Tischtennis ist eine der rasantesten Sportarten der Welt. Doch der Weg zum besten deutschen Tischtennisspieler aller Zeiten führt über strikte Entschleunigung. Timo Boll lebt im Odenwald, wo die Landstraße fernab der Autobahn auch mal durch Bahnschranken unterbrochen wird, wo Tempo-30-Strecken entlang alter Fachwerkhäuser durch historische Ortskerne führen, die Hummetroth heißen oder Mümling-Grumbach. Still und idyllisch und sehr deutsch ist es hier – mit grünen Wiesen, Kuhweiden und kleinen Wäldchen auf den Hügeln. Und dann liegt da am Ortsrand des Städtchens Höchst eine Turnhalle, original im Stil der 1950er-Jahre mit Glasbausteinen und Holzparkett und der „Timo-Boll-Klause“.
Das ist der Ort, an dem vor ziemlich genau 30 Jahren eine in der Sportwelt einzigartige Karriere begann, die einen Odenwälder Jungen zu Dutzenden nationalen und internationalen Titeln und mehrmals an die Spitze der Weltrangliste führte. Nun, da diese Karriere des inzwischen 44-jährigen Ausnahmesportlers endgültig zu Ende geht, trainiert – und das ist das Außergewöhnlichste – Timo Boll immer noch in seiner alten Halle. Er hat gerade seine morgendliche Trainingseinheit hinter sich und lädt im Trainingsanzug in den Besprechungsraum. Und er ist genau so, wie er über all die Jahre immer gewesen ist: bedächtig, höflich, bescheiden, in sich ruhend.
WELT AM SONNTAG: Herr Boll, seit den Olympischen Spielen 2024 in Paris, als sie aus der Nationalmannschaft abtraten, befinden Sie sich im Abschiedsmodus. Eine Ehrenrunde durch die Tischtennis-Bundesliga liegt hinter Ihnen, das Finale der Champions League, in dem Sie mit Borussia Düsseldorf sehr knapp gegen Saarbrücken verloren haben. Nun noch das große Endspiel um die Deutsche Meisterschaft am 15. Juni. Sind Sie froh, dass Sie es bald hinter sich haben?
Timo Boll: Ein bisschen schon. Ich bin einer, der nicht immer im Mittelpunkt stehen muss, aber ich habe mich damit abgefunden. Nun gab es an so vielen Orten so viele schöne Momente mit ausverkauften Hallen und Ovationen, auch emotionale Verabschiedungen von den Mitspielern. Das war für mich sehr bewegend, und auf all das werde ich natürlich gerne zurückblicken.
WAMS: Sie wissen, dass Sie einer der beliebtesten, vielleicht geliebtesten deutschen Sportler überhaupt sind?
Boll: Es war immer mein Wunsch, zu zeigen, dass ich ein fairer Sportsmann bin. Dass ich auch anderen ihre Erfolge gönne. Und zugleich bedeutet mein Erfolg, dass Fairness nicht automatisch in Erfolglosigkeit übergehen muss. Über die Jahre habe ich die besten Spieler Europas in meine Halle zum gemeinsamen Training eingeladen. Ich war überzeugt, dass wir nur gemeinsam gegen die Tischtennis-Großmacht China Erfolg haben können. Allein macht es eh keinen Spaß. Dass jetzt zum Abschied auch die Konkurrenten applaudieren, das sieht man leider nicht mehr so oft in der Welt des Leistungssports.
WAMS: Und Sie empfinden nach der langen Zeit keine Wehmut?
Boll: Doch, schon. Mein Ziel war es aber, nicht entspannt als satter Altstar abzutreten, sondern mit Wettkampfhärte, mit Anstand und passabler Leistung. In der Bundesliga hatte ich immerhin noch eine ausgeglichene Bilanz. Doch mein Perfektionismus nimmt mir immer mehr die Freude am Spiel. Vor einigen Jahren konnte ich noch der Nummer 1 der Welt Paroli bieten, das geht jetzt nicht mehr. Darum ist jetzt der richtige Zeitpunkt fürs Aufhören.
WAMS: Und was kommt dann? Entspannen? Oder um es mit dem Schauspieler Harald Juhnke zu sagen: „Mein Traum vom Glück: Keine Termine und leicht einen sitzen“?
