Informationsprogramme für junge Eltern haben im Kampf gegen Übergewicht bei Kindern keinen Effekt. Zu diesem Ergebnis kommt eine Übersichtsarbeit unter Leitung von Anna Lene Seidler von der Universitätsmedizin Rostock und Kylie Hunter von der Universität Sydney.
Ein möglicher Grund sei, dass das erste Lebensjahr eines Kindes für Eltern überwältigend und stressig sein könne, sodass sie sich nur begrenzt auf Verhaltensänderungen einlassen könnten. Prävention, die im späteren Kindesalter auf das Verhalten der Eltern abzielte, habe allerdings ähnlich geringe Effekte gezeigt.
Ein weiterer möglicher Grund sei, dass „Familien, die am stärksten von Fettleibigkeit bei Kindern betroffen sind – oft diejenigen aus niedrigeren sozioökonomischen Gruppen – auch diejenigen, die am wenigsten von frühzeitigen Programmen für Eltern erreicht werden“, erklärt Seidler.
Politische Veränderungen, die darauf abzielen, ein gesünderes Umfeld für alle Kinder zu schaffen, erreichten diese Familien eher. Potenzial sieht Seidler auch für spätere Interventionen: „Sobald Kinder in ein breiteres soziales Umfeld wie Kindertagesstätten und Schulen kommen, könnten Programme, die direkt in diesem Umfeld ein gesünderes Umfeld für Kinder schaffen, wirksamer sein.“
Martin Wabitsch vom Universitätsklinikum Ulm, der selbst nicht an der Metaanalyse beteiligt war, sieht auch einen biologischen Grund dafür, dass sich bei Zweijährigen kein Effekt ablesen ließ: Wachstum und Gewicht würden in den ersten zwei Lebensjahren vor allem durch Einflüsse während der Schwangerschaft geprägt. Dazu zählen genetische Faktoren, mütterliche Faktoren wie Ernährung, Rauchverhalten und Erkrankungen sowie Plazenta-Faktoren wie Durchblutungs- oder Funktionsstörungen.
„Diese sind im ersten Lebensjahr nicht mehr beeinflussbar, da sie aus der Vergangenheit herrühren“, erklärt Wabitsch. „Interventionen auch über die Eltern sind in dieser Lebensphase kaum wirksam.“ Erst nach dem zweiten Lebensjahr seien die körpereigenen Regulationssysteme des Kindes relevant für Wachstum und Gewichtsentwicklung und könnten durch den Lebensstil der Eltern beeinflusst werden. „Deshalb ist davon auszugehen, dass Interventionen über die Eltern nach dem zweiten Lebensjahr wirksamer sind.“
Stillen beeinflusst Gewichtsentwicklung positiv
Zu bedenken sei auch, dass der Body-Mass-Index (BMI) bei Zweijährigen ein sehr unzuverlässiges Maß für späteres Übergewicht ist, erst ab einem Alter von etwa vier Jahren werde er aussagekräftig, erläutert Wabitsch. So sei es ganz normal, wenn ausschließlich gestillte Kinder anfangs etwas moppelig wirkten, das verwachse sich. Stillen ohne Zufütterung beeinflusse das Wachstum und die Gewichtsentwicklung nachgewiesenermaßen über Jahre hinweg günstig.
Weltweit leben rund 37 Millionen Kinder unter fünf Jahren mit Übergewicht oder Fettleibigkeit, wie es in der Meta-Studie heißt. Starkes Übergewicht hat dem aktuellen Unicef-Ernährungsbericht zufolge erstmals Untergewicht als die häufigste Form der Fehlernährung bei Kindern und Jugendlichen abgelöst. 9,4 Prozent der fünf- bis 19-Jährigen sind demnach fettleibig, 9,2 Prozent untergewichtig. In Deutschland sind Unicef zufolge acht Prozent fettleibig.
Viele Länder versuchen, mit gezielten Programmen gegenzusteuern. Um den Erfolg zu prüfen, bezog das Team um Seidler und Hunter 17 Studien in acht Ländern mit insgesamt über 9000 Kleinkindern in eine Analyse ein. Als Kontrollwert wurde der BMI im Alter von etwa zwei Jahren genutzt, auch gewichtsrelevantes Verhalten wie Ernährung und Aktivität wurde beurteilt. Berücksichtigt wurden für die im Fachjournal „Lancet“ vorgestellte Analyse Verhaltensprogramme für Eltern mit bis zu zwölf Monate alten Kindern.
Dazu zählte zum Beispiel ein Programm in Großbritannien, bei dem Eltern acht wöchentliche Sitzungen in Kinderzentren zu Ernährung- und Bewegungsthemen angeboten wurden. In Australien erhielten Erstmütter über einen Zeitraum von zwei Jahren acht Hausbesuche mit Beratung. Ähnlich lief ein Programm in den USA, bei dem Hausärzte bei sieben Besuchen mit den Eltern Ziele in Bezug auf Ernährung und körperliche Aktivität festlegten.
