Auf den letzten Metern, ja in den finalen Tagen und Stunden seiner Karriere, die er in diesem Ausmaß und in dieser Länge nie für möglich gehalten hatte, wird Timo Boll dann doch noch etwas mulmig zumute. Als seine Karriere einst Fahrt aufnahm, da dachte er: „Das geht vielleicht bis Ende 20, danach mache ich eine Ausbildung als Bankkaufmann.“ Er lächelte, als er im vergangenen Sommer in Paris diesen Satz sagte. In Paris, bei seinen siebten Olympischen Spielen, nach dem letzten Match auf der größtmöglichen Bühne, die der Sport zu bieten hat. Ein knappes Jahr später steht es nun an: das letzte nationale Spiel, der letzte Aufschlag seiner Karriere. Mit 44 Jahren.
„Da werde ich schon wehmütig und bekomme auch ein bisschen Angst vor dem Moment, ganz ehrlich“, sagt er beim Gedanken daran. „Aber wenn man seinen Sport so sehr liebt, ist das, glaube ich, normal. Es muss auch so sein, dass es noch mal kribbelt und wehtut.“ Die Tage sind gezählt. Der 15. Juni wird das Ende einer Ausnahmekarriere besiegeln. Nach dem Bundesliga-Playoff-Finale in Frankfurt zwischen seinem Klub Borussia Düsseldorf und TTF Ochsenhausen (13 Uhr/Dyn) ist Schluss für Boll. In ihm verliert das deutsche Tischtennis nach 26 Profi-Jahren sein Aushängeschild, die prägende Figur, dazu hoch angesehen weltweit in seiner Sportart, verehrt und kopiert in China, dem Land der Tischtennis-Enthusiasten. Ein „Jahrhundertspieler“ wie Steffen Fetzner sagt und einer der Größten des deutschen Sports – auch wenn er das selbst nie behaupten würde.
Das tun dafür andere. Ehemalige Weggefährten aus dem Tischtennis genau wie Athleten und Beobachter außerhalb dieses Sports – und einer, der hierzulande und weltweit selbst als Legende gilt: Basketballer Dork Nowitzki. Dass Boll und Nowitzki seit den Olympischen Spielen 2008 eng befreundet sind, Nowitzki bei Bolls letzten Paris-Bällen auf der Tribüne saß und auch am 15. Juni anreisen wird, spricht Bände. „Es hat mich am meisten beeindruckt, dass Timo so einen Willen hat und dass er sich so hineinbeißen kann in Events und Spiele. Und das über 26 Jahre, unfassbar! Hut ab. Ganz großen Respekt zu seiner Karriere“, sagt Nowitzki in der achtteiligen Dyn-Dokumentation „Timo Boll – Der letzte Aufschlag“, die Bolls Karriere nachzeichnet, ihn begleitete und Weggefährten zu Wort kommen lässt (Folge 1-5 seit 6. Juni bei der Streaming-Plattform abrufbar).
„Du bist ein richtiges Vorbild“, sagt der Konkurrent von einst
Zum einen sind es die Erfolge und die Dauer seiner Präsenz in der Weltspitze, die Boll zur Legende machen. Der Mann aus Höchst im Odenwald schlug bei sieben Olympischen Spielen – ein Zeitraum, der fast ein Vierteljahrhundert abdeckt – und 20 Weltmeisterschaften auf. Er gewann dabei 13 Medaillen, darunter mit dem Team zweimal Olympia- und fünfmal WM-Silber sowie zweimal Olympiabronze, außerdem im Einzel zweimal WM-Bronze und im Doppel mit Christian Süß WM-Silber.
Hinzu kommen rekordwürdige acht EM-Einzeltitel und eine Ehre, die für olympische Sportler mit das Größte ist: 2016 wurde Boll bei den Spielen in Rio als Fahnenträger der deutschen Mannschaft für die Eröffnungsfeier auserkoren.