Boll: (lacht) Leicht einen sitzen? Das verträgt sich nicht mit meinem Ethos als Leistungssportler. Aber etwas weniger Termine, das ist durchaus etwas, worauf ich mich freue. Meine Partner bleiben weitgehend an meiner Seite und ich somit auch an deren, was natürlich einige Termine und Reisen bedeuten wird. Die Fans sehen das vielleicht nicht so, aber das Leben als Profi bedeutete in den meisten Jahren 300 Reisetage und mehr als 110 Wettkampftage im Jahr. Da ist man um jede Stunde froh, die man daheim sein darf.
WAMS: Heimat, das bedeutet Ihnen offenbar sehr viel. Hier im Odenwald sind Sie verwurzelt. Sie sind dadurch als globale Ikone Ihres Sports das absolute Gegenbild zum glamourösen Jetsetter, indem sie einfach immer zu Hause geblieben sind. In der tiefen deutschen Provinz, wo ja auch am meisten Tischtennis gespielt wird. Einige der besten deutschen Klubs hießen oder heißen nicht München oder Hamburg, sondern Gönnern, Maberzell oder Grünwettersbach. Sie können jetzt ja alle schocken und verkünden, dass Sie nach der Karriere nach Miami ziehen oder nach Shanghai.
Boll: Das wird mit Sicherheit nicht passieren. Wir wohnen hier im Grünen am Waldrand, morgens höre ich das Vogelgezwitscher. Meine Familie und meine Freunde sind hier. Und da geht es beileibe nicht immer nur um Tischtennis. Dieses Abschalten im ganz normalen Leben, das habe ich über all die Jahre gebraucht, um zu entspannen. Irgendwann habe ich mir das auch ausdrücklich in meine Verträge schreiben lassen, dass ich weiter zu Hause wohnen und trainieren kann. Das ist ein seltenes Privileg.
WAMS: Man muss sich das mal vergegenwärtigen: Als Sie vor knapp 30 Jahren vom hessischen Trainer Helmut Hampl entdeckt wurden, haben die Verantwortlichen dafür gesorgt, dass eine ganze Profimannschaft aus dem nordhessischen Gönnern hierher in den Odenwald umziehen musste, damit Sie alle zusammen trainieren konnten. Heute ziehen junge Fußballer, Golfer oder Tischtennisprofis mit zwölf ins Internat. So etwas wie mit Timo Boll hat es in der Welt des Sports noch nie gegeben – und wird es nie wieder geben.
Boll: Es war ein einmaliges Konstrukt, man hat eine eigene Welt um mich herum gebaut. Aber ich habe das als Jugendlicher gar nicht so wahrgenommen. Und am Ende waren wir Deutscher Meister und holten die Champions League. Irgendwie bin ich ein Beispiel, dass sowas auch in der Provinz funktionieren kann. Man muss sich ein gutes Umfeld mit viel Wärme um sich herum aufbauen. Meine Frau und meine Tochter sind bei mir, meine Eltern um die Ecke, die einem immer helfen können. Und ich habe alte Freunde ohne jeden Sportbezug. Es gibt einem Kraft, wenn man sich gut aufgehoben fühlt.
WAMS: Und gleichzeitig haben Sie über Jahre mit Borussia Düsseldorf einen deutschen und europäischen Titel nach dem anderen abgeräumt – und dann noch als Weltstar in der chinesischen Liga gespielt.
Boll: In China musste ich zum Glück nicht permanent ran, da geht der Spielbetrieb gut zwei Monate im Jahr. So konnte ich zehn Saisons in China absolvieren.
WAMS: In China, wo Tischtennis Volkssport und zugleich ein großes Medienereignis ist, sind Sie vielleicht der einzige Deutsche, der dort bekannter ist als Angela Merkel – ein absolutes Idol. Wie macht sich das bemerkbar?
Boll: Bei den Events brauche ich schon Leibwächter, da wird man sonst schlicht überrannt. Aber ich habe gelernt, mit dieser Glitzerwelt umzugehen. Einmal mussten mich Soldaten der chinesischen Armee aus der Halle zum Flughafen eskortieren. Nach dem Flug bin ich dann hier im Städtchen tags darauf auf die Kirmes und habe meiner Tochter bei einer Aufführung zugesehen. Die Leute lassen mich hier in Ruhe, für sie bin ich der Vater einer Mitschülerin und nicht der Superstar. Das ist herrlich.
WAMS: Was nehmen Sie mit von so vielen Jahren in China?
Boll: Ich hatte das Glück, den großen Wandel der chinesischen Gesellschaft hautnah miterleben zu können. Vor 25 Jahren waren die anderen Spieler fast abweisend, es gab kein Lächeln, keinen Gruß. Das änderte sich dann mit der Zeit total. Irgendwann haben die Kollegen mich in einem Bus ins nationale Trainingszentrum geschleust, ich musste mich unter dem Sitz verstecken, um an den Wachen vorbeizukommen. Und dann haben wir Spaß gehabt und gemeinsam trainiert.