Im Mittel hatten die Programme keinen merklichen Einfluss auf den BMI von Zweijährigen. Fünf der 17 untersuchten BMI-Studien starteten bereits in der Schwangerschaft – auch hier zeigte sich kein Effekt. „Eltern spielen eine wichtige Rolle, aber unsere Studie zeigt, dass man nicht erwarten kann, dass sie allein die Fettleibigkeit bei Kindern reduzieren können“, sagt Hunter.
Eine Studie aus Deutschland war nicht Teil der Analyse. „Frühe Präventionsprogramme sind in Deutschland nicht flächendeckend vorhanden“, erklärt Wabitsch. Gesundheitsuntersuchungen für Kinder und Jugendliche seien als Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung aber Teil guter und früher Präventionsmaßnahmen. Ein Ziel sei, Übergewicht früh festzustellen und Eltern dann Beratungsangebote zu machen.
Kindliches Übergewicht mit lebenslangen Folgen
Positive Entwicklungen gebe es in Deutschland bereits: Die Schuleingangsuntersuchungen zeigten seit einiger Zeit eine Stagnation beziehungsweise sogar einen Rückgang der Adipositas-Häufigkeit. Gründe dafür seien vermutlich vielfältige Aufklärungsarbeit in der Bevölkerung und bei jungen Familien, verbunden mit den Gesundheitsuntersuchungen für Kinder durch die Kinder- und Jugendärzte.
„Deutliche Adipositas bei einem Fünfjährigen ist eine chronische Erkrankung, die sich nicht heilen lässt“, erklärt Wabitsch. Dies bedeute, „es wird im Lebensverlauf kein Normalgewicht entstehen“. Noch immer gibt es in der Gesellschaft und selbst bei Ärzten die Erwartung, dass ein Kind mit Adipositas durch Therapie wieder schlank werden kann, wie der Mediziner sagt. Tatsächlich aber sei bei solchen Angeboten schon eine kleine Gewichtsreduktion ein großer Fortschritt.
Wirksam seien Schulungsprogramme zur Lebensstiländerung unter Einbeziehung der Eltern, die mehr als sechs Monate dauern und mehr als 26 Sitzungen beinhalten. „Die Wirkung besteht im Durchschnitt in einer Reduktion des relativen Gewichtsniveaus um fünf Prozent. Das ist ein kleine, aber bedeutsame Wirkung.“
Neues Potenzial böten Abnehmspritzen, die möglichst früh zur Unterstützung solcher Schulungsprogramme eingesetzt werden sollten, so Wabitsch, Koordinator der Leitlinie „Therapie und Prävention der Adipositas im Kindes- und Jugendalter“. Ein vielversprechender Ansatzpunkt wäre demnach – theoretisch – auch, politisch bei ungesunden Fertigprodukten und Kinderlebensmitteln anzusetzen. „Darin liegt großes Potenzial. Aufgrund der Lobbyarbeit ist dies aber nicht umsetzbar in Deutschland.“
Auch Hunter betont, dass Adipositas zu einem großen Teil durch Umwelt- und sozioökonomische Faktoren verursacht werde. Diese könne der Einzelne gar nicht ändern. „Neben der Unterstützung der Eltern brauchen wir koordinierte Maßnahmen, die gesunde Lebensmittel erschwinglicher machen, den Zugang zu Grünflächen verbessern und die Vermarktung ungesunder Lebensmittel regulieren, um Fettleibigkeit bei Kindern zu bekämpfen.“
Unicef nennt im Ernährungsbericht Mexiko als Positivbeispiel. Dort habe die Regierung kürzlich den Verkauf und Vertrieb von stark verarbeiteten Lebensmitteln und Produkten mit hohem Salz-, Zucker- und Fettgehalt in öffentlichen Schulen verboten. 34 Millionen Kinder profitierten davon.
Für die Situation in Deutschland sei positiv zu vermerken, dass die Bundesregierung angekündigt hat, eine Milliarde Euro für die Modernisierung von Sportstätten zur Verfügung zu stellen, erklärt der Gesundheitsexperte Peter von Philipsborn von der Universität Bayreuth. „Wobei hier wichtig ist, dass dieses Geld auch im Breitensport ankommt.“
Daneben sei dringend eine Verbesserung der Kita- und Schulverpflegung nötig, ebenso wie mehr Bewegung im Schulalltag. „Fachorganisationen wie die Weltgesundheitsorganisation empfehlen auch eine Steuerbefreiung auf Obst und Gemüse und eine höhere Besteuerung von Softdrinks.“
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke