Gelbes Flatterband sperrt ein Dutzend Lehmhäuser im abgelegenen kenianischen Dorf Binzaro ab. Ein paar Klamotten liegen darin herum, auch ein selbst gebauter Babystuhl ist zu sehen. Rund um diese Häuser fand die Polizei in den vergangenen Monaten 34 Leichen. Und sie hat einen schrecklichen Verdacht: Sie könnten weitere Opfer einer Hunger-Sekte sein, die vor Jahren fast 450 Menschen in den Tod getrieben hat.
Der Anführer des Kults, der selbst ernannte Priester Paul Nthenge Mackenzie, wurde schon vor zweieinhalb Jahren verhaftet. Seit Sommer 2024 müssen er und Dutzende Mitangeklagte sich wegen Mordes, Totschlags, Folter und Kindesmisshandlung vor Gericht verantworten. Doch die Sekte existiert offenbar weiter – mit fatalen Folgen.
Das Perfide: Mackenzie brachte seine Anhänger den Ermittlungen zufolge dazu, sich zu Tode zu hungern. Sie würden dadurch im Jenseits „Jesus begegnen“, predigte der Sektenführer. Im Wald von Shakahola, gleich hinter den Traumstränden Kenias, entdeckten die Ermittler 2023 in Massengräbern 448 Tote. Die meisten waren verhungert, einige, darunter auch Kinder, waren jedoch erwürgt, erschlagen oder erstickt worden. Mackenzie, ein früherer Taxifahrer, und seine Helfer hatten dafür gesorgt, dass niemand den Wald lebend verließ.
Der Hungertod ist ein besonders grauenvoller. So kann ein gesunder Mensch durchaus einen Monat ohne Nahrung überleben. Dabei geht der Körper bereits nach wenigen Tagen in einen Hungerstoffwechsel über und wird wesentlich anfälliger für Infektionskrankheiten. Anders sieht es mit der Flüssigkeitsaufnahme aus. Schon nach drei Tagen ohne Wasser sind die Überlebenschancen sehr gering.
Der Fall in Kenia reiht sich in eine Liste von tödlichen Sekten-Kulten ein. Er erinnert zum Beispiel an die Geschichte von Jonestown in Südamerika. Im Jahr 1978 kamen dort über 900 Menschen bei einem Massensuizid ums Leben, nachdem Behörden auf die Aktivitäten des „Peoples Temple“ aufmerksam geworden waren.
Rund 1100 Mitglieder der Sekte hatten sich damals in den Dschungel Guyamas zurückgezogen und dort eine neue Siedlung angelegt. Bei einem Besuch des US-Kongressabgeordneten Leo Joseph Ryan, Jr., der auf Ersuchen besorgter Angehöriger vor Ort nach dem Rechten schauen wollte, eskalierte die Situation.
Ryan Jr. und anwesende Reporter wurden Minuten vor dem Abflug ihres Fliegers von bewaffneten Sektenmitgliedern erschossen. Anschließend forderte der Sektenführer den kollektiven Suizid der Gemeinschaft, beginnend mit den Kindern und dann den Eltern. Überlebende Augenzeugen berichteten, dass jene die versuchten zu fliehen, erschossen wurden.
Oder das Drama von Waco im US-Bundesstaat Texas. Dort erlangten im Jahr 1993 die „Branch Davidians“, eine christliche Sekte, bei einer Belagerung und dem anschließenden Angriff von US-Behörden auf ihr Anwesen weltweite Bekanntheit. Unter der Führung von David Koresh hatten sich die Sektenmitglieder auf ihrem Gelände verbarrikadiert. Es folgten wilde Schusswechsel, eine 51-tägige Belagerung durch das FBI und schließlich ein Inferno, bei dem alle 86 Sektenmitglieder starben.
In Kenia wurden der Sektenführer Paul Nthenge Mackenzie und seine Schergen vor zwei Jahren hinter Gittern gebracht. Die Behörden betrachteten die Gefahr zunächst als gebannt. Doch dann stießen Polizisten im Juli in Binzaro – 30 Kilometer von Shakahola entfernt – auf weitere Leichen und verstreute Körperteile in unterschiedlichen Stadien der Verwesung.
„Es sind so, so viele Gräber“, sagt Victor Kaudo. Er leitet das Menschenrechtszentrum der Gemeinde Malindi und war bei der Bergung der Toten dabei. Auf der holprigen Straße dorthin weicht die üppige, grüne Vegetation rotbrauner Erde und ausgedörrtem Gestrüpp. Selten verirrt sich jemand in die Siedlung, in der es einen nur einen Laden und kein fließendes Wasser gibt.
Im Gegensatz zu den tiefen Massengräbern in Shakahola „haben sie diesmal die Leichen unter Bäumen begraben und die Gräber dann mit Blättern und Dornen bedeckt, sodass es sehr schwierig war, an sie heranzukommen“, sagt er. Aber Hyänen buddelten die Toten aus. „Deshalb waren so viele Knochen verstreut“, erklärt Kaudo.
Die Opfer starben der Polizei zufolge zu verschiedenen Zeitpunkten. Kaudo ist überzeugt, dass die Todesfälle 2023 begannen, als die Sekte in Shakahola zerschlagen wurde. „Diese Leute machten längst weiter, doch die Regierung wollte davon nichts wissen“, sagt er. Kaudo glaubt, dass bisher nicht alle Opfer in Binzaro gefunden wurden. Die Grabungen seien nur eingestellt worden, weil „die Leichenhalle jetzt voll ist“.
Die Polizei nahm elf Menschen in Binzaro fest, von denen mindestens vier zu Mackenzies Shakahola-Gemeinschaft gehörten und Kinder hatten, die dort starben, wie aus Gerichtsunterlagen hervorgeht, die der Nachrichtenagentur AFP vorliegen.
Die mutmaßliche Anführerin der Binzaro-Gruppe, Sharleen Temba Anido, zeigte keinerlei Regung, als sie vergangene Woche zusammen mit drei weiteren Verdächtigen in Malindi vor Gericht erschien. Der Richter gewährte der Staatsanwaltschaft weitere 60 Tage für die Untersuchungen. Die Ermittler vermuten, dass Anido eine Basis in Malindi hatte, von der aus die Anhänger mitten in der Nacht mit Motorrädern nach Binzaro gebracht wurden. „Sie kamen in kleinen Gruppen, wer hineinging, kam nicht wieder heraus“, sagt der Kriminalpolizist Robert Kiinge.
Ein weiterer mit dem Fall befasster Beamter, der anonym bleiben möchte, bestätigt, dass Anido Teil der Shakahola-Sekte war. Es gebe weiterhin ein „großes Netzwerk“ radikalisierter Anhänger und „wir vermuten, dass sie noch immer miteinander kommunizieren“.
Menschenrechtler Kaudo kritisiert, dass Politiker keine strengeren Regeln für Religionsgemeinschaften erlassen, die eine einflussreiche Rolle in der kenianischen Politik spielen. „Sie denken einfach, die Mehrheit der Kenianer sind Christen - wenn wir die Kirchen regulieren, wer wird dann für uns stimmen?“, sagt er. Ohne ein Programm zur Deradikalisierung werde sich der Kreislauf des Todes fortsetzen, fürchtet Kaudo. „Es kann niemals aufhören. Und es wird auch nicht aufhören.“
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