Im vergangenen Jahr hat Timo Boll bereits seine internationale Tischtennis-Karriere beendet. Die Olympischen Spiele in Paris waren der Abschluss einer herausragenden Laufbahn. Danach wurde Boll noch an der Platte von den Emotionen übermannt. An diesem Sonntag dürfte es noch ein wenig intensiver werden. Denn dann greift der 44-Jährige zum letzten Mal als Tischtennis-Profi zum Schläger. Mit Borussia Düsseldorf kämpft er gegen TTF Ochsenhausen um die Deutsche Meisterschaft.

Es wäre die finale Krönung einer ohnehin schon kaum zu fassenden Karriere, die ihn vier Mal an die Spitze der Weltrangliste führte und ihm neben zahlreichen Titeln mit Düsseldorf auch vier Olympia- und neun WM-Medaillen einbrachte. Bundestrainer Jörg Roßkopf sagt im ntv.de-Interview, wie Boll sich so lange auf Topniveau beweisen konnte, warum er in China eine Ikone ist und nie ein Anführer war.

ntv.de: Hallo Herr Roßkopf, wie geht es Timo Boll?

Jörg Roßkopf: Ich habe in den vergangenen Tagen lange mit ihm sprechen können, er ist schon sehr aufgeregt. Ihm ist bewusst, dass es nun am Sonntag sein wirklich letztes Spiel ist. Wir haben ja schon im vergangenen Jahr bei den Olympischen Spielen erlebt, wie emotional er war. Aber er ist auch sehr fokussiert, er will gut spielen, einen Punkt dazu beisteuern, dass Düsseldorf Deutscher Meister wird. Er ist auf jeden Fall topfit. Aber ...

... ein Aber gibt es immer?

Ja, er bricht sich keinen Zacken aus der Krone, wenn er das letzte Spiel seiner Karriere verliert. Wir dürfen nicht vergessen, dass er auf jeden Fall gegen einen absoluten Topspieler an die Platte muss - egal, wie die Aufstellung am Sonntag auch sein wird. Die Gegner, die warten, sind mittlerweile alle eigentlich besser. Aber der Anspruch eines Spielers wie Timo Boll, der jahrzehntelang auf einem Monsterniveau gespielt hat, ist natürlich immer zu gewinnen. Aber egal, wie es ausgeht, es ändert nichts an seiner Karriere.

Wurde er denn in Deutschland ausreichend gewürdigt? Einzelsportler haben es hier ja nicht immer einfach ...

Darum geht es ihm nicht. Timo Boll braucht die große Bühne nicht. Er ist froh, wie es gelaufen ist, er hat viel Anerkennung erfahren, sehr viele Erfolge gefeiert. Er hat absolut das Maximum aus seiner Karriere herausgeholt. Ihm fehlt gar nichts, auch wenn wir in Deutschland seit 1989, seit unserem Doppel-Triumph (Anmerk. d. Red.: Roßkopf wurde mit Steffen "Speedy" Fetzner Doppel-Weltmeister in Dortmund), weiter auf einen Weltmeister warten. Timo hat trotzdem alles erreicht, bei jedem Turnier Medaillen geholt. Und was man nicht vergessen darf: Er hat 25, 30 Jahre auf einem Monsterniveau gespielt, war dazu immer fair.

So flog er 2005 als Mitfavorit zu den Weltmeisterschaften nach Shanghai und stand am Ende auch ganz oben auf dem Podest. Doch Boll bekam dort keine Medaille überreicht, sondern den Fair-Play-Preis. Im Achtelfinale spielte er gegen den Chinesen Liu Guozheng, hatte im siebten Satz einen Matchball und der Schiedsrichter erklärte den Deutschen bereits zum Sieger, weil sein Gegner diesen Ball verschlug. Boll aber zeigte an: Der Ball habe die Tischkante noch leicht touchiert, der Punkt gehöre dem Chinesen. Außer ihm hatte das in der Halle niemand bemerkt. Zwei Ballwechsel später war er ausgeschieden.

Eine solche Karriere ist heutzutage außergewöhnlich. Ich nenne ihn gerne den Roger Federer des Tischtennis, man sieht und umgibt sich einfach gerne mit ihm.

Ist dieser Sonntag der perfekte Zeitpunkt für Timo Boll, um abzutreten?

Es ist definitiv der richtige Zeitpunkt zum Aufhören. Seine Karriere hätte keine Saison länger dauern dürfen. Das weiß er auch. Es wird ja auch immer schwieriger, sich zu motivieren. Und letztlich geht er jetzt auch ohne große Schmerzen, konnte sich seinen Zeitpunkt selbst aussuchen. Das ist schon ein Privileg.

Wie hat Timo Boll in seinen Jahren in der Weltspitze den Sport verändert?

