Es gibt mindestens zwei Legenden, wie das Schweizer Raclette entstanden ist. Die einen behaupten, jemand habe ein Baguette mit Käse zu nahe am Feuer liegen lassen – und so bemerkt, wie lecker geschmolzener Käse schmeckt. Die anderen vermuten einen Winzer, der Lust auf eine warme Mahlzeit hatte, aber nur ein Stück Käse und ein Feuer zur Hand.
Raclette ist als Gericht erstmals 1574 durch den Arzt und Apotheker Gaspard Ambuel aus Sitten im Schweizer Kanton Wallis schriftlich erwähnt worden – allerdings bisher nicht unter dieser Bezeichnung. Sie wurde – abgeleitet aus dem Französischen von „racler“ für Schaben oder Abkratzen – erst ab 1874 benutzt. Populär über die Grenzen des Wallis hinaus wurde Raclette erst ab 1909, nachdem es an einer Kantonsausstellung präsentiert worden war.
Doch was macht ein gut schmelzendes Raclette aus? Es braucht einen Käse mit Schwächen. Denn normalerweise hat das gereifte Milchprodukt einen guten Zusammenhalt. Seine Proteinstränge sind verbunden durch Calcium und das in der Ausgangsmilch enthaltene Phosphat.
„Ein gut schmelzender Käse ist relativ dünnflüssig, aus ihm tritt kein Fett aus, er zieht keine Fäden und ist nicht gummig“, sagt Marie-Therese Fröhlich-Wyder, wissenschaftliche Projektleiterin Käsequalität bei der Forschungsanstalt Agroscope in Bern, der staatlichen Institution für landwirtschaftliche Forschung im Käseland Schweiz. „Damit diese Qualität erreicht wird, muss ein Teil des Calciums aus der Struktur herausgelöst werden.“
Diesen Zusammenhang hat Fröhlich-Wyder mit ihrem Team bereits 2009 in einer Studie belegt, die im Fachmagazin „Dairy Science and Technology“ erschienen ist. Die Agroscope-Wissenschaftler gaben während der Herstellung von Raclettekäse Zitronensäure zu. Die Säure löste Calcium heraus. Am Ende kam ein Käse heraus, der schneller und mit besseren Eigenschaften schmolz als der Vergleichskäse, bei dem keine Zitronensäure zugesetzt worden war.
Beim Fondue erreicht man dieses gute Schmelzen durch Zusätze. „Wein, saurer Most und Bier enthalten Säure und verbessern dadurch die Schmelzeigenschaften“, sagt Fröhlich-Wyder. Beim Raclette aber sind Zusätze wie Zitronensäure tabu. In einem Branchenkodex bekennen sich die Schweizer Käsereien nämlich zum reinen Naturprodukt. Fröhlich-Wyders Studie war daher seit 2009 Grundlagenforschung, um die Mechanismen des Käseschmelzens grundsätzlich zu verstehen. Wie aber bekommen die Käsereien auf natürliche Weise genug Säure in den Käse?
„Sie setzen bei Raclettekäse auf Mikroorganismen, die gut säuern“, erklärt Fröhlich-Wyder. Das bedeutet, es werden Milchsäurebakterien beigegeben, die viel Säure produzieren – und die brauchen Futter in Form von Milchzucker. Das erreichen die Käseproduzenten, indem sie möglichst viel Molke mit in die Käsereifung nehmen.
Dieser Kniff hat noch einen weiteren Vorteil – mit mehr Molke gelangt auch mehr Wasser in den Käse. Durch den höheren Wasseranteil wird die Käsematrix ebenfalls geschwächt. „Wasser macht das ganze System weicher, und der Käse schmilzt besser“, sagt Fröhlich-Wyder. Eine andere Möglichkeit, um die Käsestruktur zu schwächen, ist eine längere Reifung. „Die Bakterienkulturen im Käse bilden Enzyme, die Proteine abbauen“, erklärt Fröhlich-Wyder. „Auch dadurch bekommt der Käse bessere Schmelzeigenschaften.“
Doch wie verändert dieses Schmelzen den Käse? Schadet es gar den Inhaltsstoffen? „Die Mineralstoffe sind hitzestabil und auch die fettlöslichen Vitamine A, D, E und K werden beim Schmelzen nicht zerstört“, sagt Barbara Walther von der Forschungsgruppe Humanernährung bei der Agroscope. „In der Milch kommen außerdem relevante Mengen an B12, B2 vor und auch etwas B6, die nur mäßig oder kaum hitzeempfindlich sind.“
Käse gilt vor allem deshalb als gesund, weil er relativ hohe Konzentrationen an Proteinen enthält. Doch ausgerechnet Proteine sind bekannt dafür, sich beim Erhitzen zu verändern. „Die hitzeempfindlichen Molkenproteine sind bei der Käseherstellung zu einem großen Teil mit der Molke abgegangen“, sagt Barbara Walther.
