Für Lena Cassel ist es noch eher ungewohnt, dass sie selber Interviews gibt. Die 30-jährige Journalistin steht für gewöhnlich auf der anderen Seite, erklärt den Deutschen Woche für Woche ihren Lieblingssport, auf diversen Privatsendern, in Podcasts und Talkshows ist sie eines der noch immer eher raren weiblichen und jungen Gesichter im deutschen Fußballbetrieb.

Cassel stand selber an der Schwelle zum Fußballprofi, wechselte dann vom Rasen vor die Kamera, vom Frauen- in den Männerfußball. Was sie dabei als lesbische Frau erlebte, hat sie in einem Buch aufgeschrieben („Aufstiegskampf“/Tropenverlag). Im Interview spricht sie über ihre Erlebnisse und erklärt, warum ihr die Homosexualität im Fußballjournalismus plötzlich als Superkraft ausgelegt wurde.

Frage: Lena Cassel, sind Sie froh, dass Sie nicht Profifußballerin geworden sind?

Lena Cassel: Ich habe ja einst ein Probetraining beim 1. FC Köln verpasst – wegen der Deutschen Bahn. Aber ich habe auch danach auf einem Niveau gespielt, auf dem für mich fast sämtliche Freizeit für den Fußball draufging. Als sich das änderte, gab es plötzlich viel Raum und ein riesiges Fragezeichen: Was mache ich jetzt? Heute bin ich froh, ist alles so gekommen, weil ich mein Leben noch mit anderen Dingen außer Fußball füllen konnte.

Frage: Frauenfußball wird heute gefördert und sichtbarer gemacht. Doch Sie haben Ihren Wechsel zu Fortuna Köln in die dritthöchste Liga einst nur realisieren können, indem Sie Ihre Ablösesumme selber bezahlt haben. Wie ist so was zu erklären?

Cassel: Ich glaube, dass wir an der Spitze professionelle Strukturen haben. Aber der Unterschied zu den Männern macht sich an der Basis bemerkbar. Da verlieren wir ganz viele talentierte Spielerinnen, weil sie sich irgendwann entscheiden respektive einfach Geld verdienen müssen. Und wenn du niemanden hast, der dich in irgendeiner Form unterstützt, dann musst du deinen Traum vom Profi begraben. So ging es mir.

Frage: Während die männlichen Junioren mit Trainingskleidung ausgerüstet wurden, mussten Sie bei Fortuna Köln die Trainingskleidung selber bezahlen. Eine Strafe, wenn man unpassend gekleidet zum Training erschien, gab es natürlich dennoch.

Cassel: Das war eine Mogelpackung, denn als Fußballverein war das, was uns da geboten wurde, höchstens semiprofessionell. Das ließ mich denken: Okay, ihr wollt ein professionelles Team haben, aber ihr gebt uns nicht das Werkzeug dazu. Irgendwann hatten Aufwand und Ertrag nichts mehr zusammenzutun. Sie wollten von uns viermal die Woche Training, Auswärtsfahrt und so weiter, aber viele Fragen überließen sie uns: Wie organisierst du die Auswärtsfahrt? Wie kommst du an die Trainingsklamotten? Wie behandelst du deine Verletzung?

Frage: Viele hoffen da auf die Wirkung von Großanlässen wie der kommenden EM in der Schweiz. Was bringt sie wirklich?

Cassel: Ein solches Turnier kann Anreize für Mädchen schaffen: Ich habe Bock, Fußball zu spielen, weil die Stadien voll sind, ich finde die Spielerinnen cool, ich kann ihnen zuschauen. Da sind plötzlich Vorbilder, die mir gefehlt haben in meiner Jugend. Aber ich glaube nicht, dass das dann top-down funktioniert und eine solche EM sofort an der Basis zu spüren ist.

Frage: Ihre fußballerischen Vorbilder als Jugendliche waren allesamt männlich?

Cassel: Ja klar, was anderes gab es nicht.

Frage: Und dann haben Sie irgendwann feststellen müssen, dass das nicht aufgeht? Dass Sie nicht den gleichen Weg gehen können wie Ihre Vorbilder?

Cassel: Das habe ich damals gar nicht gedacht, weil ich kein Bewusstsein dafür hatte, sondern nur mit Männern sozialisiert wurde. Als ich als einziges Mädchen in der Bubenmannschaft spielte, habe ich gedacht, dass kein anderes Mädchen außer mir Fußball spielen könne. Davon war ich überzeugt. Ich wollte überhaupt nicht ins Mädchenteam und erst recht nicht in ein Frauenteam, weil ich dachte, die können alle nicht Fußball spielen. Ich war so männlich sozialisiert, dass es für mich keine Welt gab, in der Frauen guten Fußball spielen und in irgendeiner Form Vorbilder sind.

