Die Frage ist enorm schwierig. Der geneigte Leser überlegt jetzt gern mal, wie sie zu beantworten ist. Sie lautet: Das Vermögen eines Mannes wird auf deutlich über 60 Millionen Euro geschätzt. Er hat im Fußball alles gewonnen, was man gewinnen kann. Der Mann besitzt ein Gestüt mit zahlreichen Pferden, liebt Golf und ist meist bester Laune. Was schenken Sie ihm zum Abschied?

Mögliche Antwort: Einen Igel. Zumindest haben sich Jochen Hahne und Peter Uebelacker für diese Lösung entschieden. Die Ärzte des FC Bayern überreichten Thomas Müller in diesen Tagen in den USA eine Tier-Figur, darauf schrieben sie Dankesworte und lobten die jahrelange Zusammenarbeit. Ein tierischer Gag, offenbar ohne den ganz tiefen Sinn. Müller lachte und freute sich.

Für den 35-Jährigen sind es die letzten Tage als Spieler des Weltvereins. Nach 25 Jahren im Klub endet bei der Klub-WM seine Zeit als Profi des deutschen Fußball-Rekordmeisters. Maximal noch drei Spiele, dann ist Schluss. Im Hotel Four Seasons im Disney World Resort in Orlando/Florida bereitet er sich mit seinen Kollegen auf das Viertelfinale des Wettbewerbs gegen Paris St. Germain am Samstag (18 Uhr, Sat.1 und DAZN) vor. Die Partie steigt in Atlanta in einem rund 1,6 Milliarden teuren Stadion. 33 Grad werden erwartet, die Arena lässt sich komplett klimatisieren.

„Mein großes Ziel ist es, noch dreimal für den FC Bayern aufzulaufen“, sagt Müller. „Deshalb braucht es eine Top-Leistung von allen gegen den aktuellen Champions-League-Sieger. Die Franzosen sind natürlich eine Hausnummer.“ Das Finale der Klub-WM steigt am 13. Juli in New Jersey. „Das Besondere an der Klub-WM ist für mich, ein richtiges Turniererlebnis mit der Mannschaft zu haben, die ohnehin seit Jahren zusammengewachsen ist“, so Müller. „Mit dem ganzen Staff und allen Spielern gemeinsam – das schafft eine einzigartige Atmosphäre.“

Vom Start-Cover seiner offiziellen App hat der FC Bayern Müller bereits entfernt. In diesem Sommer endet eine Ära. Ein Vereinsidol tritt ab, mit 755 Profi-Einsätzen ist Müller Rekordspieler des Vereins. Der Klub nutzt ihn bis zum letzten Tag als Gesicht, sendet Fotos in die Welt, wie Müller mit seinem oberkörperfreien Kollegen Leon Goretzka in der Hitze Floridas Golf spielt. „Ich liebe es, mit jungen Talenten zu arbeiten“, scherzte Müller über den 30-jährigen Goretzka. Müller, Spitzname „Radio Müller“, hat den deutschen Fußball seit den späten 2000ern geprägt – eine Legende sagt Servus.

So gut er sich mit den Ärzten des Klubs versteht – dringend gebraucht hat er sie selten, Müller war kaum verletzt. Er lebt sehr professionell und ist topfit. Und überlegt daher, ob er weiterspielt. Im Ausland. Los Angeles FC ist interessiert, Trainer der Kalifornier ist der einstige Bundesligaprofi Steve Cherundolo. Bislang gab es keine finanzielle Einigung, nun legt L.A. offenbar nach.

Startstürmer Olivier Giroud, 38, wechselt zu OSC Lille, L.A. spart somit viel Gehalt. Und kann mehr in den erhofften Müller-Deal investieren. Die „Designated Player Rule“ ermöglicht es Klubs des US-amerikanischen Profiliga MLS, bis zu drei Spieler zu verpflichten, die außerhalb ihrer Gehaltsobergrenze liegen. Diese Plätze waren bei LAFC bisher von Startorwart Hugo Lloris, 38, Offensivprofi Denis Bouanga, 30, und eben Giroud belegt.

Auch SSC Neapel wollte Thomas Müller

Ein Karriereende Müllers ist dennoch nicht ausgeschlossen. Bei DAZN sagte er: „Vielleicht höre ich aber tatsächlich auch auf. Alles ist noch möglich und ich mache mir da keinen Stress.“ Sollte er diesen Entschluss treffen, dann nicht aus Mangel an Alternativen.

Im September wird Müller 36 Jahre. Er ist in weiter guter Form und immer noch begehrt, auch SSC Neapel wollte ihn. Wie geht das?

Prof. Sascha L. Schmidt ist Inhaber des Lehrstuhls und akademischer Leiter des gleichnamigen Centers für Sports und Management an der WHU – Otto Beisheim School of Management in Düsseldorf. Der 54-Jährige hat mit seinem Kollegen Boris Groysberg eine Fallstudie über Müller geschrieben, einen „Harvard Business Case.“ Schmidt sprach dafür mit Müller, dessen Bruder Simon, Müllers Manager, dem ehemaligen Bayern-Chef Karl-Heinz Rummenigge sowie ehemaligen Trainern wie Louis van Gaal und einstigen und aktuellen Mitspielern wie David Alaba und Manuel Neuer.

