Darmkrebs ist eine der wenigen Krebsarten, die sich wirklich verhindern lassen – und trotzdem sterben jedes Jahr Tausende daran, auch immer häufiger Menschen unter 50 Jahren. Aber über den Darm und Verdauungsprobleme zu sprechen, gilt als unfein. Über ihn zu forschen als Spezialdisziplin.
Skander Bouassida ist Chefarzt und Leiter der Klinik für Koloproktologie im Vivantes Humboldt-Klinikum in Berlin. Der Koloproktologe gibt Antworten auf unangenehme Fragen rund um Darmkrebsspiegelung.
WELT: Herr Bouassida, seit April können auch Frauen in Deutschland bereits ab 50 Jahren eine Darmspiegelung zur Krebsfrüherkennung erhalten – so wie bisher schon die Männer. Zuvor lag die Altersgrenze für Frauen bei 55 Jahren. Ist das aus Ihrer Sicht der richtige Zeitpunkt?
Skander Bouassida: Ja, endlich. Die Annahme, dass Frauen später erkranken würden, gilt seit mindestens 2010 als überholt. Deutschland war eines der allerletzten Länder, die diesen Schritt gegangen sind. Das hat mehr mit der allgemeinen Ausrichtung des Gesundheitssystems und weniger mit Fragen der Gleichberechtigung zu tun.
WELT: Wie meinen Sie das?
Bouassida: Lassen Sie mich dies mit einer frei gestrickten Geschichte veranschaulichen: In der Alten Welt der Griechen stritten sich die Töchter des Asklepios – Gott der Medizin, Hygieia, Göttin der Vorsorge, und Panakeia, Göttin der Heilung, darüber, wer die wichtigere Aufgabe habe – insbesondere am Ende des Lebens. Ihre Mutter Epione aber liebte die Menschen und wusste, dass kein Leben frei von Leid ist. Sie schlichtete den Streit, indem sie jenen beistand, die weder Vorsorge noch Heilung mehr erreichen konnten – um Schmerz zu lindern, Angst zu besänftigen und Frieden zu schenken. So wurden die drei zu Symbolen der vollständigen Medizin: Hygieia steht für die Prävention, Panakeia für die Therapie, Epione für die Palliativmedizin – die Zuwendung, wenn Heilung nicht mehr möglich ist. Und Asklepios sah, dass seine Familie vollkommen war.
WELT: Warum war Deutschland so spät dran?
Bouassida: Deutschlands Gesundheitssystem ist stark auf das Heilen fokussiert – auf Intensivstationen, Operationen –, zeigt aber gleichzeitig Mängel in der Prävention und Linderung, etwa bei Sport, Vorsorge, Rauchentwöhnung, Physiotherapie, Palliativ- oder Schmerzmedizin. Aus Public-Health-Sicht war der Aufruf eines nationalen Krebsplans, der 2008 kam, eine Zeitenwende, und hat sich bewährt. Unter anderem wurden mit diesem Impuls die Tumorzentren und die nationale Darmkrebsvorsorge aufgebaut, die ihre Wirksamkeit beweisen konnte. Es ist toll, dass endlich die Frauen zum gleichen Zeitpunkt wie die Männer damit anfangen können. Aber: Rein medizinisch wäre es sinnvoll, noch früher anzufangen.
WELT: Weil sich die Krebserkrankungen bei jungen Erwachsenen häufen, darunter auch Darmkrebs?
Bouassida: Genau, gleichzeitig bleiben die Ursachen unklar. In den USA liegt die Empfehlung inzwischen bei 45 Jahren. Ich hielte es für richtig, wenn jeder, der sich Sorgen macht, eine Koloskopie auch ab 45 bezahlt bekommt. Denn Darmkrebs ist eine der wenigen Krebsarten, bei der man nicht nur früh entdecken, sondern die Entstehung tatsächlich verhindern kann.
WELT: Weil man frühzeitig Polypen entdecken kann, die während der Untersuchung entfernt werden. Und je nach Betäubung schmerzfrei, richtig?
Bouassida: Genau. Und aus einem Polypen kann dann kein Krebs mehr entstehen – das ist echte Vorsorge, nicht nur Früherkennung. Ein Polyp braucht im Schnitt sieben bis zehn Jahre, um sich zu einem Karzinom zu entwickeln. Deshalb reicht es, die Darmspiegelung alle zehn Jahre zu machen. Wer hingeht, hat die Garantie: Dieser Krebs wird nicht auftreten. Und falls doch, können wir es schonend, robotisch entfernen, mit sehr guter Prognose.
WELT: Und trotzdem machen es viel zu wenige.
Bouassida: Ja, das ist das Traurige. Es gibt zwei Hürden: Erstens die Scham – da steckt ein fremder, langer Schlauch in meinem Po. Und zweitens die Vorbereitung: Am Tag davor muss man Abführmittel nehmen, das ist unangenehm. Aber Schmerzen gibt es keine, die Untersuchung selbst ist harmlos. Wenn die Leute wirklich wüssten, wie unkompliziert das ist, wäre die Hemmschwelle geringer.
WELT: Warum steigt Darmkrebs gerade bei jungen Menschen so stark an?
Bouassida: Das ist das große Rätsel. Es ist ein weltweites Phänomen, es scheint vielfältige Teilursachen zu haben. Einerseits untersuchen wir besser, andererseits sind die Leute aufmerksamer. Genetische Faktoren spielen eine Rolle, industrielle Zucker-, fett- und fleischhaltige Ernährung, veränderte Darmbakterien, Zunahme von Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen und Alkoholkonsum, frühzeitige Pubertät. Alle diese Risikofaktoren waren schon bekannt, betreffen aber immer jüngere Menschen. Wir machen seit Jahren in unserer Veranstaltung „Let’s Talk about Darmkrebs“ hierüber aufmerksam, bieten auch Ernährungs-, Lifestyle- und genetische Vorsorgeberatung an das ist unglaublich wichtig. Aber wir sehen eben auch 20-, 30-Jährige mit Darmkrebs. Da denkt keiner dran, die gelten erst mal jahrelang als „Reizdarm“ oder Hämorrhoiden.
WELT: Viele merken erst spät, dass etwas nicht stimmt.
Bouassida: Genau. Typisch sind Blutungen. Aber die meisten haben gleichzeitig Hämorrhoiden – und dann heißt es: Das kommt davon. Das Problem: Hämorrhoiden und Tumoren können gleichzeitig auftreten. Menschen mit Hämorrhoiden haben selten einen Tumor. Aber Menschen mit einem Tumor haben statistisch sehr oft auch Hämorrhoiden. Aber wenn man nur auf die Hämorrhoiden zeigt, übersieht man die ernstere Ursache. Und dann sitzen die Leute vor mir und sagen: Seit zwei Jahren habe ich das schon gespürt.
WELT: Und Sie bleiben ruhig?
Bouassida: Ich versuche es. Verdrängung ist menschlich. Niemand geht gern zur Darmspiegelung. Aber manchmal ärgert mich das System: Patienten gehen von A nach B nach C, und keiner überweist sie rechtzeitig. Bei Darmkrebs gilt: je früher, desto besser. Deshalb sage ich immer: Lieber einmal zu viel untersuchen lassen als einmal zu wenig.
WELT: Wie merkt man denn, dass man Darmkrebs hat?
Bouassida: Das Tückische ist: Meist merkt man es gar nicht. Blut im Stuhl ist das häufigste Frühsymptom. Später gibt es unspezifische Dinge: Müdigkeit, Nachtschweiß, Gewichtsverlust, leichte Anämie im Blutbild. Viele laufen damit jahrelang herum. Und wenn die Diagnose steht, sagen sie: „Eigentlich habe ich schon lange was gespürt.“
WELT: Sie sprechen offen über Scham. Warum ist der Darm für uns so ein Tabu?
Bouassida: Das ist kulturhistorisch. Über Jahrtausende war Stuhlgang ein normaler Teil des Lebens. Im Hinduismus gehört er zum Alltag, im Französischen war es selbstverständlich, über Verdauung zu sprechen: König Ludwig XIV. hat Audienzen auf der Toilette gegeben. Lassen Sie mich noch eine kleine Anekdote erzählen: das französische „Comment ça va?“ – wörtlich „Wie geht es?“ – bezog sich im 17. und 18. Jahrhundert tatsächlich auf den Stuhlgang, als wichtigstes Zeichen des Wohlbefindens. Heute ist es peinlich. Dabei betrifft es jeden Menschen – niemand kann sagen: Mit mir hat das nichts zu tun.
WELT: Ein weiteres Tabu ist Stuhlinkontinenz. Was bedeutet das für Betroffene?
Bouassida: Das kann das Leben zerstören. Wenn jemand nicht mehr planen kann, ob er den Bus erreicht oder im Café sitzenbleibt – das grenzt Menschen aus. Viele ziehen sich zurück. Dabei gibt es inzwischen sehr gute Möglichkeiten: Beckenbodentraining, Medikamente, operative Verfahren bis hin zum künstlichen Schließmuskel, bei dem sich der After auf Knopfdruck zuverlässig schließen lässt. Aber wir brauchen viel mehr Aufmerksamkeit dafür. Die Universitäten lehren Koloproktologie kaum. Dabei ist Kontinenz eine Schlüsselkompetenz fürs gesellschaftliche Zusammenleben.
WELT: Sie sagen oft: Frauen sind stärker betroffen. Warum?
