Gegen viele Gesundheitsbeschwerden soll Cannabis als Medikament helfen können – für solche Behauptungen gibt es mal mehr, mal weniger wissenschaftliche Evidenz. Jetzt zeigt eine Phase-3-Studie, dass ein Cannabis-Extrakt, dessen Zulassung bereits seit Längerem beantragt ist, chronische Rückenschmerzen im Mittel etwas lindern kann. Demnach bessert die Einnahme der Tropfen solche Kreuzschmerzen ein wenig effektiver als ein Placebo und steigert die Lebensqualität.
Die damit Behandelten schliefen erholsamer und trauten sich wieder mehr Bewegung zu, wie Erstautor Matthias Karst, Leiter der Schmerzambulanz an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), erklärt. Das Mittel habe sich als verträglich erwiesen, ohne Hinweise auf Abhängigkeiten, berichtet die deutsch-österreichische Gruppe in der Fachzeitschrift „Nature Medicine“. Fachkreise werten die Studie als Schritt in die richtige Richtung, äußern aber auch deutliche Kritik.
Schmerzen im unteren Rücken betreffen nach Angaben der Autoren weltweit mehr als eine halbe Milliarde Menschen. Sie seien in allen Altersgruppen eine Hauptursache für Arbeitsausfälle, Behinderungen und verringerte Lebensqualität, nicht zuletzt durch Schlafstörungen. Als chronisch gelten Rückenschmerzen dann, wenn sie länger als drei Monate anhalten.
Viele Leitlinien raten vom Gebrauch von Opioiden ab
Gerade bei solchen Langzeitbeschwerden gebe es kaum gute medikamentöse Behandlungsoptionen, erklärt das Team, dem auch Mediziner der Universitätskliniken Jena, Heidelberg und Wien sowie der Technischen Universität München (TUM) angehören.
So seien die sogenannten nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR), zu denen etwa Acetylsalicylsäure (ASS, Aspirin) und Ibuprofen gehören, wegen ihrer Nebenwirkungen auf das Herz-Kreislauf-System und den Verdauungstrakt für eine längere Therapie ungeeignet. Stattdessen würden häufig Opioide genutzt, die aber ebenfalls mit Nebenwirkungen und gravierenden Sicherheitsbedenken verbunden seien. Bei Opioid-Therapien entwickelten etwa 20 Prozent der Patientinnen und Patienten eine Abhängigkeit oder Toleranz, schreiben die Autoren.
Somit bestehe ein dringender Bedarf an verträglichen Arzneimitteln gegen Rückenschmerzen ohne Abhängigkeitspotenzial, so die Gruppe. Allerdings gebe es gerade für Cannabis-Präparate keine guten Wirknachweise – auch weil Produkte aus den Pflanzen in ihrer Zusammensetzung recht unterschiedlich seien.
Schmerzintensität sank nur wenig mehr als beim Placebo
In der Studie prüfte das Team nun den standardisierten Cannabis-Extrakt VER-01 des Herstellers Vertanical aus Gräfelfing bei München, der die Untersuchung finanziert hat. Die Patienten erhielten per Losentscheid entweder den Extrakt oder aber ein Scheinpräparat (Placebo) ohne Wirksubstanz, wobei weder sie noch die Mediziner wussten, wer welcher Gruppe angehörte.
Von den insgesamt 820 Teilnehmenden erhielt knapp die Hälfte den Cannabis-Extrakt, die übrigen bekamen das Placebo. Zu Beginn der Therapie lag die Schmerzintensität auf einer zehnstufigen Skala im Mittel bei etwa 6. Nach zwölf Wochen war sie mit dem Cannabis-Produkt um rund 1,9 Punkte gesunken, in der Placebogruppe aber auch um immerhin etwa 1,4 Punkte. Ein Placebo kann Symptome bessern, weil die positive Erwartung eines Patienten körpereigene Heilungsprozesse wie etwa die Ausschüttung von Endorphinen aktivieren kann.
Der Unterschied zwischen beiden Gruppen – in der Publikation ist von 0,6 Punkten die Rede – klingt überschaubar. Die Differenz sei aber durchaus klinisch bedeutsam, meint Erstautor Karst. Bei Menschen mit besonders starken Schmerzen lag sie zwischen den Gruppen demnach bei 1,0 Punkten, bei solchen mit neuropathischer Schmerzkomponente – typisch dafür sind etwa brennende oder elektrisierende Schmerzen – bei 1,5 Punkten.
In der folgenden, sechsmonatigen Phase ohne Verblindung – die Patienten wussten also, dass sie tatsächlich den Extrakt nutzten – sank die Schmerzintensität mit dem Cannabis-Präparat demnach weiter auf 2,9, was einem Rückgang um insgesamt gut 3 Punkte entsprach.