Er hat das Tischtennis auf ein neues Level gehoben. Das muss man so sagen. Er ist sehr viel auf die Platzierung gegangen. Er hat Tischtennis wie Schach verstanden, hat das Spiel taktisch auseinandergenommen. Und er hat sich immer wieder angepasst. Würde er noch so spielen wie vor 20 Jahren, wäre diese Karriere bis heute nicht möglich gewesen.

Können Sie für Tischtennis-Laien mal erklären, wie er früher gespielt und wie er sich dann angepasst hat?

Wie gesagt, Timo ist früher sehr viel mehr auf Platzierung gegangen. Er hat mit einer unglaublichen Rotation des Balles gespielt. Das war sein großes Plus, er hatte eine extreme Beschleunigung aus dem Unterarm und seinem Handgelenk heraus. Für die meisten Gegner ist es sehr schwer gewesen, damit umzugehen. Aber dann kamen die Veränderungen im Sport, der Ball wurde größer und war nicht mehr aus Zelluloid, sondern aus Plastik. Der Ball hatte viel weniger Spin. Da ging es dann also darum, sich zu verändern. Wir haben sehr an seiner Schlaghärte gearbeitet und an seinem Ball-Treffpunkt, wohl wissend, dass wir sein Spiel nicht komplett umstellen können. Wenn man heute erfolgreich sein will, braucht man einen perfekten Mix aus Spin und Power, wie es gerade ein Hugo Calderano zeigt. Aber das war immer das Schöne an Timo, er hat alle Umstellungen immer sehr schnell geschafft. Das zeigt einfach auch nochmal, was er für ein Talent war.

Bolls hervorragende Sehleistung (nach eigener Angabe 280 % Sehfähigkeit) half ihm stets dabei, die Kontrolle am Tisch zu behalten: Er nutzte den Markenaufdruck auf dem Ball als Orientierungshilfe. "Daran erkenne ich, welchen Spin der Ball hat", sagte Boll einmal. Im Tischtennis erreicht der Ball Geschwindigkeiten um 100 Kilometer pro Stunde, die Reaktionszeit beträgt wenige Zehntelsekunden. Spitzenspieler können eine Rotation von bis zu 150 Umdrehungen erzeugen - pro Sekunde.

Wie konnten Sie als Bundestrainer eigentlich auf Boll einwirken? Was konnten Sie ihm noch beibringen?

Ich war viel bei ihm vor Ort. Wir haben ständig versucht, sein Spiel weiterzuentwickeln, seine Spielweise anzupassen. Wie oben bereits gesagt. Aber es ging dabei auch viel um Motivation, die bei Timo allerdings immer da war.

Besondere Motivation zog auch das Tischtennis-Imperium China aus dem Herausforderer Timo Boll. Warum ist er da eigentlich zu so einem großen Star geworden, wenn er doch ihr größter Gegner war?

Nun, in China ist es generell so, dass die großen Stars dort begeistert empfangen werden. Das Land ist einfach extrem am Tischtennis begeistert. Das erfahren auch gerade die jungen europäischen Stars wie Felix Lebrun oder Truls Möregardh. Aber Timo hat das schon ein bisschen mehr geweckt, auch wenn wir das zu meiner Zeit schon gespürt haben. Vor allem die ältere Generation der Chinesen liebt es, wenn da europäische Topspieler kommen und ihre Stars herausfordern. Sie haben das bei Timo geliebt, wenn er die chinesischen Stars besiegt oder gejagt hat. Aber das verändert sich gerade ein bisschen, die jüngere Generation schaut mehr auf die eigenen Spieler.

Das klingt wirklich verrückt, das ist offenbar eine ganz andere Mentalität?

Am Anfang waren sie natürlich auch geschockt von Timo. Sie waren geschockt, dass es schwieriger wird, Turniere zu gewinnen. Aber sie mögen das. Sie lieben den Vergleich. Und das ist auch wichtig, um sich selbst wieder und wieder zu motivieren. Es ist für keine Sportart gut, wenn immer nur einer gewinnt. Leider haben wir das in unserem Sport in den vergangenen Jahren zu oft erleben müssen. Es wäre auch für China wichtig, wenn ein Weltmeister mal nicht aus ihrem Land kommt. Das hält die Spieler auf Trab.

Nach der gerade beendeten WM machte eine Meldung Schlagzeilen, dass die Chinesen so wenig Medaillen abgeräumt haben wie vor 50 Jahren. Deutet sich da eine Zeitenwende an?

Erst mal werden sie sich dadurch sehr viel Motivation holen. Das meinte ich ja eben auch. Aber auch diese große Nation hat Probleme, Nachwuchs aufzubauen. Sie haben einige Superstars wie Ma Long, Fan Zhendong und Xu Xin verloren. Die waren über Jahre hinweg der Fels in der Brandung. Sie müssen nun auch hart arbeiten, um diese Lücken zu schließen, auch wenn sie definitiv tolle Spieler haben. Aber die vergangene Weltmeisterschaft und zuvor schon der World Cup waren toll für den Sport, weil der Rest der Welt näher dran war und Hugo Calderano auch das Turnier gewonnen hat. Ich selbst habe ja erlebt, wie es ist, wenn China mal stolpert.

