Nadia Nadim führt ein Leben, das ihr als Kind unmöglich war: Sie ist Fußballerin, Ärztin, Botschafterin. Als Kind flüchtet sie mit ihrer Mutter aus Afghanistan, landet in Dänemark und lernt, was Freiheit bedeutet. Nun spielt Nadim schon ihre fünfte Europameisterschaft.
Als Nadia Nadim ein Kind ist, lebt sie in einer Welt voller Verbote und Unmöglichkeiten. Sie wird 1988 im afghanischen Herat geboren, das Land wird von der Taliban unterdrückt. Ihr Vater Rabani ist General der afghanischen Armee, er ist ihr "Superheld", ein "James-Bond-Typ". Doch leider ohne das Glück, das die Filmfigur in jeder noch so brenzligen Situation hat. Denn eines Tages wird er zu einem Meeting gerufen - und kehrt nie zurück. "Lange Zeit dachte ich, er würde wieder auftauchen", sagte Nadia Nadim der "Sportbible". Mehr als ein halbes Jahr lang geht die Familie davon aus, dass er aufgrund seines Jobs inhaftiert wurde. Doch es ist viel schlimmer: Rabani Nadim wurde von der Taliban entführt und ermordet.
Weil Frauen ohne Männer nicht das Haus verlassen dürfen, Nadia und ihre Schwestern nicht zur Schule gehen dürfen, alle ständig in Angst leben, entscheidet die Mutter: In Afghanistan kann sie mit ihren fünf Töchtern nicht bleiben. Über Kontakte bekommen sie einen Flug nach Italien, von dort flüchtet die Familie mehrere Tage in einem Lkw weiter. Es soll nach London gehen, dort leben Verwandte. Doch es geht schief, die Mutter und ihre Töchter finden sich in Dänemark wieder. In einem Flüchtlingslager bei Aarhus. Das Leben ist karg, doch immer noch freier als in Afghanistan.
"Wenn man in bestimmten Teilen der Welt ein Mädchen ist, ist der Spielraum sehr, sehr klein. Die Möglichkeiten, die man hat, sind begrenzt. Dein Leben ist vorgezeichnet - und mit 18 oder 19 bist du verheiratet", sagte Nadim 2023 bei einer Veranstaltung der FIFA.
In Dänemark lernt die kleine Nadia Neues: Etwa, dass Mädchen Fußball spielen dürfen. Auf einem ihrer Spaziergänge rund ums Flüchtlingslager erspähte sie die Kinder durch einen Zaun auf einem Platz. "Als ich das sah, wollte ich unbedingt auf diesem Feld stehen." Doch sie hat Angst, fürchtet, gar nicht dort sein zu dürfen. Doch sie kommt immer wieder und eines Tages nimmt sie ihren Mut zusammen und bittet den Trainer, mitmachen zu dürfen. "Er war so nett. Plötzlich machte ich die Aufwärm- und Trainingsübungen mit. Ich wusste nicht, was los war, aber es war unglaublich", erinnerte sie sich bei "Sportbible". Nach zwei Monaten darf sie nicht nur mittrainieren, sondern auch mitspielen.
Fünfte EM-Teilnahme für Nadim
Es sind die ersten Schritte einer Karriere, die Nadim um die Welt führt. Als die Offensivspielerin 2009 eingebürgert wird, kann sie auch für Dänemark Fußball spielen. Im selben Jahr wird sie für die EM nominiert - und hat seitdem keine mehr verpasst. 2017 wird sie gar Vize-Europameisterin, Dänemark verliert erst im Finale gegen die Gastgeberinnen aus den Niederlanden. Die Europameisterschaft in der Schweiz ist Nadims fünfte. Und es ist wohl die überraschendste Nominierung. Ihr letztes Länderspiel hatte Nadim im Dezember 2023 beim 0:3 gegen Deutschland in der Nations League absolviert. Doch Nationaltrainer Andrée Jeglertz setzt noch einmal auf die inzwischen 37-Jährige.
