Ostfriesland war lange so uneinnehmbar wie das legendäre gallische Dorf von Asterix und Obelix. Eine der letzten wildschweinfreien Bastionen Deutschlands. Doch nun wühlen sich die Tiere auch dort durch die Landschaft. Bauern befürchten Ernteeinbußen, Jäger stehen vor neuen Herausforderungen, denn die schlauen Tiere rennen ihnen nicht einfach so vor die Flinte. Im Mais finden die Wildschweine gute Deckung. Die reifen Kolben sind für sie eine Delikatesse. Ein Leben wie im Schlaraffenland.
Gernold Lengert, Kreisjägermeister von Aurich, ist noch dabei, sich mit der neuen Situation vertraut zu machen. Aber es schwingt eine gewisse Sympathie für die Tiere mit, wenn er sagt: „Man hört sie schmatzen, aber man sieht sie nicht.“ Das, so Lengert, mache es nahezu unmöglich, sie zu bejagen. Und so können sich die Tiere „wie die Karnickel“ vermehren. Gemeinsam mit Landwirten sucht er nach Lösungen. Eine Möglichkeit wäre, Schneisen in die Felder zu schneiden oder besser noch bereits bei der Aussaat anzulegen. Das würde es Jägern erleichtern, den Bestand zu regulieren.
Wildschweine haben inzwischen fast ganz Deutschland erobert. Es gibt kaum noch eine Region, wo sie nicht ihr Unwesen treiben. Immer näher rücken sie an den Menschen heran und scheuen sich auch nicht, in einem Swimmingpool zu baden. Mit schöner Regelmäßigkeit gibt es aus dem gesamten Bundesgebiet Meldungen über die Schwarzkittel, wie sie von Jägern auch genannt werden. Sie reißen Zäune ein, heben Gartentore aus den Angeln und durchpflügen Rasenflächen.
In Bad Dürkheim zum Beispiel randalierten sie auf einem Friedhof. Bei Lübeck tummelten sich Wildschweine auf der Autobahn und sorgten für kilometerlange Staus, bis sie von Jägern zur Strecke gebracht wurden. Auch vor Städten machen die Tiere nicht Halt: Saarbrücken, Bochum, Dresden, Berlin – sie sind einfach überall.
Nicht einmal eine tödliche Seuche wie die Afrikanische Schweinepest konnte diesen Trend stoppen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sie sich stark vermehrt. Die Zahl der Tiere im Sommer, noch vor Beginn der Jagdsaison, wird auf eine Million und mehr geschätzt. Was aber ist das Erfolgsgeheimnis der Wildschweine?
Eine Erklärung liefert Oliver Keuling, Wildbiologe an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Seit 26 Jahren beschäftigt er sich mit Wildschweinen und schwärmt: „Sie sind clever, vielseitig und flexibel.“ In den 60er-Jahren waren Wildschweine in Wildgehegen zu besichtigen. In der Fläche lebten damals nur vereinzelte Populationen, der Bestand war auf Wälder beschränkt, wo es gerade genug Nahrung und Verstecke zum Überleben gab. Die Tiere ernährten sich von Wurzeln, Gräsern und Früchten, von Kleintieren und Aas.
Doch ab den 1970er-Jahren, so Keuling, veränderte sich die Landwirtschaft tief greifend. Wiesen wurden umbrochen und die Anbauflächen ausgedehnt, die nun vielerorts bis an die Waldränder reichten. Diese neuen Äcker boten den Wildschweinen eine neue Nahrungsquelle und sicheren Schutz – und ermöglichten es ihnen, aus dem Wald herauszulaufen und neuen Lebensraum zu erobern. Das war die erste Stufe ihres Erfolgs.
Je mehr Futter, desto mehr Wildschweine
Die zweite Stufe folgte in den 90er-Jahren. Wieder war es die Landwirtschaft, die eine Wende brachte. Bundesweit wurde jetzt nur noch sogenannter 00-Raps angebaut, der keine Bitterstoffe mehr enthielt. Rückstände aus der Rapsölherstellung mussten jetzt nicht mehr als Abfall entsorgt, sondern konnten an das Vieh verfüttert werden.
Der neue Raps schmeckte auch den Wildschweinen. Je mehr Futter, desto mehr Wildschweine. Die dritte Stufe ihres Erfolgs verdanken die Tiere dem Klimawandel. Seit es kaum noch Winter mit langen Frostperioden gibt, bringen die Bachen ihren Nachwuchs problemlos durch die kalte Jahreszeit; im Durchschnitt acht Frischlinge pro Wurf.
