Wie trist sein Start in der Hauptstadt ausgefallen ist, hat Bob Hanning bis heute nicht vergessen: ein Schuhkarton voller unbezahlter Rechnungen, keine Lizenz für die zweite Liga und jede Menge ungelöster Probleme. Immerhin mietete ein Sponsor ein Büro im wenig schmuckvollen Berliner Stadtteil Lichtenberg an – mit einem Schreibtisch, Telefon und Faxgerät. „Ein Computer wäre auch noch gut gewesen, aber dafür hat es nicht mehr gereicht“, sagt Hanning im Gespräch mit WELT AM SONNTAG: „Wir haben dann innerhalb kürzester Zeit eine GmbH gegründet und die wirtschaftlichen Strukturen verbessert. Danach kamen die Namensänderung von Reinickendorfer Füchse zu Füchse Berlin und der Wechsel von einer Schulturnhalle mit 200 Zuschauern in die Max-Schmeling-Halle. Das waren entscheidende Schritte in meiner Anfangszeit als Geschäftsführer.“

20 Jahre liegt das inzwischen zurück, und so schwer der Beginn für den cleveren Handball-Tausendsassa in der deutschen Metropole auch gewesen sein mag – nun könnte die Krönung erfolgen. Die Füchse haben nach dem 45:35 (22:15) über den VfL Gummersbach am Donnerstagabend nicht nur die Bundesliga-Tabellenführung zurückerobert und schicken sich an, erstmals Deutscher Meister zu werden. Sie besitzen auch noch die Möglichkeit, die Saison mit einem Triumph beim Final Four um die Champions League in Köln zu vergolden. Auch das wäre eine Premiere für den von Hanning angeführten Klub. Es sind rosige Zeiten, wie es sie nie zuvor gegeben hat bei den besten Ballwerfern Berlins.

Neben der kontinuierlichen Aufbauarbeit von Hanning zeichnet vor allem ein Spieler auf dem Feld dafür verantwortlich, dass sie dieses Novum erleben könnten: Mathias Gidsel, zweimaliger Welthandballer aus Dänemark. „Zwei Finger“ habe sein Team jetzt an der Meisterschale, sagte er nach dem Sieg über Gummersbach, bei dem er mit elf Treffern erneut bester Torschütze der Füchse gewesen war. „In unserer Mannschaft gibt es keinen Zweifel; wir wissen, wie gut wir sind. Wenn wir am Sonntag guten Handball spielen, werden wir Deutscher Meister.“

Sonntag steht der letzte Bundesliga-Spieltag an – mit besten Aussichten für die Berliner: Sie führen mit 56:10 Punkten die Tabelle vor dem SC Magdeburg (55:11) und der MT Melsungen (53:13) an. Da Gidsel und Co. das deutlich bessere Torverhältnis im Vergleich mit dem SCM aufweisen, reicht bereits ein Remis im Auswärtsspiel bei den Rhein-Neckar Löwen (15 Uhr, Dyn und im WELT-Liveticker) für den großen Coup. „Die letzten Monate haben gezeigt, dass wir eine absolute Spitzenmannschaft sind“, sagte Gidsel vor dem Showdown in der Liga.

Sämtliche Konkurrenten ausgestochen

Dass der smarte Däne seit drei Jahren sein spektakuläres Können in Berlin und nicht bei der weitaus zahlungskräftigeren Konkurrenz aus Barcelona, Paris oder Kiel zeigt, dürfen Hanning und Sportvorstand Stefan Kretzschmar noch immer als Sensation feiern. „Mathias Gidsel ist der Michael Jordan des Handballs. Er macht alle Mitspieler auf der Platte besser und hat Hunger nach Erfolgen“, sagt Hanning und erzählt eine Anekdote aus den Vertragsverhandlungen: „Als wir mit ihm das erste Mal in unserer Geschäftsstelle gesprochen haben, war auch sein Berater mit dabei, der sein Handy aufladen musste. Während wir geredet haben, hat zwölfmal der THW Kiel bei ihm angerufen. Aber für Mathias war es nie ein Thema, dorthin zu gehen, weil er gesagt hat, dass er lieber mit einer Mannschaft Titel holen will, die diese Titel vorher noch nie gewonnen hat. An dieser Einstellung hat sich bis heute nichts geändert. Das macht ihn auch so besonders.“

In der Branche sind sich nahezu alle Experten einig, noch nie einen derart kompletten Spieler wie den 26-Jährigen gesehen zu haben. Der Alleskönner verfügt über Spielwitz, Dynamik und ein unfassbares Gespür dafür, wie er selbst gegen hartnäckige Deckungsreihen eine Lücke findet, um dann dort durchzupreschen und Tore aus der Nahwurfdistanz zu erzielen.