WAMS: In den Nachrichten erleben wir China heute eher als bedrohliche Diktatur.
Boll: Zur Politik will und kann ich nichts sagen. Aber ich habe in China wundervolle Menschen kennenlernen dürfen und das ganze riesige Land bereist, von der Inneren Mongolei bis in die Tropen an der Südgrenze. Anfangs saßen noch alle auf Fahrrädern, jetzt gibt es Megastädte mit dreißig Millionen Einwohnern, mit Stau, Schnellbahnen und gigantischen neuen Flughäfen. Vor allem aber haben mir die Chinesen als Sportler imponiert. Wie systematisch und unfassbar hart sie trainieren. Das beruht auf Drill und Disziplin. Ich habe bald begriffen, wie viel ich arbeiten und von ihnen lernen muss, um da ansatzweise mitzuhalten.
WAMS: Sie haben nicht nur mitgehalten, sondern Sie sind zuletzt mit knapp vierzig nochmal an die Spitze der Weltrangliste gestürmt, indem Sie wieder einmal die besten Chinesen geschlagen haben. Ihr alter Konkurrent und späterer Nationaltrainer Liu Guoliang sagte damals: So lange Timo Boll spielt, werde er keine Nacht ruhig schlafen können.
Boll: Da war auch etwas Humor dabei. Doch es bleibt natürlich ein großes Kompliment.
WAMS: Sie können Liu Guoliang beim nächsten Treffen jetzt, da Sie aufgehört haben, einen weichen Pyjama schenken. Für einen guten Nachtschlaf.
Boll: Keine schlechte Idee! Ich bin immer noch etliche Male pro Jahr in China, da sitzt man inzwischen zusammen und macht Späße. Auch das ist ein schönes Gefühl, dass sie Menschen über die Jahre so viel lockerer und offener geworden sind und besser Englisch sprechen als wir. Zugleich gab es in China auch einen Anstoß für mich zum Aufhören.
WAMS: Wie kam das?
Boll: Jeder bekannte Europäer hat bei den Chinesen eine Art Künstlernamen, das sprechen sie besser aus. Bei mir war das „Bo-Er“. Das geht einem schon durch und durch, wenn eine ganze Halle mit zehntausend Leuten das skandiert. Oder wenn ich aus einer Limousine steige, und der Verkehr kommt zum Stillstand, weil alle ein Autogramm oder Selfie mit „Bo-Er“ wollen. Zuletzt haben die Fans – und das sind heute mehrheitlich junge Frauen – nicht mehr nur „Bo-Er“ gerufen, sondern „Bo-Er-Shu“. Das bedeutet „Onkel Boll“. Da habe ich gemerkt, dass ich jetzt zur alten Garde zähle und vielleicht die Zeit zum Abtreten gekommen ist.
WAMS: Apropos Abtreten. Wissen Sie schon, was Sie in Zukunft beruflich machen werden?
Boll: Für die nächsten zwei oder drei Jahre habe ich noch einige Partnerschaften mit Werbemaßnahmen und als Markenbotschafter. Mit Frau und Tochter möchte ich aber auch mal entspannt in Europa herumreisen, gerne auch mit unserem geliebten Wohnmobil. Meine Frau fliegt nämlich nur sehr ungern.
WAMS: Das ist das berühmte Wohnmobil, in dem Sie die letzten Jahre auch bei ihrem Verein Borussia Düsseldorf gelebt haben, wenn Sie dort arbeiteten?
Boll: Genau. Auch wieder so eine Art Heimat im Kleinen. Mir war das irgendwann lieber als eine Wohnung – alles praktisch und vertraut. Ich mache mir den Kaffee selbst, habe meine Abläufe. Ich bin eher so ein Planertyp, der nicht unbedingt Überraschungen liebt.
WAMS: Und warum heißt Ihr Wohnmobil „Erbse“?
Boll: Das passt einerseits zur geringen Größe, und dann ist unser Autokennzeichen hier ERB, Erbach im Odenwald. Da findet sich der Name von selbst.
WAMS: Und wenn die Entspannungsphase im Wohnmobil abläuft, was kommt dann?
Boll: Dann werde ich versuchen, mir beruflich was Eigenes aufzubauen, was mir Spaß macht, was mir Energie gibt.
WAMS: Aber Sie verraten uns nicht, was das sein wird.
