Pflichtbewusst, übermäßig angepasst, kontrollbedürftig – Kinder, die zu früh, zu viel Verantwortung übernehmen mussten, entwickeln sich häufig zu Erwachsenen, die sich stark nach den Bedürfnissen und Erwartungen Anderer richten.

Denn ihre tiefe Erfahrung ist es, für die Gemeinschaft funktionieren zu müssen, sagt Isabella Vidmar. Die Psychologische Beraterin erklärt, wie sich die sogenannte Parentifizierung auf Betroffene genau auswirkt, wann Verantwortung für Kinder schädlich wird und wie sie anfangen können, sich aus diesen Mustern wieder zu lösen.

WELT: Frau Vidmar, was genau bedeutet Parentifizierung?

Isabella Vidmar: Bei der Parentifizierung werden Kinder durch die Bezugspersonen in eine Rolle gedrängt, die den Eltern angehört. Die Kinder übernehmen viele Aufgaben, die nicht altersgemäß sind. Sie tragen etwa die Verantwortung über die Emotionen des einzelnen Elternteils, den Haushalt, Erziehung von Geschwistern. Diese Rolle kann bewusst, aber auch unbewusst auf die Kinder übertragen werden. Häufig geschieht dies, wenn die Eltern durch psychische Erkrankungen, Suchtprobleme oder Überforderung selbst nicht funktionsfähig sind.

WELT: Erleben Sie es häufiger, dass Kinder, die unter Parentifizierung leiden, eine kranke Schwester oder Bruder haben?

Vidmar: Ja, das kommt in der Praxis tatsächlich häufiger vor. In Familiensystemen mit einem chronisch kranken oder beeinträchtigten Kind verlagert sich der familiäre Fokus häufig stark auf dieses Kind – emotional, organisatorisch und auch finanziell. Bleiben zusätzliche Bezugspersonen aus, die dem gesunden Kind emotionale Zuwendung, Raum zur Entfaltung und Sicherheit bieten, entsteht leicht ein Ungleichgewicht. In solchen Konstellationen entwickelt sich oft eine Form von Parentifizierung, bei der das gesunde Kind eine überangepasste Rolle einnimmt – still, funktionierend, pflichtbewusst.

WELT: Welche Folgen hat das fürs Kind?

Vidmar: Das Kind erlebt, dass für seine eigenen Bedürfnisse kein Raum ist. Es nimmt Rücksicht, unterstützt im Haushalt oder emotional die Eltern – und verliert dabei den Zugang zu sich selbst. Das kann das Familiensystem kurzfristig stabilisieren nach dem Motto „Zum Glück macht das andere Kind keine Probleme“, aber langfristig passiert dies auf Kosten der psychischen Gesundheit des betroffenen Kindes. Schuldgefühle, Überanpassung, das Gefühl, nicht zur Last fallen zu dürfen, sowie der Verlust kindlicher Unbeschwertheit sind typische Langzeitfolgen. Allerdings lässt sich nicht pauschal sagen, dass Parentifizierung bei Familien mit einem kranken Kind häufiger auftritt als in anderen belasteten Familiensystemen – etwa bei elterlicher Sucht, psychischen Erkrankungen oder Trennungskonflikten. Entscheidend ist immer, wie das Familiensystem mit der Belastung umgeht – und ob das gesunde Kind gesehen und ernst genommen wird.

WELT: Kinder psychisch kranker Eltern oder auch Trennungskinder fungieren manchmal als eine Art Partnerersatz. Welche Folgen kann das für die Kinder haben auch mit Hinblick auf das spätere Beziehungsverhalten?

Vidmar: Ein Kind, das nie Kind sein durfte und seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht kennenlernen konnte, entwickelt sich zu einem Erwachsenen, der sich stark nach den Bedürfnissen und Erwartungen Anderer richtet. Die Gefahr der Überanpassung an den Partner oder die Partnerin besteht. Zudem kann ein übersteigertes Verantwortungsgefühl für andere mit einem Helfersyndrom einhergehen. Dabei steht die Harmonie im Vordergrund. Schwierige Gespräche werden vermieden, auch Konflikten geht man aus dem Weg, um die Harmonie aufrechtzuerhalten.

WELT: Welche Partner suchen sich solche Menschen typischerweise?

Vidmar: Sie suchen sich eine Partnerin oder einen Partner, der viel Nähe und Fürsorge braucht. Betroffene haben Mühe, die eigenen Grenzen zu wahren – sofern sie diese überhaupt erkennen – und selbst Hilfe anzunehmen. Verantwortungsabgabe fällt ebenso schwer. Außerdem wird die Angst, sich falsch zu verhalten und Fehler zu machen, zum ständigen Begleiter.

WELT: Vielen Betroffenen fällt es oft ein Leben lang schwer, Freundschaften zu schließen und über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechtzuerhalten. Liegt das daran, dass diese Kinder so eng an die Mutter oder den Vater gebunden sind und dadurch kaum Autonomie entwickeln konnten?