Vor allem: Im Jahr 2003 erklomm Timo Boll als erster Deutscher die Spitze der Weltrangliste; und 2018, mit knapp 37, nahm er zum vierten Mal die Position des Weltranglisten-Ersten ein – als ältester Tischtennis-Profi, dem dies je gelang. „Ein herausragender Spieler, der Größte, den wir je hatten“, sagte Bundestrainer Jörg Roßkopf in Paris. „Es war herausragend, mit ihm zu arbeiten. Ein Großer, der die Sportbühne verlässt.“
Anerkannt und beliebt bei Zuschauern, Mitspielern wie Gegnern. Die Art des Timo Boll, seine Charakterzüge sind Teil der Euphorie um ihn, der sich selbst stets in Understatement übte. Vielleicht hätte er als schillernde Figur, als Popstar, der er in China, aber hierzulande nie war, noch eine andere Aufmerksamkeit auf sich gezogen, aber das große Bohei war einfach nicht sein Ding. Und schließlich ist es ja auch gerade dieses sympathisch Bodenständige und nie Abgehobene, das ihn zu dem machte, was er ist. „Du bist immer so bescheiden“, sagt sein einstiger Kontrahent und Düsseldorfer Mannschaftskollege Vladimir Samsonov in der Doku. „Ich glaube, deswegen mögen und respektieren dich so viele Menschen. Du bist ein richtiges Vorbild.“ Und Frankreichs 18-jähriger Shootingstar Felix Lebrun sagt bei Dyn: „Er lächelt immer, ein sehr netter Mensch, der sich viel Zeit für die Fans nimmt. Er war gut für unsere Sportart.“
In China, wo Bolls Gesicht in Übergröße auf Bussen prangte und er teils Bodyguards braucht, kopierten sie einst seinen Spielstil und verehren ihn bis heute. Aktuell wird die Biografie „Mein China: Eine Reise ins Wunderland des Tischtennis“ ins Chinesische übersetzt. Mit Chinas Tischtennis-Idol Ma Lin (45) ist er gut befreundet. Dass Boll daran scheiterte, sich den Traum von einer olympischen Einzelmedaille zu erfüllen, ändert nichts an seiner Legende hier- wie dazu lande – er brachte schließlich auf dem Weg zu seinen Erfolgen nicht nur Ma Lin, sondern auch anderen Topspielern aus dem Land des Tischtennis Niederlagen bei. Bittere Enttäuschungen waren es in den olympischen Einzelturnieren dennoch für ihn. „Es tut mir im Herzen weh“, sagt Roßkopf, „dass Timo seine Medaille im Einzel nicht geholt hat. Aber seine Olympia-Geschichte ist dennoch herausragend.“ Boll selbst sagt – nicht ohne Enttäuschung, aber ohne Groll: „Es hätte mir mehr wehgetan, hätte ich im Einzel immer gut gespielt und im Team versagt.“
Nowitzki: „Herzensgut, super clever und smart“
Es ist der Mensch Timo Boll, über den seit Bekanntwerden seines Karriereendes ebenso viel gesprochen wird wie über seine Erfolge. „Timo ist einfach ein herzensguter Mensch, immer gut drauf, unterstützt viele Leute, ist zurückhaltend, etwas schüchtern, super clever und smart. Man kann mit ihm über alles offen reden“, beschreibt Nowitzki seinen Freund. Und Dimitrij Ovtcharov, der Boll seit 20 Jahren kennt, sagte in den Katakomben der olympischen Tischtennis-Arena von Paris: „Timo hat mir immer geholfen und mir immer nur das Beste gewünscht. Neben der Tatsache, dass er ein großer Tischtennisspieler ist, ist er einfach ein sehr guter Mensch, der viel gibt.“ Teamkollege Dang Qiu ergänzte: „Er gönnt jedem jeden Erfolg, egal, wie es für ihn selbst lief. Ich habe Timo kennengelernt, als er schon alles gewonnen hatte, aber er ist so bodenständig geblieben, ein toller Typ.“
Paris, seine siebten Olympischen Spiele – es war das große Ziel, das Boll noch erreichen wollte. Für das er gegen Ende seiner Karriere noch einmal alles gab. Bisweilen schien es jedoch, als würde er scheitern, als fänden die Spiele mit ihm als Zuschauer und nicht als Teilnehmer statt. Dann gelang es ihm doch – Boll reiste nach Paris. Eine letzte Olympia-Medaille sollte es werden mit der Mannschaft, doch im Viertelfinale war gegen Schweden Schluss.
Rückblick: Das deutsche Team liegt 0:2 zurück, Boll 1:2 nach Sätzen gegen Anton Källberg, 8:8 im vierten Satz. Er kämpft, er wehrt sich. Als es dann Machtball Schweden heißt, hallen „Timo-Timo“-Rufe die Arena – doch dann, um 22.02 Uhr, ist es geschehen. Boll hat verloren und damit die Mannschaft.
Es dauert nur Sekunden, dann erhebt sich das Publikum und feiert ihn mit Sprechchören. Die schwedische Mannschaft stellt sich nach dem ersten Jubel geschlossen auf und applaudiert. Boll ist überwältigt. Rückblickend sagt er: „Die Reaktion des Publikums kam für mich wie aus dem Nichts, deshalb hat es mich auch gepackt und richtig zerrissen. Diese Anerkennung zu spüren, war emotional hart, aber natürlich sehr schön.“
Aus Angst vor dem Karriereende wurde Sehnsucht
Eigentlich, so dachte sich Boll, spielt er nach Paris noch bis zu seinem Vertragsende 2025 für seinen Verein Borussia Düsseldorf in der Bundesliga und in der Champions League, lässt es langsam ausklingen. Die Zeit bis jetzt aber wurde zu einer emotionalen Abschiedstour mit dem Finale nun am 15. Juni. „Es kam immer wieder Gänsehaut auf, ich habe jedes Mal gegen die Tränen angekämpft und auch teilweise verloren“, sagt er bei einer Presserunde. Dass es nun aber zu Ende geht, fühlt sich richtig an für ihn.
Boll spielt Tischtennis, seit er drei Jahre alt ist, wurde mit 15 zum jüngsten Bundesligaspieler aller Zeiten. „Wenn man keinen anderen Lebensstil kennt, hat man natürlich Angst vor dem Moment zu sagen: ‚So jetzt ist Schluss mit dem, was ich am liebsten mache.‘ Man weiß gar nicht so genau, was kommt“, sagt er zu WELT. „Die Vorstellung fand ich immer schon beängstigend. Deshalb habe ich die Gedanken daran immer weggeschoben. Und ich hatte das große Glück, so lange auf so einem hohen Niveau spielen zu können.“
Aber die Zeit ging selbst an Boll nicht spurlos vorbei. Mehr und mehr musste er kämpfen, auch wenn er oft genug erfolgreich zurückkehrte. „Je länger die Karriere angedauert hat, umso mehr Probleme sind gekommen. Es wird immer schwieriger, das Niveau zu halten. Irgendwann hat es sich ziemlich klar angefühlt, innerlich zu sagen: ‚Nach Paris versuche ich es noch mal. Dann ist Schluss‘“, erzählt er. „Und es fühlt sich immer noch sehr, sehr richtig an. Ich glaube, es ist der richtige Moment für mich.“
Timo Boll und das Leben danach – Was kommt jetzt?
Und jetzt? Boll hat Pläne, aber nicht alles steht fest. Sicher ist, dass er nicht ganz plötzlich aus dem Tischtennissport verschwinden wird. Eine Rolle als Trainer aber strebt der 44-Jährige nicht an, vielmehr wird er erst mal weiter eine Botschafterrolle für seine Partner übernehmen, gleichzeitig aber Erfahrungen sammeln, um zu sehen, wo der Weg hingehen könnte. „Es ist nichts spruchreif“, sagt er und freut sich auf eine weitere neue Facette im Leben nach dem Profi-Dasein: Tennisspielen, Skifahren, Golfen, andere Sportarten ausprobieren, Sport als Zuschauer und Fan verfolgen.
Priorität aber wird seine Familie haben – seine Ehefrau Rodelia und Tochter Zoe. Mit ihnen möchte er durch Europa reisen, Zeit verbringen und etwas zurückgeben. Das durchgetaktete Leben als Spitzensportler ließ kaum Raum dafür, teilweise war Boll 300 Tage im Jahr unterwegs.
„Ich bin überhaupt nicht der Typ, nach dessen Pfeife andere tanzen müssen. Aber meine Familie musste das über Jahrzehnte hinweg tun. Und das tat mir immer sehr leid. Jetzt zu sagen: „Entscheide du, was wir machen“ – darauf freue ich mich unheimlich. Ihre Wünsche zu erfüllen. Und das haben Sie sich auch verdient. Mehr Zeit in die Familie zu investieren“, sagt Timo Boll abschließend, „war für mich der größte Grund zu sagen: Das soll es jetzt gewesen sein.“
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport, extreme Ausdauer-Abenteuer sowie über Fitness & Gesundheit. Hier finden Sie alle ihre Artikel.
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