Gidsel ist nie so richtig zu fassen für seine Kontrahenten. 265 Treffer in der aktuellen Bundesligasaison und eine Quote verwandelter Würfe von 77,49 Prozent dokumentieren die absolute Ausnahmestellung des Halbrechten. „Wahnsinn, der Typ! Ich habe nie einen besseren Handballer gesehen“, meinte Melsungens Nationalspieler Timo Kastening nach der 29:37-Niederlage seines Klubs in der Max-Schmeling-Halle.

Allerdings fußen die jüngsten Erfolge nicht allein auf Gidsels Mitwirken oder anderer Weltklasseleute wie Keeper Dejan Milosavljev, sondern aus einer gesunden Mischung auf dem Feld. Im Ensemble der Füchse spielen mit Lasse Ludwig, Tim Freihöfer, Nils Lichtlein, Matthes Langhoff und Max Beneke auch fünf Jungstars aus der eigenen Jugend. Kein anderer Bundesligaklub verfügt über eine derartige Durchlässigkeit zwischen Nachwuchs und Herrenmannschaft. Für Hanning, der neben seiner Tätigkeit als Geschäftsführer auch noch als Trainer der italienischen Nationalmannschaft fungiert, ist dies stets eine Grundkomponente seines Handelns gewesen. Auch der am Donnerstag als „Trainer der Saison“ ausgezeichnete Übungsleiter Jaron Siewert (31) entspringt der Füchse-Jugend.

„Jugendarbeit und Profisport auf einer Linie“

Wenn so viele Protagonisten früh mit der DNA des Klubs in Berührung kommen, schafft das automatisch Identifikation. Und mit der nötigen Beharrlichkeit auch Titelgewinne. „Die Meisterschaft wäre für mich ein Lebenstraum, der in Erfüllung geht. Darüber müssen wir nicht diskutieren“, erklärt Hanning (57). „Aber es war nicht immer meine Antriebsfeder, Deutscher Meister zu werden oder die Champions League zu gewinnen. Sondern es war vielmehr die Aufgabe, einen Verein aufzubauen, der Jugendarbeit und Profisport auf einer Linie hat. Ich habe immer gesagt, dass ich lieber die European League mit eigenen Leuten gewinne als die Champions League mit einem komplett zusammengekauften Kader.“ An jener Sichtweise, sagt der Geschäftsführer, habe sich bis heute nichts geändert: „Dass wir jetzt in genau dieser Konstellation die Meisterschaft und die Champions League gewinnen können, ist natürlich etwas unglaublich Großartiges.“

Um die goldenen Zeiten entsprechend zelebrieren zu können, haben die Berliner für den Sonntag zum ersten Mal überhaupt einen 32-sitzigen Charterflieger angemietet, um direkt nach dem Auswärtsspiel in Mannheim zurück nach Berlin zu kommen. Dort ist auf einem Badeschiff im Stadtteil Alt-Treptow ein großes Public Viewing mit mehr als 1500 Fans geplant. Sollte die Mannschaft Meister werden, wollen sich die Stars dort auch noch präsentieren.

Mit allzu großen Feierlichkeiten aber möchten sie sich nicht aufhalten: Eine Woche später geht es schließlich mit der Champions-League-Endrunde weiter. Im Halbfinale treffen die Füchse am 14. Juni in Köln auf den französischen Spitzenverein HBC Nantes, die andere Vorschlussrundenpartie steigt zwischen dem FC Barcelona und dem SC Magdeburg. Das Finale um Europas Krone folgt am nächsten Tag.

Drei Spiele also noch, um sich in die Geschichtsbücher der Sportart einzutragen – oder wie es Hanning bezeichnet: „Es wäre für uns alle ein Traum, wenn wir das Panini-Album vollmachen könnten: Meisterschaft und Champions League fehlen uns dort noch.“

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