Vidmar: Ja, das ist eine bekannte und häufige Folge von Parentifizierung. Ein Kind, das nie richtig Kind sein durfte – das früh Verantwortung übernehmen musste und seine eigenen Wünsche nicht entwickeln oder ausdrücken konnte – wächst häufig zu einem Erwachsenen heran, der sich stark nach den Bedürfnissen Anderer richtet. Diese Menschen sind oft hilfsbereit, aufmerksam und wirken nach außen sehr sozial kompetent. Doch innerlich fehlt häufig der Kontakt zu den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. In oberflächlichen Beziehungen kann das ausreichen. Doch tiefe Freundschaften brauchen etwas anderes: Authentizität, Offenheit, Verletzlichkeit.

WELT: Wieso fallen diese Dinge parentifizierten Menschen so schwer?

Vidmar: Parentifizierte Menschen haben oft das Gefühl, in Beziehungen „etwas leisten“ zu müssen, um gemocht zu werden. Sie fürchten Zurückweisung und neigen daher zu Kontrolle, übermäßiger Anpassung oder Rückzug – das erschwert langfristige, echte Nähe. Eine weitere Hürde ist die oft enge emotionale Bindung an ein Elternteil, vor allem an die Mutter. Diese kann die notwendige Autonomieentwicklung blockieren – und damit die Fähigkeit, eigene Wege zu gehen, Freundschaften zu pflegen und sich selbst als eigenständige Person zu erleben. Der Weg zu echten, gleichwertigen Beziehungen beginnt häufig erst im jungen Erwachsenenalter – oft begleitet von einem therapeutischen Prozess.

WELT: Worin besteht der Unterschied zwischen Überverantwortung und Parentifizierung?

Vidmar: Überverantwortung und Parentifizierung sind zwei unterschiedliche Themen, die sich aber auch überschneiden können. Bei der Überverantwortung handelt es sich um die Übernahme von zu viel Verantwortung, unabhängig von der konkreten familiären Rolle. Sie kann eine Folge von Parentifizierung sein, aber auch durch andere Faktoren entstehen, wie das Aufwachsen in einem unsicheren-ambivalenten Beziehungsklima – das Kind erhält mal Zuwendung, mal Ablehnung – dem Wunsch nach Liebe, Anerkennung und Kontrolle sowie gesellschaftliche Normen wie Leistung.

WELT: Kinder, die regelmäßig Aufgaben übernehmen müssen, die eigentlich in das Aufgabengebiet Erwachsener fallen, geraten häufig in eine dauerhafte Überforderung. Dabei ist ein gewisses Maß an Verantwortung auch dienlich für die Entwicklung der Selbstständigkeit. Wo ist hier also die Grenze zu ziehen?

Vidmar: Altersgerechte Aufgaben wie Zimmer aufräumen, den Tisch decken, Blumen gießen und Tiere füttern, fördern die Selbstständigkeit und die Eigenverantwortung und erhöhen auch das Selbstbewusstsein von Kindern, da sie dadurch das Gefühl vermittelt bekommen „Ich kann etwas beitragen“. Es bietet wichtige Lernerfahrungen. Wenn Kinder aber nun regelmäßig die Verantwortung für Eltern oder Geschwister übernehmen, Eltern emotional auffangen, Behördengänge organisieren und übersetzen müssen – also Aufgaben, die sie psychisch, emotional oder physisch überfordern – stellt das ein großes Problem dar. Die Grenze ist dort erreicht, wo Kinder nicht mehr Kind sein dürfen, kein Raum für Spiel, Entdeckungen und Erkundungen, auch von eigenen Bedürfnissen bleibt. Das Spiel weicht der Hausarbeit, die eigenen Emotionen werden zugunsten der Bezugspersonen unterdrückt oder nicht ernst genommen. Das Kind funktioniert, um die Familie zu stabilisieren.

WELT: Was können Erwachsene, die rückblickend erkennen, dass sie als Kind an Parentifizierung litten, tun, um Muster aufzubrechen? Was hilft Betroffenen?

Vidmar: Wichtig ist es, die Muster zu erkennen, die in der Kindheit entstanden sind. Dabei kann eine psychologische Beratung oder eine Psychotherapie helfen. Auch die Arbeit am inneren Kind, also Bedürfnisse und Gefühle zu erkennen und kennenzulernen sowie Grenzen zu setzen, sind wichtig. Was darüber hinaus helfen kann, ist der Austausch mit anderen Betroffenen, zum Beispiel in Selbsthilfegruppen. Das Gefühl, nicht allein mit der Problematik zu sein, kann hilfreich sein. Wichtig ist auch Selbstreflexion und sich die Fragen zu stellen: Was tut mir gut? Was möchte ich tun? Man sollte die eigenen Bedürfnisse zulassen und ernst nehmen.

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