Es ist nur noch ein Jahr bis zur Fußball-Weltmeisterschaft. Bundestrainer Julian Nagelsmann bleibt nicht mehr viel Zeit, um drängende Fragen zu klären. Dem Spiel gegen Frankreich kommt eine besondere Bedeutung zu.
Der Blick in die Zukunft beginnt mit der Vergangenheit. Bundestrainer Julian Nagelsmann ist wieder dort, wo er schon einmal war. Diesmal ist alles ein bisschen leerer, ein bisschen weniger fiebrig als beim letzten Mal. Diesmal ist er nicht alleine gekommen, er hat Pascal Groß mitgebracht. Es ist beinahe auf den Tag genau elf Monate her, dass Nagelsmann das letzte Mal im Pressesaal der Stuttgarter Fußballarena saß.
Damals, am 5. Juli 2024, schied die DFB-Elf in Stuttgart auf höchst dramatische Weise gegen den späteren Europameister Spanien aus. Am Ende hieß es 1:2 nach Verlängerung und die Karriere von Toni Kroos war beendet, genauso wie der Titeltraum. Nagelsmann hielt im Anschluss eine große Rede, sprach über den Zusammenhalt in seinem Team und dem Land - und eben das Ziel, in zwei Jahren den Weltmeisterpokal zu holen.
Und heute? Nun spricht Nagelsmann über das anstehende Spiel um Platz drei der Nations League (15 Uhr/RTL, DAZN und im ntv.de-Liveticker) und die französische Fußball-Nationalmannschaft. Die habe, sagt er am Abend vor dem Duell mit dem Vize-Weltmeister, gleich zehn Innenverteidiger, die auf einem ähnlichen Niveau spielen. Eine "brutale Leistungsdichte" sei das, sagt Nagelsmann. Das fange schon in den Jugendteams an und höre dann irgendwann bei der A-Nationalelf auf.
Schon ein großer Fortschritt
Klar, das Gras auf dem Nachbargrundstück ist immer grüner als das eigene. Aber die Suche im eigenen Garten fällt dagegen, nun ja, in diesem Fall wirklich etwas bescheidener aus. Bundestrainer Nagelsmann wollte es vor dem Finalturnier in der Nations League nicht als Ausrede gelten lassen, aber die vielen Ausfälle beim DFB-Team stutzten seine Handlungsmöglichkeiten bei der Kadernominierung auf ein Minimum zurecht. Die Liste der Ausfälle füllt fast alleine eine Startelf: Jamal Musiala, Kai Havertz, Antonio Rüdiger, Angelo Stiller, Nico Schlotterbeck, Tim Kleindienst, Yann Aurel Bisseck.
Nicht nur deshalb kann das DFB-Team von französischen Verhältnissen derzeit lediglich träumen. "Wir haben keine Innenverteidiger, die eine 36 laufen können", sagt Nagelsmann. Weil der Bundestrainer vieles kann, aber nicht zaubern, wird auch bis zum Anpfiff niemand erscheinen, der in der Spitze 36 Kilometer pro Stunde sprinten kann. Stattdessen muss Nagelsmann die Spielweise anpassen. Im Spiel um Platz drei geht es darum, die "freien Füße" der blitzschnellen Franzosen, wie er es nennt, gar nicht erst ins Spiel kommen zu lassen.
Eigentlich ist das nichts Neues. Schließlich muss jeder Bundestrainer die Kunst der Mangelverwaltung beherrschen. Und dass er das kann, hat Nagelsmann schon bewiesen. Er baute vor anderthalb Jahren die DFB-Elf radikal um, hauchte ihr neues Leben ein und coachte sie bis ins Viertelfinale der Europameisterschaft im eigenen Land. Geholfen hat ihm eine Fähigkeit: Der 37-Jährige neigt dazu, eher auf das zu schauen, was er hat - und nicht das, was ihm fehlt.
Die Frage ist eine andere, nämlich: Ob das, was dem Bundestrainer zur Verfügung steht, auch für seine Ideen reicht? Denn es geht um diese Rede von vor knapp einem Jahr. Es geht um den WM-Titel, den Nagelsmann unbedingt gewinnen will. Dafür hat er schon etwas erreicht. Er konnte das Selbstverständnis, das er und das Umfeld der Nationalelf immer wieder beschwören, konservieren. Es ist ein Überbleibsel aus der Heim-EM - ein zurückgekehrtes Selbstbewusstsein, das unter den Trümmern der Krisenjahre verschüttgegangen war.
