Ronald „Ronny“ Rauhe schrieb als Kanute Sportgeschichte, holte 18 Gold-Medaillen für Deutschland (zweimal bei Olympischen Spielen, 16-mal bei Weltmeisterschaften). Seit dem Karriere-Ende 2021 ist er bei der Bundeswehr als Hauptfeldwebel angestellt, als Redner und Buchautor tätig und will jetzt die Olympischen Spiele nach Deutschland holen – am liebsten in seine Heimatstadt Berlin.
WELT: Herr Rauhe, bei Olympia 2024 in Paris reichte es für Deutschland nur zu Platz 10 im Medaillenspiegel. Von Ihnen stammt der Satz: „Wir müssen uns wieder trauen, Helden zu kreieren“. Gilt er heute mehr denn je?
Ronald Rauhe (43): Auf jeden Fall. Es ist wichtig, Helden aufzubauen. Weil wir Vorbilder brauchen, um die Jugend, die Gesellschaft zu motivieren, gesundheitsfördernden Sport zu treiben. Deshalb müssen wir uns trauen, Athleten mit dem Bundesadler auf dem Trikot sichtbar in den Mittelpunkt zu stellen, etwa indem wir ihr Bild riesengroß an ein Hochhaus hängen, wie es andere Nationen mit ihren Stars machen. Wir haben in Deutschland leider ein Problem damit, im positiven Sinn Patriotismus zu zeigen, was mit der deutschen Geschichte den in ihr wurzelnden tiefen Wunden zusammenhängt.
WELT: Warum hat Deutschland nur noch wenige Sport-Helden wie die Olympiasieger Lukas Märtens im Schwimmen, Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye oder Oliver Zeidler im Rudern?
Rauhe: Medaillen werden gerne als Maßstab herangezogen bei der Beurteilung, wie sich ein Land sportlich entwickelt. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir im Wintersport zu den besten Nationen der Welt zählen und bei den World Games, den Weltspielen der nicht-olympischen Sportarten, 2022 den Medaillenspiegel gewonnen haben. Aber eine Analyse muss viel tiefer gehen: Wir haben es in vielen Bereichen zu lange versäumt, die Breite zu fördern, aus der am Ende die Spitze – die Helden – entsteht. Da spielen viele Bausteine eine Rolle.
WELT: Wo muss angesetzt werden?
Rauhe: Wir haben viele gut ausgebildete Trainer – aber die müssen wir auch halten können. Im Vergleich zum Ausland ist es katastrophal, was wir unseren Trainern bieten. In Deutschland ist der hauptamtliche Trainer nicht mal ein anerkannter Beruf, obwohl die Hürden in der Ausbildung extrem hoch sind. Ein Lehrer wird beispielsweise deutlich besser bezahlt als ein Trainer, obwohl es um dieselbe Sache geht: die Erziehung von Kindern zur Leistungsbereitschaft. Viele gute Trainer gehen ins Ausland, wo sie deutlich höhere Anerkennung genießen und mehr Geld verdienen können. Mit ihnen wandert deutsches Know-how, auch technisches Wissen, ins Ausland ab. Andere Länder haben uns eingeholt und überrollen uns langsam. Es gibt aber noch ein Problem ...
WELT: Welches?
Rauhe: Es wird für viele unserer rund 86.000 Sportvereine auch immer schwieriger, ehrenamtliche Übungsleiter zu finden. Sie opfern ihre Zeit und manchmal sogar ihr Geld und bekommen trotzdem keinerlei Wertschätzung.
WELT: Was stellen Sie sich vor?
Rauhe: Es ist höchste Zeit, über steuerliche Vergünstigungen nachzudenken für Menschen, die einen Dienst an der Gesellschaft leisten, gerade im Nachwuchsbereich. Wir müssen das Ehrenamt stärken.
WELT: Ex-DFB-Präsident Fritz Keller hatte für Extra-Rentenpunkte für Ehrenamtler plädiert. Gute Idee?
Rauhe: Absolut. Wir suchen händeringend nach Übungsleitern, weil die Idealisten leider immer weniger werden und es zu wenig Motivation für Neueinsteiger gibt. Eine Möglichkeit wäre auch, dass die Vereine steuerlich entlastet werden, damit sie finanziell etwas mehr Spielraum bekommen. Und etwa Nachwuchstrainern, die oft noch Jugendliche sind, zumindest ein kleines Taschengeld zahlen können.
WELT: Zum ersten Mal hat eine Bundesregierung eine Staatsministerin für den Sport und das Ehrenamt installiert. Welche Erwartungen haben Sie an Christiane Schenderlein?
Rauhe: Es ist erst mal gut, dass der Sport und das Ehrenamt direkt im Bundeskanzleramt angebunden sind. Aber die Ernennung einer Staatsministerin für Sport allein sorgt nicht für ein Umdenken in der Bevölkerung und Politik. Die große gesellschaftliche Bedeutung des Sports wird nicht oder zu wenig gesehen, etwa bei Themen wie Integration oder Wertevermittlung. Ich erhoffe mir von Frau Schenderlein, dass sie die Anerkennung vorlebt und den Sport in der Gesellschaft in die Rolle hievt, die er verdient.
