Die Enttäuschung war ihnen in die Gesichter geschrieben. Mit Essensboxen und To-Go-Bechern für Getränke schlurften die deutschen Fußball-Nationalspieler in der Nacht zu Donnerstag aus der Kabine des Münchner Stadions. Und setzten sich in den Teambus, der sie über die Autobahn ins Teamquartier in Herzogenaurach brachte.
Es war nicht nur das Ergebnis des gerade zu Ende gegangenen Spiels, das diesen Abend für sie so ernüchternd gemacht hatte: 1:2 (0:0) gegen Portugal im Halbfinale der Nations League. Es war die Art und Weise, wie die Auswahl von Bundestrainer Julian Nagelsmann aufgetreten war. Und daher verdient verloren hatte. Bilanz unter Nagelsmann: Zwei Turniere in Deutschland, null Titel.
Nach lediglich einer Partie ist die von Nagelsmann und seinen Spielern zur „Mini-EM“ deklarierten Finalrunde des Wettbewerbs schon wieder vorbei. Sonntag (15 Uhr, im Sport-Ticker der WELT) steht zwar noch das Spiel um Platz drei an. Doch das Ziel des „kleinen Titels“ ist verfehlt, des ersten Triumphs in dem Wettbewerb. Monatelang sprachen Nagelsmann und die Spieler vom Titel-Traum Nations League, der einen wichtigen Schub für die WM 2026 in den USA, Kanada und Mexiko geben sollte. Die spanische Zeitung „El País“ schreibt jetzt: „Die Nagelsmann-Elf hatte seit der Niederlage gegen Spanien im Viertelfinale der Euro 2024 nicht mehr verloren. Nun ging diese Serie zu Ende, ohne dass sich jemand darüber wunderte.“
Entsprechend enttäuscht war der Kapitän. Joshua Kimmich sprach Klartext, als er aus der Kabine kam. „Wir haben es nicht geschafft, unsere Energie auf den Platz zu bringen. Man hat nicht gemerkt, dass wir eine Siegermentalität haben, dass wir eine gewisse Gier haben, dass wir ins Finale wollen“, kritisierte der 30-jährige Mittelfeldchef vom FC Bayern. „Selbst dann nach dem 1:0 hat es für mich nicht danach ausgesehen, dass wir ins Finale einziehen möchten. Ich glaube, es waren viele Dinge heute sehr schlecht.“
Sein 100. Länderspiel hatte sich Kimmich anders erhofft. Es begann emotional: In seinem „Wohnzimmer“, dem ausverkauftem Münchner Stadion, überraschte ihn sein Sohn als Einlaufkind im Spielertunnel. „Was, du?“, sagte Kimmich und nahm seinen Ältesten fest in den Arm und anschließend an die Hand. Die Zuschauer waren gerührt.
„Es war tatsächlich sehr emotional, dass mein Sohn mit mir eingelaufen ist. 100 Länderspiele für Deutschland, das ist für mich schon etwas sehr Besonderes“, sagte Kimmich später. „Vor allem, wenn ich es rückblickend sehe, ich war in der Jugend nie der Überflieger und der Durchstarter. Ich musste mir alles sehr, sehr hart erarbeiten.“
Doch nach der für Kimmich so besonderen Partie gab es nichts zu feiern – sondern vielmehr einiges zu kritisieren. „Bitter“ sei das falsche Wort für die erste Niederlage seit dem Viertelfinal-Aus gegen Spanien bei der EM 2024 in Deutschland, so Kimmich: „Es war eine absolut verdiente Niederlage.“ Tatsächlich waren der 40-jährige Superstar Cristiano Ronaldo und dessen Kollegen wacher und mitunter schneller als die Deutschen.
„Müssen jeden am Limit haben“
Man müsse daraus „Lehren ziehen“, betonte Kimmich: „Wir müssen verstehen: wenn wir nicht bei 100 Prozent sind, können wir nicht gegen ein Topteam bestehen. Wir müssen jeden Spieler am Limit haben.“ Das war gegen Portugal absolut nicht der Fall.