Kritisch wird es allenfalls, wenn das Frühjahr zu feucht und zu kühl ist. Junge Wildschweine sind anfällig für Lungenkrankheiten und können an einer solchen Infektion verenden. Davon abgesehen gehören Wildschweine zu den Profiteuren der globalen Erwärmung. Und nicht nur das: Sie profitieren zugleich von Maßnahmen zum Klimaschutz.
Als die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 das Erneuerbare-Energien-Gesetz beschloss, forcierte sie den Anbau von Mais, mit dem Landwirte ihre Biogas-Anlagen bestücken. Eben diese Maisfelder sind wie ein Fünf-Sterne-Restaurant für Wildschweine – die vierte Stufe ihres Erfolgs.
Das stetig gewachsene Nahrungsangebot allein erklärt aber die kontinuierliche Zunahme des Wildschwein-Bestands bisher nicht. Schließlich werden die Tiere intensiv bejagt. Die sogenannte Jagdstrecke liegt heute im Schnitt bei etwa 500.000 pro Jahr; Mitte der 70er-Jahre waren es noch 130.000, im Jahr 2020 wurde die bisherige Rekordzahl von knapp 900.000 Tieren erreicht. Wildschweinfleisch wird meist im Direktverkauf vermarktet, es ist fett- und cholesterinarm und begehrt.
Eine noch unveröffentlichte Umfrage im Auftrag des Deutschen Jagdverbands ergab, dass jeder zweite Deutsche in den vergangenen zwölf Monaten Wildfleisch (dazu gehören vor allem auch Reh und Rothirsch) verzehrt hat. Dass es aber möglich ist, so viele Wildschweine zu entnehmen, ohne den Bestand zu gefährden, liegt an der Biologie der Tiere, die dadurch in der Lage sind, Verluste vergleichsweise schnell auszugleichen – sofern das Nahrungsangebot groß bleibt.
Konflikt mit Naturschutz
Die Geschlechtsreife der Wildschweine hängt nicht vom Alter ab, sondern wird vom Gewicht bestimmt: bei weiblichen Tieren sind es 25, bei den männlichen 30 Kilogramm. Als die Wildschweine noch in Wäldern lebten und das Nahrungsangebot geringer war, dauerte es ein Jahr und länger, bis die Frischlinge so weit entwickelt waren, dass sie selbst Nachwuchs bekommen konnten.
Heute sind die Tiere oft schon mit sechs Monaten geschlechtsreif, manchmal früher. Wird der Bestand bejagt, steht den verbleibenden Tieren mehr Nahrung zur Verfügung und umso schneller erreichen sie das Gewicht, ab dem sie Nachwuchs bekommen können.
Keuling sagt: „Wildschweine in Deutschland haben die höchste Reproduktionsrate weltweit.“ Das ist das biologische Geheimnis ihres Erfolgs. Hinzu kommt, dass die Frischlinge in einem Wurf verschiedene Väter haben können. Das erhöht die genetische Vielfalt und damit die Fähigkeit, sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
Die Wildschweine haben sich gut eingerichtet in einem Leben der Völlerei: im Mai und Juni laben sie sich am Raps, danach gehen sie in den Mais – und ziehen sich anschließend wieder in den Wald zurück, wo die Jungen geboren werden. Früher gab es dort etwa alle sieben Jahre ein sogenanntes Mastjahr, in dem es im Herbst reichlich Eicheln und Bucheckern von den Bäumen regnete, inzwischen ist im Durchschnitt jedes zweite Jahr ein Mastjahr – auch dies eine Folge des Klimawandels, die den Wildschweinen zugutekommt.
Die Erfolgsgeschichte der Wildschweine zeigt, wie kleine Veränderungen in der Summe weitreichende Folgen haben und den gewohnten Einklang in der Natur aus dem Gleichgewicht bringen können. So profitieren von der positiven Entwicklung ihres Bestands zugleich Wölfe, deren Nahrung zu einem Drittel aus Frischlingen besteht. An diesem Punkt kommt der Naturschutz ins Spiel. Die Rückkehr des Wolfes ist erwünscht, und Wildschweine tragen als Beutetiere dazu bei, dass er sich in Deutschland wieder etablieren kann.
An anderer Stelle aber gefährden Wildschweine auch hart erarbeitete Erfolge des Naturschutzes – wie in Ostfriesland, wo viel Geld in den Schutz von Wiesenbrütern investiert wurde. Doch die Wildschweine plündern jedes Nest, das ihnen vor die Schnauze kommt und bedrohen so den Bestand der seltenen Tiere. Das zeigt: Natur ist kein starrer Zustand, der sich wie unter einer Käseglocke bewahren lässt. Zwischen Interessen wie Naturschutz, Landwirtschaft und Klimaschutz muss immer wieder eine neue Balance austariert werden. Die Wildschweine sind ein gutes Beispiel dafür.
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