Und wer spielt im Mittelfeld?
Und doch, Nagelsmann räumte es selbst ein. "Selbstverständnis und Selbstvertrauen sind beides zwei sehr fragile Elemente, die man immer wieder pflegen und an denen man immer wieder arbeiten muss", sagte er vergangene Woche. Die bisherigen Partien in der Nations League haben schon gezeigt, wie schnell das neue Selbstverständnis Kratzer bekommen kann. Etwa bei Unvorsichtigkeiten: Nagelsmann machte zuletzt zwei davon. Vergangenen März im Rückspiel gegen Italien und auch jetzt gegen Portugal wechselte er nach der Führung dreifach - und sorgte so jeweils für einen Bruch im Spiel.
Zwar kann man das Nagelsmann als Fehler auslegen, doch darunter schlummert ein grundsätzliches Problem. Die deutsche Bank ist (derzeit) nicht wirklich mit Weltklasse besetzt. Es ist der Unterschied zu den Top-Nationen: Portugal konnte im Halbfinale noch Champions-League-Sieger Vitinha und Flügelwirbelwind Francisco Conceição einwechseln, beide beeinflussten die Partie spielentscheidend. Auch Frankreich kann kompensieren, wenn ein Ousmane Dembélé vorzeitig abreisen muss. Beim DFB-Team ist das gerade schwierig.
Aber nicht nur das: Es sind auch strukturelle Fragen offen, wie: Wer spielt nun eigentlich im Mittelfeldzentrum? Wer soll die wichtige Doppelsechs besetzen? Bislang sucht die zentrale Achse vor der Abwehr noch ihre Stammbesetzung. Bekommt möglicherweise sogar Leon Goretzka seine Chance? Erst aussortiert, dann Stammpersonal: Das wäre schon eine überraschende Wende. Der ursprüngliche Plan war es, dass langfristig Aleksandar Pavlović und Stiller das übernehmen - der von Real Madrid umworbene Stiller hat die Aufgabe gegen Italien überzeugend gelöst, ist jetzt aber eben verletzt. Bayern-Star Pavlovic fehlte wegen zuletzt vieler Ausfallzeiten die Spielpraxis. Gemeinsam absolvierten sie erst ein Spiel im DFB-Team.
Wagner geht, Hübner kommt
Nagelsmann bleibt nicht mal mehr ein Jahr, um all diese Fragen zu klären. Schon im September beginnt die WM-Qualifikation - und es droht ein neues Problem: Ab dann heißen die Gegner Luxemburg, Slowakei und Nordirland. Bis zur nächsten richtigen Leistungsbestimmung vergeht wieder wertvolle Zeit.
Zudem gibt es einen Wechsel im Trainerteam: Nach 23 Spielen verabschiedet sich Assistent Sandro Wagner und wird selbst zum Cheftrainer beim FC Augsburg. Der ehrgeizige Wagner blieb stets im Hintergrund, war loyal zu Nagelsmann. Er äußerte sich wenig öffentlich. Die Spieler schätzten ihn. Wagner ist dafür bekannt, sehr meinungsstark zu sein. Künftig übernimmt ein Nagelsmann-Vertrauter, sein ehemaliger Kapitän aus Hoffenheim, Benjamin Hübner.
Bevor es aber in die Zukunft geht, steht noch die Gegenwart an - das Duell gegen Frankreich. Ein Spiel um Platz drei unmittelbar vor dem Urlaub? Das schreit praktisch nach Motivationsproblemen. Nagelsmann hat da aber keine Sorgen. "Es ist immer noch die deutsche Fußball-A-Nationalmannschaft", erklärt er in der Stuttgarter Arena: "Wenn ich da in der Kabine immer motivieren muss, dann muss ich was am Kader umstellen. Es ist Fußball. Es ist etwas Schönes, was wir machen. Es muss keiner einen Acker umgraben von Hand. Es ist ein toller Job, den wir machen, etwas Schönes." Mit einer verdienten Niederlage würde sich die DFB-Elf möglicherweise mit unliebsamen Debatten in den Sommer verabschieden. Und wer will das schon?
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