Sie sprechen von der WM 1989, als Sie Doppel-Gold mit "Speedy" Fetzner geholt haben?

Ja, das war ein großer Peak. China hat damals alle WM-Titel bei den Männern verloren, im Einzel, im Doppel und in der Mannschaft. Sie haben danach sechs Jahre gebraucht, um sich zu erholen. Das war gut für unsere Sportart.

Mit Fan Zhendong wechselt einer der großen Chinesen zum 1. FC Saarbrücken. Kann die Bundesliga davon profitieren und sich ein bisschen aus dem Schatten der großen anderen Ligen lösen?

Ich persönlich tue mich schwer damit zu sagen, dass das unmöglich ist. Aber klar ist, wir müssen professioneller arbeiten. Da stehen wir alle in der Verantwortung, die Vereine, die Liga, die Nationalmannschaft. Aber wir haben mit Timo Boll, der uns in beratender Funktion erhalten bleibt, und mir ja zwei Galionsfiguren, die dem Verband helfen wollen. Und mit Wolfgang Dörner einen neuen CEO an der Verbandsspitze, der aus der Wirtschaft kommt und selbst ein leidenschaftlicher Tischtennisspieler ist. Wir wollen gemeinsam einiges anschieben.

Was braucht es dafür?

Wir brauchen dringend neue Talente. Aber das ist kein spezielles Problem im Tischtennis, wir tun uns in Deutschland generell sehr schwer, Talente zu sichten. Da müssen wir besser werden.

Mit Annett Kaufmann, die nicht nur an der Platte, sondern auch als Charakter überzeugt, gibt es zumindest ein großes Talent. Dazu noch Josi Neumann oder bei den Männern Kay Stumper und Andre Bertelsmeier ...

Wir versuchen, den Weg ein bisschen ruhiger anzugehen. Annett wird noch eine Weile brauchen, um in der Weltrangliste nach vorne zu kommen. Aber wir haben definitiv einige junge Spieler, die das Zeug haben, sich in der Spitze zu etablieren. Aber gerade bei den Männern haben die Talente das Problem, dass wir noch eine sehr starke Generation haben, mit Dimitrij Ovtcharov, mit Benedikt Duda, mit Patrick Franziska und mit Dang Qiu. Sie besetzen die Plätze, da ist es die Aufgabe der jungen Spieler, mehr Druck auf die Etablieren aufzubauen.

Wo liegen denn im Nachwuchs die größten Probleme?

Vor allem in der Generation der Acht- bis Zwölfjährigen haben wir Probleme. Da müssen wir auf allen Ebenen besser werden, müssen den Sport in Kindergärten, Schulen und Vereinen vorantreiben, investieren. Einen richtigen Push dafür könnte eine deutsche Olympia-Bewerbung 2036 oder 2040 geben. Wir haben ja bei der Fußball-WM 2006 gesehen, was so ein Großereignis für ein Land bedeuten kann. Investitionen in den Sport zahlen sich um ein Vielfaches aus. Wir brauchen da gute, nachhaltige Konzepte. Und was man nicht vergessen darf: Tischtennis ist eine der erfolgreichsten Sportarten im Land, von 1989 bis 2024 haben wir immer erfolgreich gespielt, immer eine Medaille geholt. Das ist schon, finde ich, immens.

Gehen wir von der Zukunft nochmal zurück in die Gegenwart: Wie steht es denn nach dem Abschied von Boll um das Nationalteam? Wer hat die Führung übernommen? Dang Qiu, als Bestplatzierter in der Weltrangliste?

Nein, man kann nicht einfach sagen: "Du bist jetzt der Anführer, weil Du in der Weltrangliste vorne bist." So eine Mannschaft entwickelt sich ja immer. Wir sind etwa sehr zufrieden damit, wie Patrick Franziska sich gibt. Er hat sich sportlich und als Anführer beim 1. FC Saarbrücken sehr gut entwickelt. Dima (Anmerk. d. Red.: Dimitrij Ovtcharov) wird immer ein Anführer für uns sein, das war auch schon, als Timo noch bei uns war. Timo hat ja nicht geführt, er hat das nicht gewollt.

Was war dann seine Rolle in der Mannschaft?

Er war der ruhende Pol, während Dima immer sehr viel gefordert hat. Was wir jetzt brauchen, ist jemand, der die Rolle von Timo übernehmen kann, der Ruhe in die Mannschaft bringt. Der das Team nach der WM, für die wir nach dem schwachen Abschneiden zu Recht kritisiert worden sind, wieder motiviert und auf Kurs bringt. Dafür bildet sich das Team neu und ich bin auch sehr zufrieden, wie Benedikt Duda und Dang Qiu ihre neuen Rollen annehmen. Ich bin sehr froh, wie es gerade läuft und sehr motiviert und optimistisch für die nächsten Jahre.

Mit Jörg Roßkopf sprach Tobias Nordmann

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