WELT: Eine Olympia-Bewerbung für 2036, 2040 oder 2044, die Bundeskanzler Friedrich Merz unterstützt, könnte dabei hilfreich sein.
Rauhe: Absolut. Eine Bewerbung um Olympische und Paralympische Spiele würde Gelder freimachen, wie ein Turbo wirken, auch was die Sport-Infrastruktur mit einem Sanierungsstau von aktuell rund 31 Milliarden Euro betrifft. Eine Bewerbung könnte für eine größere Wertschätzung des Sports in der Gesellschaft sorgen, ihn zum Beispiel in den Schul-Alltag zurückzubringen. Und sie könnte eine Gesellschaft, deren Demokratie von Rechtsaußen angegriffen wird, vereinen.
WELT: Wo sehen Sie weiteren Handlungsbedarf?
Rauhe: Ein wichtiges Thema ist die Athleten-Absicherung nach dem Karriereende. Ich plädiere nicht in erster Linie dafür, höhere Prämien für Olympia-Medaillen zu zahlen. Viel wertvoller wäre es, wenn für jeden Erfolg ein Betrag X auf das Rentenkonto der Athleten eingezahlt werden würde, damit sie nach der Karriere etwas weicher fallen. Es gibt sehr viele Sportler, die sich 20 Jahre lang nur auf die Karriere konzentriert haben und deshalb keine Zeit hatten, einem Beruf nachzugehen. Sie haben entsprechend nie einen Euro in die Rentenkasse eingezahlt. Das holen sie später nie wieder auf. Sie gehen also ein großes Risiko ein – müssen das aber tun, um in der Weltspitze mitzuhalten. Besser sieht es bei den Athleten aus, die vom Staat beschäftigt werden – fast 40 Prozent der Olympia-Starter in Paris waren Mitglieder der Sportfördergruppe der Bundeswehr. Diese Förderung bietet ihnen zwar Sicherheit, aber auch nur solange sie den Kader-Status haben. Stimmt die Leistung nicht mehr, kann in Absprache mit dem jeweiligen Fachverband der Förderplatz gestrichen werden.
WELT: Sie sind Mitglied in der Athletenkommission des Europäischen Olympischen Komitees (EOC). Wie könnte das Risiko minimiert werden?
Rauhe: Ich war bei meinem letzten Rennen bei Olympia 2021 in Tokio 40 Jahre alt und wusste in dem Moment, in dem ich die Ziellinie überquert und Gold gewonnen hatte, nicht, wie es im nächsten Monat ohne Berufserfahrung mit mir, meiner Frau und den zwei Kindern weitergeht. Es wäre für die Zukunft die Aufgabe der Politik, der Gesellschaft und auch deutscher Großunternehmen zu erkennen, wie wichtig die Unterstützung der Athleten ist. Ein wichtiger Faktor ist, dass die Bundespolizei und Feuerwehr die von ihnen geförderten Athleten nach deren Karriere-Ende zu 100 Prozent übernehmen. Die Bundeswehr arbeitet an einer ähnlichen Lösung. Das ist eine sehr wichtige Unterstützung.
WELT: Ist es bei der Spitzensport-Förderung noch zeitgemäß, dass in Deutschland mit der Gießkanne jede Sportart von der Politik gefördert wird? Im Ausland wird gezielt in die Sportarten investiert, in denen eine Nation gut ist und viele Titel holt.
Rauhe: Die Niederländer sind dafür ein Musterbeispiel, die sind im Medaillenspiegel hochgeschnellt. Ich war vor kurzem in Papendal (Sitz des niederländischen NOK, d. Red.) und habe die Strukturen kennengelernt. Das funktioniert natürlich, wenn man nur auf den Leistungssport guckt. Da wird viel Geld investiert und viel für die Athleten getan. Aber sehr viele andere Sportarten werden komplett vergessen, werden weder im Leistungs- noch im Breitensportbereich gefördert. Die Vielfalt des Sports geht verloren, die Holländer haben vielleicht nur die Hälfte der olympischen Disziplinen besetzt. Ich hätte Bauchschmerzen, wenn wir dieses System kopieren würden.
WELT: Wie sieht Ihr Gegenmodell aus?
Rauhe: Wir müssen strukturell viel ändern, da muss sich der Sport natürlich auch selbst hinterfragen. Wir arbeiten an manchen Stellen viel zu ineffektiv. Wenn man sich allein anguckt, wie viele Stützpunkte wir in Deutschland noch abseits der Olympiastützpunkte haben – meiner Ansicht nach zu viele! Die verschlingen erstens viel Geld, und zweitens ist es wichtig, dass an einem Stützpunkt möglichst viele gute Athleten zusammen trainieren. Wenn wir uns stärker auf unsere 16 Olympia-Stützpunkte konzentrieren würden, würde uns das schon weiterbringen.
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