Eigentlich hätten Sportwissenschaftler sich diese Fragen schon früher stellen müssen. Wenn Menschen eine Marathonstrecke rennen, nutzt ihr Körper in erster Linie Kohlenhydrate wie Glykogen als Energiequelle. Aber auf Fett wird ausgewichen, wenn die Glykogen-Reserven in den Muskeln, in der Leber und anderen Organen aufgebraucht ist – was heißt das nun für das Gehirn? Dort sind Fettmoleküle nebst Proteinen um die Nervenzellfortsätze gewickelt, damit die Gedankenblitze schnell von Zelle zu Zelle springen können.

Diese unentbehrliche Isolierung, die Nerven im Gehirn und im Rückenmark wie eine schützende Kabelhülle umgibt, wird als Myelin bezeichnet. Die Isolierschicht besteht etwa zu 70 bis 80 Prozent aus Lipiden, die für den Energiestoffwechsel verwertbar sind – theoretisch. Aber sollte eine Energiequelle, die an so entscheidender Stelle für etwas ganz anderes gebraucht wird, nicht tabu sein?

Schließlich steht ein Myelin-Abbau in Zusammenhang mit neurologischen Erkrankungen wie die Multiple Sklerose. Auch Unterernährung und Magersucht, Anorexia nervosa genannt, wirken sich negativ auf die Myelinisierung aus, zum Teil mit kognitiven Einschränkungen.

Offenbar stellt das unter extremen Stoffwechselbedingungen kein Problem dar, zeigen nun Neurowissenschaftler um den Anatomieprofessor Carlos Matute von der Universität des Baskenlands im spanischen Leioa: Zumindest während Langstreckenläufen werde das Myelin systematisch verdaut. Das Team hatte dafür zehn Hobby-Sportler – acht Männer, zwei Frauen, alle entweder erfahrene Stadt- oder Bergmarathonläufer – in einen Hirnscanner gelegt, mit dem sich die Dicke der Myelinschicht in verschiedenen Hirnregionen der „grauen“ und „weißen Substanz“ abbilden ließ.

Die Forscher vermaßen die Gehirne ihrer Probanden – alle gesund und im Alter von 45 bis 73 Jahren – jeweils 24 und 48 Stunden vor sowie nach einem 42-Kilometer-Lauf. Von zwei Läufern machten sie nach zwei Wochen abermals Aufnahmen und von sechs Teilnehmern nochmals zwei Monate später. Von anfangs insgesamt 106 untersuchten Arealen konzentrierten sich die Neurowissenschaftler im Verlauf der Studie auf die mit höherem Gehalt an Myelin.

Ihre Ergebnisse sind kürzlich in der Fachzeitschrift „Nature Metabolism“ erschienen. Auf den veröffentlichten Hirnscans ist zu erkennen, wie stark die Myelin-Mengen direkt nach dem Sportereignis vor allem in zwölf Gehirnbereichen der „weißen Substanz“ abnehmen: Zwischen einem Viertel und zwei Dritteln der Substanz geht offenbar verloren.

„Im Gehirn ist es genau wie im Muskel: Sobald der Kohlenhydratspeicher leer ist, wird auf Fett als Treibstoff zurückgegriffen“, schreiben die Forscher. Ein Treibstoff, der eben direkt vor Ort verfügbar ist und nicht erst von weit her im Körper herangeschafft werden muss.

Angst vor kognitiven Defiziten

Ausgeplündert wurden offenbar nicht jene Gehirnareale, die Philosophen oder Mathematiker benutzen, wo Menschen also abstrakt und logisch denken. Sondern vor allem die Areale, die ein Mensch braucht, um so einen Lauf durchzuhalten: Regionen für Bewegungskoordination, Sinneswahrnehmung – und um die eigenen Emotionen zu regulieren.

„Wir spüren viele Dinge während des Laufs, und wir müssen ziemlich viel mit uns selbst reden, um weitermachen zu können“, erklärt Matute, selbst achtzehnfacher Marathonläufer, in einem Newsbeitrag des Fachmagazins. Wer so lange durchhalten will, muss den sprichwörtlichen inneren Schweinehund besiegen.

Die Idee zu der Studie kam dem Neurowissenschaftler, als er selbst wieder einmal rannte. Matute fragte sich während des Trainings, wie Menschen es schaffen, derart anspruchsvolle Rennen zu absolvieren. Er dachte an die schiere Masse von Myelin im Gehirn – bis zu 40 Prozent des Hirngewichts – und an dessen fetthaltige Konsistenz. So kam ihm die Frage in den Sinn, ob das Organ das nicht auch „strategisch“ nutzen könnte, sobald andere Energiequellen erschöpft sind.

In den späteren Hirnscans war jedenfalls zu sehen, wie sich das Myelin in den Wochen nach der Verausgabung allmählich wieder auffüllte. Nach zwei Monaten war der frühere Anteil wieder vollständig hergestellt. Matute schließt daraus, dass sich Läufer keine Sorgen um ihren geistigen Zustand machen müssen. Vielleicht nutzen die Gehirnzellen immer nur so viel der Isolierschicht, dass dadurch die Geschwindigkeit der Informationsübertragung nicht beeinträchtigt wird.

Um ganz sicherzugehen, hat das Team nun noch eine Studie zu möglichen kognitiven Defiziten bei Langstreckenläufern aufgesetzt, bisher ohne Befunde. Nicht einmal vorübergehende Effekte, direkt nach den Läufen, sind laut Matute zu sehen gewesen. „Es gibt keine einschneidenden Veränderungen in der Gehirnfunktion“, sagt er. Das Myelin zu verbrauchen und dann wieder aufzufüllen, das „trainiert die Stoffwechselmaschinerie des Gehirns“.

Da Läsionen in der Myelinschicht bei Menschen im Zusammenhang mit bestimmten neurologischen Erkrankungen, zum Beispiel Multipler Sklerose, auftreten, hofft Matute, dass die Untersuchungen zu Myelin als Energiequelle auch zu medizinischen Fortschritten führen. „Wir könnten vielleicht Hinweise auf mögliche Behandlungen erhalten“, sagt der spanische Neuroanatom, „wenn wir verstehen, was in den Läufern vor sich geht.“

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