Frage: Sie haben dann in den Sportjournalismus gewechselt, wo Frauen noch stärker unterrepräsentiert sind. Mussten Sie noch mal von vorn anfangen?

Cassel: Als ich da mit Anfang 20 das erste Mal einen kleinen Zeh reinhalten durfte, kam mir das Wasser schon sehr kalt vor.

Frage: Warum?

Cassel: Ich war eine junge Frau und noch dazu eine aus einem bildungsfernen Haushalt. Ich hatte ein schlechtes Abitur gemacht und nichts studiert, was mit Sport oder Journalismus zu tun hatte. Und dann sah ich plötzlich jeden Tag weiße Männer aus Akademikerfamilien, die an der Sporthochschule studiert hatten.

Frage: In welchen Situationen wird man als Sportjournalistin auf den Status Frau zurückgeworfen?

Cassel: Wenn ich in Talkshows zu Gast bin, gerade auch als Expertin, nicht nur als Moderatorin, habe ich oft das Gefühl, dass ich nur geduldet bin und dass ich mich erst mal beweisen muss. Von daher ist schon immer viel Druck da. Ich darf keinen Fehler machen, denn dann würde ich ja all die Vorurteile, die ohnehin bestehen, bestätigen. Ich bin dann nicht nur als Lena Cassel, sondern auch in irgendeiner Form für alle anderen Frauen da. Und weil es oft nur einen Platz für eine Frau gibt, besteht auch ein unnatürlicher Konkurrenzkampf zwischen uns Frauen, den wir gar nicht führen wollen.

Frage: Die berühmte Quote.

Cassel: Ja. Aber ich habe kein Problem damit, die Quotenfrau zu sein. Das bin ich auch gern noch für die nächsten Monate, die nächsten Jahre. Aber irgendwann würde ich mir wünschen, dass da nicht eine Frau sitzt, weil sie eine Frau ist, sondern weil sie kompetent ist. Ich bereite mich ja sehr akribisch auf solche Auftritte vor.

Frage: Das lässt sich im Fußballgeschäft nicht von allen Experten behaupten.

Cassel: Ich habe jüngst einen Kommentar gelesen, da schrieb jemand: Bei der Frau wirkt es so, als hätte sie alles auswendig gelernt. Selbst wenn ich mich also vorbereite, wird mir als Frau unterstellt, ich hätte das bloß auswendig gelernt und keine Ahnung davon.

Frage: Und dann kommt jemand wie Mario Basler, sagt seine Meinung und wird dafür gefeiert?

Cassel: Das wiederum finde ich nicht schlimm. Ich finde, in der Diskurswelt des Fußballs darf es Platz für Mario Basler geben, aber es sollte unbedingt auch Platz für Lena Cassel geben, damit wir etwas Bandbreite haben.

Frage: Fußballjournalismus besteht doch vor allem aus Meinung. Der Rest ist ziemlich banal: 2:1, 1:1, 1:2.

Cassel: Der Zugang zum Fußball, den ich habe, geht weit über diese Banalität hinaus. Es reicht ein Blick jedes Wochenende in die Kurven, welche Transparente hochgehalten werden, wie oft sich wozu positioniert wird. All das, was wir in der Gesellschaft sehen, sehen wir auch im Fußball.

Frage: Ihre Homosexualität wurde Ihnen im männerdominierten Sportjournalismus plötzlich positiv ausgelegt: Sie schenkte Ihnen die Glaubwürdigkeit, sich ganz sicher nur für den Fußball zu interessieren.

Cassel: Frauen in diesem Bereich wird ja oft unterstellt, sie wollten nur berühmt werden oder einen reichen Fußballer abbekommen. Ich hatte da einen doppelten Boden: Ich bin lesbisch und spielte auch noch selber Fußball. Das war für mich schon eine Art Superkraft. Das hat mir eine Glaubwürdigkeit verliehen, die mir, für einmal, sogar Türen geöffnet hat.

Frage: Bevor Sie zum Fußball kamen, war das anders. Im Buch schreiben Sie vom Unbehagen mit Geschlechterrollen, das zum Nährboden für Selbstzweifel wurde. Welcher Halt bot Ihnen die Umkleidekabine eines Fußball-Frauenteams?

Cassel: Mitte der Nullerjahre war ich in meiner frühjugendlichen Phase. Da war alles irgendwie No Angels und Tokio Hotel, Girl- und Boybands, einfach überall diese Binarität. Ich passte weder in die eine noch in die andere Schublade. Und natürlich kam eine Verunsicherung hinzu, weil man versucht hat, mich in diese Schubladen zu packen. Und dann kam ich plötzlich in diese Frauenmannschaft und habe gecheckt: Oh, hier ist etwas anders. Hier verschwimmen Geschlechtergrenzen.

Frage: Obwohl da ,nur' Frauen waren?