Boll: Nein, das verrate ich nicht, das steht auch nicht völlig fest. Aber ich weiß sehr genau, was ich nicht mehr machen werde: Tischtennis spielen.
WAMS: Das schockt mich jetzt etwas.
Boll: Ich konnte fast 40 Jahre lang mein Hobby zum Beruf machen und hatte unfassbar viel Spaß dabei. Ich weiß, dass ich nie wieder etwas so gut können werde wie Tischtennisspielen. Ich habe als Perfektionist versucht, mich immer weiterzuentwickeln und alle Möglichkeiten auszuschöpfen. Es würde mich nur ärgern, wenn ich mich mit immer mehr Mängeln abfinden müsste. Stattdessen kann ich jetzt als totaler Sportfreak andere Sachen ausprobieren, die vorher nicht gingen.
WAMS: Und das wäre?
Boll: Tennisspielen etwa, das ist für einen Tischtennisprofi Tabu wegen der anderen Armbewegung. Auch Skifahren durfte ich nicht wegen der Verletzungsgefahr. Ein bisschen Golf habe ich schon vorher gespielt. Hier bei mir daheim gibt es gute Plätze. Ich habe Handicap 15, da ist noch viel Luft nach oben. Und als Fan interessiere ich mich für Fußball, da vor allem für Borussia Dortmund. Über meinen guten Freund Dirk Nowitzki bin ich auch zum Basketball gekommen. Und sonst interessiert mich eigentlich alles; ich bewundere sportliche Leistungen überhaupt. Neulich war ich als Zuschauer beim Ringen und bei der Kanu-Weltmeisterschaft in Augsburg. Unfassbar, was für muskulöse Modellathleten da aus den Booten steigen!
WAMS: Und was ist mit einer Laufbahn als Tischtennisfunktionär, wie das der vor Ihnen beste deutsche Spieler, der große Eberhard Schöler, vorgemacht hat?
Boll: Ich werde sicher immer Tischtennis-Fan bleiben. Aber in der Sportpolitik in der ersten Reihe stehen und notfalls die Ellenbogen ausfahren und Intrigen abwehren – das bin nicht ich. Gerne gebe ich Knowhow als Ratgeber weiter. Ansonsten muss ich mir treu bleiben und mit mir im Reinen sein.
WAMS: Was bedeutet Ihnen Ruhm?
Boll: Schwierig zu sagen. Natürlich freut es mich, wenn ich gewinne. Mit 38 nochmal die Nummer 1 in der Welt zu sein, das hätte ich mir selbst nicht zugetraut. Und doch habe ich mich nie als Favoriten oder als besten Spieler gesehen. Siegen besteht für mich nicht in der Verkleinerung der anderen. Gewinnen ist nicht das Wichtigste. Und die Freude darüber war für mich immer ein Gefühl, das nach einem Tag wieder abklingt, genau wie nach einer Niederlage die Enttäuschung. Wichtiger war mir immer, die Balance zu halten, keine zu großen Schwankungen – und dann zurück zur Basis, zur Routine.
WAMS: Sie haben vorhin gesagt, dass Sie sich selbst ungern in den Mittelpunkt stellen.
Boll: Genau. Was bringt das schon? Ich bin im Alltag eher ein pessimistischer Typ, darum versuche ich, alles zu optimieren und bin dann im Spiel ein knallharter Realist. Meine Leistung musste ich immer wirklichkeitsgetreu einschätzen. Mich nie fanatisch zu pushen, das hat mir gutgetan. Und noch schöner, als ganz oben auf dem Treppchen zu stehen, das war für mich immer der Wettkampf selbst: die Ungewissheit, die Spannung, das Leiden, die Gemeinsamkeit. Und vor allem: für Probleme immer neue Lösungen zu finden.
WAMS: Viel zitiert wird ihre Einschätzung, Tischtennis sei ein Hundertmeterlauf, bei dem man gleichzeitig Schach spielt.
Boll: Klar, die Technik und das Körperliche sind die Grundlagen. Doch eigentlich wird Tischtennis im Kopf gespielt.
WAMS: Das müssen Sie uns jetzt mal genau erklären.
Boll: Mein Sport ist trainingsintensiv und technisch anspruchsvoll, wird aber letztlich dominiert von der Taktik. Ich muss psychologisch in den Gegner eindringen, muss jedes Detail rund um den Wettkampf analysieren, muss meine Rechenkraft ausschöpfen, um auf jeden Schlag, jede Kombination vorbereitet zu sein. Das meine ich mit Schach: Drei, vier Züge im Voraus zu berechnen, alle Optionen abzuwägen: Was plant mein Gegner? Was sind meine Gegenmaßnahmen? Das herauszufinden macht so richtig Spaß. Und genau diese Rechenkapazität und die Gabe, blitzschnell meine Taktik anzupassen – das war am Ende nicht mehr völlig da.