Mehrere Topspieler fehlten der Nationalelf verletzt, unter anderem Abwehrchef Antonio Rüdiger, Spielgestalter Jamal Musiala und Angreifer Kai Havertz. Kimmich wollte das aber nicht als Alibi gelten lassen, wie er betonte. „Natürlich fehlt uns sehr viel Qualität, trotzdem hat das nichts damit zu tun, dass wir eine gewisse Energie auf den Platz bringen müssen“, sagte der Profi. „Wir brauchen sehr viele Spieler auf dem Platz, die den Ball haben wollen, die dann auch den Mut haben, mit dem Ball die richtige Lösung zu finden.“ Kimmich hatte mit einem feinen Pass von Florian Wirtz zum 1:0 vorbereitet. Danach kam aber ein totaler Bruch im deutschen Spiel. Und Nagelsmanns Wechsel in der zweiten Halbzeit funktionierten nicht.
Wie schon im Viertelfinal-Rückspiel gegen Italien im vergangenen März brachten die Einwechslungen nicht den erhofften Schwung – im Gegenteil, erneut kam es zum Bruch im Spiel. Robin Gosens etwa hatte großen Anteil am ersten Treffer der Portugiesen, Serge Gnabry am zweiten, Niclas Füllkrug setzte nach seiner Einwechslung keine Akzente. „Ich habe gar kein Problem über die Wechsel zu diskutieren“, sagte Nagelsmann nach dem Abpfiff auf der Pressekonferenz und ergänzte: „Hinterher ist man immer schlauer, das ist als Trainer genauso wie als Journalist.“
Es war zu wenig, was die deutsche Elf am Mittwoch bot. So sah es auch Joshua Kimmich. „Wir hatten kaum hohe Ballgewinne“, so der Kapitän. „Wir sind nicht wirklich gut in die Zweikämpfe gekommen, haben dementsprechend auch nicht viele Umschaltsituationen gehabt.“ Nach dem 1:0 habe er eher noch das Gefühl gehabt, „dass es einen Tick schwächer wurde und wir wirklich nur noch hinterhergelaufen sind“.
Auch Bundestrainer Nagelsmann sprach von einer „großen Enttäuschung“ und teilte die Einschätzungen Kimmichs. Sein Mittelfeldchef habe auch in der Kabine nach dem Spiel vor der Mannschaft „ein paar wahre Worte“ gesagt.
„Wir sind verdient nicht im Finale“, sagte Nagelsmann. „Der Schlüssel ist schon, dass wir 100 Prozent geben müssen. Dann können wir mit Topteams mithalten. Wir haben nicht die Galligkeit gehabt wie in den letzten Spielen. Portugal war die bessere Mannschaft. Wenn wir nicht bei 100 Prozent sind, können wir mit den Topnationen nicht mithalten. Das war eines unserer schwächsten Spiele der letzten eineinhalb Jahren.“
Der Bundestrainer sagte über die Stimmung in der Kabine nach dem Spiel: „Die Enttäuschung ist natürlich groß. Vor allem auch im Mannschaftskreis aufgrund der Leistung. Das ist für mich ein gutes Zeichen. Ich habe schon ein paar Worte an die Mannschaft gerichtet. Ich habe keine große Lust draufzuhauen, weil ich weiß, was es in der Mannschaft steckt und welche Entwicklungsschritte sie gehen und gegangen sind in den vergangenen Monaten.“
Joshua Kimmich. „Da können wir eine Reaktion zeigen“
Von Kapitän Kimmich gab es eine klare Ansage für das letzte Länderspiel der Saison, das Spiel um Platz drei: „Da können wir eine Reaktion zeigen.“ Sein Trainer weiß, dass dies nicht einfach wird. „Das ist jetzt natürlich psychologisch kein Feuerwerk, dass man jetzt um Platz drei spielt“, gab Nagelsmann offen zu. „Ich glaube, das kann sich jeder vorstellen, am Ende einer langen Saison vor der Klub-WM. Das ist jetzt psychologisch nicht ganz so einfach. Aber da kann man auch super daran reifen und sich auch beweisen, dass das Spiel für uns sehr wichtig ist.“
Julien Wolff ist Sportredakteur. Er berichtet für WELT aus München über den FC Bayern und die Nationalmannschaft sowie über Fitness-Themen. Bereits mehrfach wohnte er während der Trainingslager der Fußball-Nationalelf in Herzogenaurach. Gegen Portugal war er mit Lars Gartenschläger, der ebenfalls seit Jahren für WELT über Fußball und die Nationalelf berichtet, im Münchner Stadion.
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