Bouassida: Schwangerschaft und Geburt verändern den Beckenboden massiv. Rückbildungsgymnastik ist gut, ersetzt aber kein gezieltes Training. Und dann kommt die Menopause: Ohne Östrogen leiert alles aus – Muskeln, Nerven, Gewebe. Das wirkt sich nicht nur auf die Sexualität aus, sondern auch unter anderem auf die Kontinenz. Männer haben das Problem auch, aber später und langsamer.
WELT: Und dann gibt es noch das Thema Missbrauch.
Bouassida: Ja, leider. Seit wir in der Sprechstunde systematisch fragen, berichten erschreckend viele Patientinnen und Patienten von Missbrauchserfahrungen, teilweise Jahrzehnte zurückliegend. Das erklärt Beschwerden, die sonst niemand ernst nimmt. Und es verändert den Umgang: Wir fragen um Erlaubnis, wir untersuchen in einem sicheren, respektvollen Rahmen, manchmal nur in Narkose. Der Körper vergisst nicht. Und dann sitzen da erwachsene Menschen, die jahrzehntelang schweigen mussten.
WELT: Manchmal bricht das im Alter wieder auf.
Bouassida: Genau. Ich erinnere mich an eine ältere, liebe Patientin mit einem schweren Darmvorfall. Die Operation verlief problemlos, alles war in Ordnung. Am vierten Tag nach der Operation sprang die Dame aus dem Fenster. Sie überlebte, und ich fragte sie: „Warum?“ Ihre Antwort: „Ich dachte, die Russen sind wieder da.“ Sie hatte einen Flashback, zurück in die Kriegszeit, in der sie Schreckliches erlebt hatte. Da merkt man: Verdauung und Trauma sind nicht zu trennen. Der Darm ist nicht nur ein Organ, er ist ein Stück Biografie.
WELT: Kommen wir zu etwas Alltäglicherem: Verstopfung. Was halten Sie von typischen Hausmittelchen – Pflaumensaft, Sauerkraut, Olivenöl?
Bouassida: Alles richtig. Bewegung, Ballaststoffe, viel trinken – das hilft den meisten. Aber wer wirklich chronisch verstopft ist, den frustriert es, wenn man nur mit „Pflaumensaft“ kommt. Dann braucht man Medikamente, und das ist völlig in Ordnung. Wichtig ist nur, vorher auszuschließen, dass keine ernsthafte Erkrankung dahintersteckt.
WELT: Wie könnte man das Thema insgesamt enttabuisieren?
Bouassida: Indem man offener darüber spricht – auch humorvoll. Am Ende haben fast alle mal einen Knubbel am Po. Bindegewebe wird nicht besser, im Gesicht nicht und auch nicht am After. Wer das mit einem Augenzwinkern akzeptiert, geht leichter damit um. Und wenn wir aufhören, den Darm als „peinliches Organ“ zu behandeln, gehen auch mehr Leute zur Vorsorge.
WELT: Und was wünschen Sie sich von der Medizin?
Bouassida: Mehr Lehre. Jeder Medizinstudent, der bei uns ausgebildet wird, sagt: Das wusste ich gar nicht. Weil Koloproktologie in Lehrbüchern praktisch nicht vorkommt. Dabei ist es ein Riesenthema. Ich wünsche mir, dass Beckenbodengesundheit und Kontinenz an den Universitäten so selbstverständlich gelehrt werden wie Herz oder Lunge.
WELT: Sie selbst sind jetzt 50. Werden Sie sich untersuchen lassen?
Bouassida: Natürlich. Ich leite ein Darmkrebszentrum, da muss ich mit gutem Beispiel vorangehen. Und ehrlich: Ich freue mich sogar darauf. Danach ist es vorbei, und ich weiß: Ich habe Krebs verhindert. Ich bin gespannt, ob ich zuschauen werde oder lieber schlafen gehe. Aber die Kolleginnen streiten sich schon, wer mich spiegeln darf – das sagt doch alles.
Skander Bouassida ist Chefarzt der Klinik für Koloproktologie und Leiter des Viszeralonkologischen Zentrums am Berliner Vivantes Humboldt-Klinikum. Seine Schwerpunkte umfassen Kolon- und Rektumkarzinome, Analkarzinom und Vorstufen, Darmkrebs, minimalinvasive Chirurgie, Roboter-assistierte Chirurgie, Laser-Chirurgie, die Behandlung von Stuhlinkontinenz und Darmentleerungsstörungen sowie die gesamte Proktologie.
Hilfe: Für Betroffene von sexualisierter Gewalt gibt es diverse Hilfe- und Beratungsangebote, die sie unter www.hilfe-portal-missbrauch.de finden. Bei suizidale Gedanken bietet die Telefonseelsorge rund um die Uhr eine anonyme Beratung unter den kostenlosen Nummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 oder auf www.telefonseelsorge.de.
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