„Daher ist beim Schmelzen nicht mit einer wesentlichen Veränderung der Proteine zu rechnen“, so Walther weiter. Die im Käse verbliebenen Kaseine sind bis 120 Grad Celsius hitzestabil – und Raclette-Käse wird meistens höchstens auf etwa 80 Grad erwärmt. „Diese Proteine werden durch Hitzeeinwirkung höchstens weiter denaturiert, was deren Verdaulichkeit etwas verändern kann.“
Dafür sind die Bausteine von Proteinen, die Aminosäuren, zum Teil hitzeempfindlich. So etwa Lysin und Tryptophan, die der Mensch nicht selbst herstellen kann. Werden diese zerstört, wenn der Raclettekäse brutzelt? „Dafür müssen Temperaturen über 100 Grad herrschen“, sagt Sascha Rohn, der an der TU Berlin erforscht, wie sich Verarbeitungsschritte auf Lebensmittelinhaltsstoffe auswirken.
„Bildet sich eine braune Käsekruste, ist das ein Hinweis, dass empfindliche Aminosäuren zerstört werden. Raclette ist wesentlich weniger kritisch als alles, was mit Käse im Backofen überbacken wird“, so Rohn. Zudem schütze das im Raclettekäse enthaltene Wasser vor solchen Bräunungsreaktionen.
In den vergangenen Jahren wurde über die potenziell gesundheitsschädigenden Stoffe Glycidol und Monochlorpropandiole (MCPD) berichtet. Das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung etwa schreibt: „Quelle ist das Erhitzen von fett- und salzhaltigen Lebensmitteln. Da die Stoffe gesundheitsschädigendes Potenzial aufweisen, sind sie in Lebensmitteln unerwünscht.“
Fett und Salz sind reichlich im Käse vorhanden. Laut Agroscope gibt es keine Untersuchungen dazu, ob MCPD und Glycidol im Raclette entstehen. „Aber ich würde mir keine Sorgen machen“, sagt Sascha Rohn. „Auch dafür sind die Temperaturen beim Raclette nicht hoch genug – außerdem ist Käse diesbezüglich viel weniger im Fokus als raffinierte pflanzliche Öle, besonders Würzsoßen, wo man MCPD und Glycidol in höheren Konzentrationen gefunden hat.“
Isst man Raclette nicht oft und in übermäßigen Mengen, spricht aus gesundheitlicher Sicht wenig gegen das Walliser Traditionsgericht. Bleibt die Frage an die Expertin, wie es am besten gelingt? „Man sollte den Käse nicht zu lange im Ofen lassen, damit er nicht ausölt“, sagt Fröhlich-Wyder. „Und dann sollte man ihn auf heißen Kartoffeln oder auf einem vorgewärmten Teller abstreichen, um zu verhindern, dass er zu schnell abkühlt und damit gummig wird.“
Für Walliserinnen und Walliser noch wichtiger ist allerdings, dass außer Kartoffeln, Silberzwiebeln und Cornichons keine anderen Zutaten zum Raclette gereicht werden, – und nur mit schwarzem Pfeffer gewürzt wird. Dafür gibt es jedoch keine wissenschaftliche Evidenz.
Raclette- und Fonduekäse stammen aus derselben alpinen Tradition, sind aber unterschiedlich komponiert: Raclette ist für direkten Hitzeeintrag optimiert, Fondue für das Schmelzen im Topf. Deshalb enthält Raclettekäse mehr Wasser, wird mit stark säuernden Milchsäurebakterien produziert und länger gereift, damit die Proteinmatrix weicher wird. Fonduekäse – meist eine Mischung aus Gruyère, Vacherin oder anderen Hart- und Halbhartkäsesorten – ist fester, trockener und zieht natürlicherweise Fäden. Erst die Säure aus Wein oder Most bricht die Struktur so weit auf, dass ein homogener, elastischer Schmelz entsteht.
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