WAMS: Sie meinen also, körperlich wäre es noch ein Weilchen gegangen, doch der Kopf wurde müder?
Boll: In der Tat. Natürlich gab es Verletzungen. Tischtennis geht mit seinen ruckhaften Bewegungen auf die Halswirbelsäule und die Bandscheibe, damit hatte ich auch zu schaffen. Doch körperlich habe ich bis zuletzt noch jedes Turnier gut durchgestanden. Aber nehmen Sie die Chinesen, die haben über mich ein Dossier von 250 Seiten. Welche Platzierung ich bevorzuge, mit wieviel Schnitt ich wohin spiele, wie ich aufschlage. Ich meinerseits arbeite da eher intuitiv, es ging ja gar nicht anders. Mit viel Menschenkenntnis versuche ich, den Gegner zu lesen und alle Risiken abzuschätzen, damit ich vorher weiß, was hinterher passiert. Irgendwann fühlt man, dass der Kopf das alles in Sekundenbruchteilen nicht mehr perfekt hinbekommt.
WAMS: Und dann gibt es noch Ihre legendäre Sehfähigkeit, die beinahe dreimal so gut ist wie bei anderen Menschen…
Boll: Ich kann tatsächlich am Aufdruck des Balles den Spin erkennen. So lässt sich das Handgelenk einstellen, der Trefferwinkel optimieren. Doch das Auge beruht auch nur auf einem Muskel, und der wird nicht stärker. Heute spüre ich, wie viel Energie mich das genaue Hinsehen kostet. Ich schaffe es einfach nicht mehr wie früher. Das ist schwer zu akzeptieren, aber es ist so.
WAMS: Man merkt schon, dass es Ihnen nicht leicht fällt loszulassen. Kein anderer Spieler der Welt hat sich länger unter den besten Zehn gehalten als Sie. Eigentlich unfassbar in diesem globalen Sport mit Millionen Aktiven und immer jüngeren Profis.
Boll: Sie müssen bedenken, ich habe in meinem Leben nie etwas anderes gemacht als Tischtennis. Anfang 2003 stand ich an der Spitze der Weltrangliste, das ist jetzt 22 Jahre her. Man muss es danach irgendwie schaffen, sich immer wieder zu erden und zu motivieren, immer wieder hart zu trainieren. Grade eben hatte ich noch bei einer Trainingseinheit den Puls auf 185. Und heute Nachmittag gehe ich wie immer Radfahren, wenn ich auch nicht mehr zwei Einheiten täglich absolviere wie früher. Jetzt sind es nur noch wenige Tage, aber ich bleibe natürlich bis zum Schluss professionell.
WAMS: Das Schöne am Tischtennis ist immerhin für einen Hobbyspieler wie mich, dass es – anders als für Sie – kaum eine Altersgrenze gibt.
Boll:(lacht) Ja, das haben Sie mir voraus. Sie können sich noch jeden Tag verbessern.
WAMS: Und was geben Sie den Fans, den Freunden des Sports, den Landsleuten nach Ihrer einzigartigen Karriere mit?
Boll: Ich habe nie sehr viel auf mich geschaut und eher die anderen Könner bewundert, allen voran die Chinesen. Und dann bin ich immer bodenständig geblieben. Aber so besonders ist das auch wieder nicht. Ich habe auch andere Stars getroffen, die ganz ähnlich ticken.
WAMS: Darf man nach Namen fragen?
Boll: Dirk Nowitzki, der für seine Karriere als Basketballspieler aus Würzburg in die USA auswandern musste. Roger Federer. Oder Rafael Nadal. Ich erlebe sie so, dass sie alle geerdet sind, gute Kumpel sein können und nicht vom Ruhm und Erfolg abhängen.
WAMS: Was also ist wichtiger als Ruhm und Erfolg?
Boll: Viele Sportler vergessen, dass sie Entertainer sind für ein großes Publikum. Wenn keiner kommt und zuschaut, können wir auch nicht spielen. Der Respekt vor den Fans steht darum über allem. Es ist meine Schuldigkeit, alle Hände zu schütteln und alle Autogramme zu geben. Für mich war immer am Wichtigsten, bescheiden, respektvoll, kurzum anständig zu bleiben – im Sieg und in der Niederlage. Schließlich wird keiner zu einem besseren Menschen, nur weil er gut gegen einen Ball haut.
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