Cassel: Ja, aber ich fühlte mich irgendwie zugehörig. Das ist ganz unmittelbar als junger Mensch, wenn man die gleichen Klamotten trägt oder die gleiche Frisur hat. Ich hatte wie erwähnt große Skepsis, was den Frauenfußball anging. Ich dachte mir: Was soll ich da? Und dann kam ich da rein und habe mich direkt wohlgefühlt. Ich spürte: Hier muss ich mich nicht verstellen. Hier kann ich einfach nur sein.

Frage: Sie schreiben auch, dass in Ihrer Jugend die einzig sichtbare homosexuelle Frau Hella von Sinnen war, die der Gesellschaft in jeder Hinsicht zeigt: Ich bin nicht normal. Mit ein paar Wochen Abstand zum ESC – wünschen Sie sich manchmal ein etwas differenzierteres Verständnis von Queerness, weg von Glitzer im Haar und Paillettenkleid?

Cassel: Genauso wie Heterosexualität vielfältig sein kann, sollte es doch Homosexualität auch sein können? Ich habe das Gefühl, in unserer Gesellschaft ist dieses Bild verankert: Queersein bedeutet laut, schrill, bunt, anders. Es hat mir damals gefehlt, eine homosexuelle Person zu haben, die eben nicht wie eine Kunstfigur daherkommt, sondern wie jemand, der auch mein Nachbar sein könnte. Das müssen wir vielmehr in den Fokus rücken. Dementsprechend wünsche ich mir, dass ganz unterschiedliche Menschen ihr Queersein öffentlich machen und zeigen, dass das aus der Mitte der Gesellschaft herauskommt. Ich glaube, das wäre einem normalisierteren Umgang sehr zuträglich.

Frage: Und diese Form der Homosexualität haben Sie im Fußball gefunden?

Cassel: Genau, das waren Frauen, die wirklich an jedem Tisch hätten sitzen können, ohne dass gleich allen auffiel, dass sie lesbisch sind.

Frage: Ein Safe Space, so schreiben Sie im Buch, sei das gewesen. Weil da die Mehrheit homosexuell war, oder weil die Mehrheit Frauen waren?

Cassel: Ich glaube sowohl als auch. Natürlich gab es Teams, in denen 90 Prozent der Frauen lesbisch waren. Und dennoch war es nicht das große Thema, selbst bei den Frauen, die nicht homosexuell waren.

Frage: Warum tut sich denn der Männerfußball nach wie vor so schwer mit Homosexualität?

Cassel: Es braucht Berührungspunkte. Und weniger von diesem ritualisierten Diversitätssprech. Ich glaube, der führt keine Veränderung herbei, weil viele Menschen Vorurteile haben und dann direkt sagen können: Boah, geh mir weg mit der Regenbogenfahne. Einen echten Wandel erreichst du nur über Persönlichkeiten und Geschichten und Austausch, der nicht unter einer Kampagne läuft, sondern der im Vereinsheim über die Begegnung funktioniert, weil man zusammen was getrunken hat und checkt: Ach, der oder die ist ja gar nicht so komisch.

Frage: War Fußball Ihr Wegbereiter für das Coming-out?

Cassel: Ja. Sätze, die ein männlicher Fußballer niemals sagen würde: Der Fußball hat mir den Weg zu meiner Homosexualität gezeigt.

Frage: Zu Ihrem Coming-out schreiben Sie: „Vor mir selbst hatte ich mein Lesbischsein zwar annehmen können, es aber gegenüber anderen Menschen zu kommunizieren, war schwieriger.“ Ein Schritt, den wohl niemand nachvollziehen kann, der ihn nicht selber hat machen müssen?

Cassel: Also es gibt das innere Coming-out, und es gibt das äußere Coming-out. Letzteres ist oft schwieriger, weil du natürlich auf Reaktionen triffst. Bei mir war das ein riesiger Prozess, der ein paar Jahre gedauert hat, bis ich mein Lesbischsein nicht mehr als Handicap gesehen habe.

Frage: Einmal erwähnen Sie, dass die übermäßige Inszenierung eines Coming-outs mehr Richtung Abgrenzung als Normalität führen könnte. Was meinen Sie damit?

Cassel: Das Coming-out wirkte auf mich zunächst wie eine schwere Werkzeugkiste, die man auf den Tisch heben muss: Etwas Wegweisendes, das man groß vorbereiten und in die Wege leiten muss. Wer hat schon Lust drauf? Ich würde mir wünschen, dass wir aufhören, diese Erfahrungen so als Lagerfeuergeschichten zu inszenieren, weil ich glaube, dass es eher abschreckend wirkt.

Das Interview führte Moritz Marthaler für den „Tagesanzeiger“ in der Schweiz. Durch eine Kooperation im Rahmen der Leading European Newspapers (LENA) erscheint es auch in WELT.

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