Auch, weil sie ihm mit ihrer Leihe zum schwedischen Hauptstadtklub Hammarby IF im März dieses Jahres bewiesen habe, dass sie unbedingt spielen will, so der Trainer. Denn man kann Nadim eine Art neue Flucht zuschreiben. Diesmal weg von der AC Mailand, wo sie seit Januar 2024 unter Vertrag stand. Große Meinungsverschiedenheiten mit der nach ihr zum Klub gekommenen niederländischen Cheftrainerin Suzanne Bakker führten dazu, dass sie sich nicht mehr wohlfühlte und weniger spielte. Nadim ließ kein gutes Haar an Bakker: "Ich kann ganz ehrlich sagen, dass die Trainingseinheiten in den Flüchtlingslagern besser waren", sagte sie nach ihrer Leihe der schwedischen Zeitung "Aftonbladet".
Diesmal also ein Team in Schweden, seit ihrem ersten Wechsel aus Dänemark heraus hatte Nadim bereits bei mehreren Klubs in den USA, bei Manchester City und bei Paris St. Germain gespielt. Sie ist eine Weltbürgerin, spricht neun Sprachen.
Medizinstudium neben dem Fußball
Und bei all dem Fußball und dem Reisen um die Welt: Nadim ist Ärztin. "Der Fußball war immer etwas für mich selbst, er macht mich glücklich. Ich wusste aber, dass ich auch etwas zurückgeben will. Als Ärztin kommt man in Situationen, in denen man derjenige ist, der helfen kann." Ab 2020 arbeitet sie als Assistenzärztin in der Chirurgie, im Januar 2022 besteht sie alle Prüfungen und spezialisiert sich auf die rekonstruktive Chirurgie. Ihre beiden Jobs verbindet sie im Oktober 2024 auf sehr außergewöhnliche Weise: Im Spiel mit Mailand gegen Sampdoria Genua erleidet sie eine Schnittwunde am Schienbein - und näht diese kurzerhand selbst. "Einer der Vorteile, wenn man Ärztin ist", schreibt sie in einem Video bei X.
Passend zu ihrer eigenen Lebensgeschichte ist sie Botschafterin der Unesco, setzt sich für Flüchtlinge ein. Doch sie nimmt auch eine Botschafterrolle ein, die einen Sturm der Empörung auslöst. 2022 gehört sie neben Englands David Beckham und Spaniens Xavi Hernandez zu denen, die als FIFA-Botschafter für die Männer-WM in Katar fungieren. Dänemarks Verbandsdirektor Peter Möller reagiert "super verärgert und enttäuscht", als Botschafterin stelle sich Nadim "gegen alles, wofür wir stehen".
Dänemarks Kapitänin Pernille Harder lebt offen queer mit ihrer Partnerin, Schwedens Kapitänin Magdalena Eriksson. Die beiden spielen beim FC Bayern, Harder sagt: "Ich hätte das nicht gemacht." Nadim ihrerseits fühlt sich falsch verstanden: Sie wolle dafür kämpfen, dass sich Harder und Eriksson irgendwann auch in Katar auf der Straße küssen dürften, sagte sie dem "Spiegel". Immerhin, der Zwist hat keine persönlichen Konsequenzen, Harder und Nadim spielen sowohl bei der EM 2022 als auch bei der WM 2023 in einem Team. Harder sagte: "Nadia hat ja nichts dagegen, dass ich homosexuell bin, deshalb ist es nicht komisch zwischen uns."
Auch bei dieser EM sind sie Teamkameradinnen - wie seit so vielen Jahren. Auf 164 Länderspiele bringt es Harder bereits, Nadim steht vor dem Duell mit Deutschland (18 Uhr/ARD und im ntv.de-Liveticker) bei 106, weil sie beim EM-Auftakt gegen Schweden in der 75. Minute eingewechselt wird. Womöglich folgt ihr 107. Einsatz also gegen Deutschland - danach werden nicht mehr allzu viele hinzukommen. Nicht nur, weil noch offen ist, ob Dänemark den Sprung ins Viertelfinale schafft. Sondern auch, weil Nadim ihr Karriereende im Dänemark-Trikot für nach dem Turnier angekündigt hat.
Es ist eine Karriere, von der die kleine Nadia nicht einmal träumen durfte. Sie wusste nicht einmal, dass Mädchen auch Fußball spielen können. Seitdem ist viel passiert.
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