Schmidt sagt im Gespräch mit WELT AM SONNTAG: „Müller ist einer der ganz wenigen Spieler, die in ihrer ganzen Karriere nur bei einem Klub waren – wie Dirk Nowitzki, über den es übrigens auch einen „Havard Business Case“ gibt. Jemand, der so einen außergewöhnlichen Karriereweg hingelegt hat, hat viele Trainer überlebt, Managerwechsel erlebt, ganz viele überschiedliche neue Konstellationen im Klub gehabt. Und er hat immer wieder Wege gefunden, erfolgreich zu bleiben.“ Es sei auch für Manager interessant zu sehen, „wie es möglich ist, so lange Zeit on top zu sein und seinen Wertbeitrag leisten zu können, obwohl sich um einen herum die Bedingungen ständig ändern.“

Schmidt ging er Frage nach: Wie konnte Müller so lange erfolgreich sein? Und kommt nach langer Analyse zu einer Antwort. „Müller ist überall gut, aber nirgendwo spitze. Er ist nicht der Schnellste, nicht der Dribbelstärkste, kein „Pass-Monster“ wie Toni Kroos und kein Wunderstürmer wie Robert Lewandowski. Trotzdem zählt er zu den absolut besten deutschen Fußballern der Geschichte, was die Titelausbeute angeht.“

Einer der zentralen Gründe für Müllers Erfolg sei seine „ganz bewusste Wandlungsfähigkeit. Müller hat sich immer wieder neu erfunden. Und er hat sich dabei stets die Frage gestellt: „Wie kann ich für das Team den größtmöglichen Wert generieren?“ Übrigens eine Fragestellung, die wir uns auch generell fürs Management wünschen würden.“

Entscheidend sei die Kombination aus Wandlungsfähigkeit, Teamorientierung, mentaler Stärke und Bereitschaft, sich die Frage zu stellen, wie er für das Team relevant bleiben kann. „Das erfordert natürlich die Bereitschaft und Fähigkeit, sich zu verändern“, so Schmidt. „Er hat nicht das eine Erfolgsrezept, das bei einem Trainer funktioniert und beim nächsten dann nicht mehr. Sondern er ist in der Lage, durchgehend teamrelevant zu sein und Autorität zu haben. Und das übrigens nicht mal formell legitimiert durch die Kapitänsbinde.“

Das besondere Beispiel mit Robert Lewandowski

Müller sei sehr reflektiert und durchaus selbstkritisch, aber ohne Selbstzweifel. „In unseren Gesprächen nannte er ein gutes Beispiel“, erzählt Schmidt. „Robert Lewandowski kam 2014 aus Dortmund nach München. Müller war in der Saison zuvor der Topscorer der Bayern, er hätte also alles Recht gehabt, auf seiner Rolle als Stürmer Nummer eins zu bestehen.

Er hat sich Lewandowski dann im Training angeschaut und erkannt, dass dessen Qualitäten in vielen Bereichen höher sind als seine eigenen. Müller hat also erkannt, dass es kontraproduktiv für das Team und auch für sich selbst gewesen wäre, mit Lewandowski in einen direkten Konkurrenzkampf zu gehen. Er hat dann nach Wegen gesucht, zusammen mit Lewandowski erfolgreich zu sein, ihn bestmöglich zu unterstützen.“ Müller wurde in der Folge vom Top-Torjäger zum Top-Vorbereiter. Er habe bewusst sein Profil geändert.

Schmidt fragte Müller, was ihn von seinen Mitspielern unterscheidet. Müller musste lange überlegen, antwortete dann: „Ich glaube, ich lasse mich nicht so schnell frustrieren.“ Die Bayern-Legende gilt als „Raumdeuter“, der in Räume geht, die andere nicht sehen. „Er hat sicher eine besondere Begabung, Muster zu erkennen und diese zu nutzen.

Aber das ist nur eine Seite der Medaille“, erklärt Schmidt. „Die andere ist wohl die entscheidendere: Müller hat uns gesagt, dass er jemand ist, der zehnmal vergeblich anrennt und es beim elften Mal wieder versucht, wo andere vielleicht längst aufgegeben haben. Weil er weiß, dass es sich lohnt. Im Fußball hängt so viel auch vom Zufall ab: Vielleicht verspringt dem Torwart beim elften Mal der Ball, und dann ist Müller zur Stelle.“

Man nenne das Resilienzfähigkeit: Die Gabe, Enttäuschungen und Rückschläge gut wegstecken zu können und sich nicht zu viele Gedanken drüber zu machen. „Müller weiß, dass es alles verändert, wenn er kurz vor Abpfiff eines ansonsten schwachen Spiels das entscheidende Tor macht. Man muss es halt nur immer wieder probieren und darf nicht vorher schon den Kopf hängen lassen“, so Schmidt.

Die Sportgeschichte Thomas Müller ist noch nicht beendet. Beim FC Bayern hoffen sie, dass Müller nach seiner Laufbahn als Spieler in verantwortlicher Position im Klub arbeiten wird. Ehrenpräsident Uli Hoeneß, 73, will das unbedingt. Doch bei Thomas Müller ist es außerhalb des Rasens wie auf dem Spielfeld – vieles ist im Vorfeld schwer bis kaum berechenbar.

Fest steht bislang nur, dass der Igel nach der Rückkehr aus den USA im Hause Müller einen Ehrenplatz bekommen wird.

Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT seit vielen Jahren aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über weitere Fußball- und Fitness-Themen. Er kennt Thomas Müller seit 14 Jahren und hat zahlreiche Interviews mit ihm geführt.

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