Haben Sie keine Bedenken, dass Ihre einzigartige Erfolgsserie reißen könnte?

Usyk: Nachdem, was ich alles insbesondere seit dem Krieg erlebt und durchgemacht habe, fürchte ich mich nur davor, dass ich in eine Hölle gerate, aus der es kein Entkommen gibt. Gleichwohl werde ich kämpfen, bis ich sterbe. Sich einer Herausforderung zu ergeben, ist für mich keine Option. Demnächst gibt es einen Dokumentarfilm über mich. Wenn Sie den gesehen haben, werden Sie mich, meinen Charakter, meine Vision vom Leben noch besser verstehen. 

WAMS: Ihr Selbstbewusstsein scheint unerschütterlich zu sein. Was verheißt das für den anstehenden WM-Kampf?

Usyk: Dass ich sehr zuversichtlich bin. Ich werde wieder gewinnen – hundert Prozent!

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