Behandlungsoption ohne Suchtpotenzial
Die reine Schmerzlinderung ist laut Karst einer von mehreren Effekten, die sich auf die Lebensqualität auswirken. Die Studie zeige eine höhere Schlafqualität und zudem eine bessere körperliche Funktionalität, die per Fragebogen erfasst wurde. Sie habe sich im Alltag etwa darin gezeigt, dass Menschen häufiger das Haus verließen, leichter Treppen stiegen und ihren Haushalt unabhängiger gestalten konnten. „In der Gesamtbetrachtung sehen wir eine bedeutsame Verbesserung“, so Karst.
Nebenwirkungen waren etwas häufiger als unter Placebo – 83 im Vergleich zu 67 Prozent – und betrafen anfänglich vor allem Schwindel (43 Prozent), Übelkeit (16 Prozent), Müdigkeit (15 Prozent) und Mundtrockenheit (12 Prozent). „VER-01 wurde im Allgemeinen gut vertragen, vor allem bei langfristigem Gebrauch“, heißt es. Gerade für diesen Langzeiteinsatz sei der Extrakt eine vielversprechende Behandlungsoption ohne Suchtpotenzial, bilanzieren die Autoren.
Expertinnen bewerten Studie unterschiedlich
Hergestellt wird VER-01 aus den Blüten der Cannabis-sativa-Variante DKJ127, neben anderen Inhaltsstoffen enthält der Extrakt auch den psychoaktiven Hauptwirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC). Die THC-Tagesmenge lag in der Studie im Mittel bei knapp 20 Milligramm. Rauschzustände, die etwa nach dem Inhalieren von Cannabis auftreten, wurden laut Karst nicht beobachtet.
Ulrike Bingel vom Universitätsklinikum Essen sieht die Studie kritisch. Den Unterschied zwischen Cannabis- und Kontrollgruppe in der Schmerzlinderung hält sie für nicht klinisch relevant. Allerdings könne es sein, dass bestimmte Patientengruppen – etwa solche mit einer größeren neuropathischen Schmerzkomponente – stärker profitierten, sagt die Leiterin der universitären Schmerzmedizin, die selbst nicht an der Studie beteiligt war.
Kritisch verweist die Expertin auch auf unerwünschte Wirkungen des Extrakts. „Mit 17,3 Prozent hat fast jeder Fünfte die Therapie mit der Prüfsubstanz aufgrund von Nebenwirkungen abgebrochen, im Vergleich zu nur 3,5 Prozent in der Placebogruppe.“ Die Studie sei zwar „definitiv ein Schritt in die richtige Richtung, einen Paradigmenwechsel in der Behandlung von chronischen Rückenschmerzen leitet sie aus meiner Sicht aber nicht ein“, so das Fazit Bingels.
Zulassung ist bereits beantragt
Etwas positiver äußert sich Andrea Hohmann von der Indiana University Bloomington in den USA. „Angesichts des großen Teils der Weltbevölkerung, der unter chronischen Rückenschmerzen leidet, ohne dass eine angemessene Linderung erreicht wird, sind diese Beobachtungen klinisch relevant“, sagt die Leiterin des Pain and Addiction Lab der Universität. „Die Verbesserung der Schlafqualität ist besonders bemerkenswert, da dies wahrscheinlich die Wirksamkeit der Schmerzlinderung sowie die Wahrnehmung der Lebensqualität durch die Teilnehmer verbessert.“
Die Herstellerfirma Vertanical hat die europäische Zulassung von VER-01 zur Behandlung chronischer Kreuzschmerzen bereits vor längerem beantragt. Das Verfahren läuft nach Angaben des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) seit September 2024, ist aber bislang nicht abgeschlossen.
Da die Dauer von Zulassungsverfahren maximal 210 Tage betragen darf, kann man davon ausgehen, dass die Behörde noch Nachfragen hatte. Man erwarte die Zulassung des Präparats in der ersten Jahreshälfte 2026, sagt eine Sprecherin des Unternehmens.
Weitere Zulassungsstudien von VER-01 zur Behandlung von Arthrose und von schmerzhafter diabetischer peripherer Neuropathie (PDPN) sollten im nächsten Jahr starten, so Vertanical. Aufgrund seiner Erfahrungen aus den vergangenen Jahren vermutet Karst, dass der Cannabis-Extrakt gegen Nervenschmerzen wie PDPN eine „gute bis sehr gute Wirkung“ entfalten könnte. Und bei Arthrose? „Da bin ich mit einer Prognose zurückhaltender.“
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke